30 Jahre Konkret

30 Jahre Konkret enthält Faksimile-Reprints ausgewählter Artikel, umgeben von den Original-Anzeigen und -Leserbriefen etc., fünf bis zehn pro Jahrgang, aus drei verschiedenen Epochen dieser neben der Marxistischen Studenten Zeitung letzten linken Publikation von Rang und/oder Bedeutung.

Seit 13 Jahren macht Hermann L. Gremliza Konkret. Schon das ist eine Geschichte für sich. Ich meine: wer erinnert sich noch an 1974? Kanzler Schmidt übernahm Deutschland, das dann Fußballweltmeister und zum Modell erhoben wurde. Wer hätte sich damals vorstellen können, daß der nur von gelegentlich milder Aufregung (Terroristen!) gestörte, vor sich hin dampfende sozialdemokratische Mief in seiner Agonie je abgelöst werden würde, durch den Kapitalismus mit unmenschlichem Gesicht, den wir jetzt haben? Govi, beständiger Konkret-Inserent, hatte damals Woodstock II im Angebot. Punk war noch nicht mal zu ahnen. Gab es noch Schriftsteller? Ja. Peter Weiß lebte noch. Ebenso Uwe Johnson, der der aufstrebenden linken Zeitschrift 1962 ein Interview über die Probleme beim Schreiben der Wahrheit gibt. Das war die Zeit, als man noch ganze Seiten für Gedichte des alten Beatnik Lawrence Ferlinghetti frei machte und eine Nummer später ein späterer sozialdemokratischer Spitzenpolitiker namens Hans-Ulrich Klose ein von Ferlinghetti inspiriertes Gedicht über die Mauer unverlangt einsendet. Auch der spätere Eremit Arno Schmidt wollte damals noch mitmachen. In der Rubrik „Dissertationen“ lobt die damalige Studentenzeitschrift die Arbeit eines heute meinungsführenden FAZ-Philosophen, Odo Marquard, über den Klee.

Circa Mitte der 60er fällt der Kulturteil in die Hände des Hamburger Miefs. Schon ’64 steht über amerikanische Happening- und Pop-Art, die ahnungslos zusammengerührt wird, ein grober Unsinn im Heft. Dann kommen die Rühmkorfs, in ihrer Nachfolge später die Piwitts und Horst Janssens. Man ahnt, daß vieles vom Elend der linken Kultur in Deutschland damit zu tun hat, daß eine ganz besonders selbstgefällig-ahnungslose, isolierte Szene um die Stadtteile Övelgönne und Mundsburg (Hamburgs immer schon und immer noch erschreckende Kunsthochschule) die entscheidenden Medien besetzte und besetzt hielt. Erst heute (in den letzten 5 Jahren) beginnt Konkret sich langsam davon zu erholen, die Folgen sind aber noch allemal zu spüren, wenn man unermüdlich über die verwerflichen Tendenzen im US-Kino unterrichtet wird, statt einmal zu erfahren, was man Neues lernen, an Veränderungen beobachten kann, an einem Chuck-Norris- oder Oliver-Stone-Film, was diese von früheren Filmen bzw. untereinander unterscheidet (Cimino ist kein Reaktionär!). Daß alle diese Filme mit amerikanischem Geld für amerikanische Interessen gedreht wurden, sollte sich doch nach dreißig Jahren gerade in dieser Leserschaft ’rumgesprochen haben.

So tobt im politischen Teil die Brillanz einer Ulrike Meinhof (deren Artikel für diesen Reader von ihren Töchtern nicht freigegeben wurden, wegen zu erwartender Schwierigkeiten mit dem Ex-Ehemann und Ex-Konkret-Herausgeber Klaus Rainer Röhl, dem Mann also, der Ende der 60er Konkret zu Tempo machen wollte: „Sex mit dem Satan“, „Liebe mit Gewalt“, „Folter in Griechenland“, „Krank vor Sex – Jugendliche packen aus“, „Ist der Mensch eßbar?“. Klar, daß einer wie Rühmkorf die Idee mit den nackten Mädchen hatte. Trotzdem war die damalige Konkret nicht so schlecht, wie sie die herablassenden Kommentare von heute im Reader machen wollen: Nackte Mädchen waren Pop, die Zeiten andere, und ein bißchen mehr Gespür für Vorgänge an der sichtbaren Oberfläche der Epoche täten auch der heutigen, alles Modische eindimensional-prüde von sich weisenden Konkret ganz gut) oder eines Hermann L. Gremliza, dessen Leitartikel schon alleine die Konkret der letzten 13 Jahre zur Pflichtlektüre machten, während im Kulturteil, in vergreister linker Spießigkeit, die sich weigert ihren Gegenstand überhaupt zu untersuchen, bevor sie ihre berechenbaren Verdikte fällt, jeder Raunzer des späten Bob Dylan über Prince gestellt wird. (Auch wenn die letzten Redakteure sich bemühten, dem entgegenzuwirken; der Schatten einer gewissen Altmänner-Muff-Clique verdunkelt diese Bemühungen.)

Mit anderen Worten: diese Zeitschrift ist über zehn Jahre mindestens der einzige Ort in dieser Republik gewesen, an dem bestimmte Wahrheiten gesagt wurden, immer aber um den Preis, daß man grauenhafte links-sentimentale Sätze wie „Sanft war er, sanft wie alle echten Radikalen“ (Biermann über Dutschke) mitlesen mußte. Insofern war der frühe Kulturteil in all seiner Behäbigkeit besser: Wo ist später das Äquivalent zu einem Uwe-Johnson-Interview gewesen? Wo waren 79 vier Seiten über Penck? Zu den wirklich radikalen, zeitgenössischen kulturellen Bewegungen hatte die Zeitschrift keinen Kontakt, weder zu Fluxus, noch zu Situationismus, Punk-Rock etc. Die aus schlechtem Gewissen, Einsicht, Abscheu oder welchen Motiven auch immer eingestreuten, isolierten Texte zu diesen Themen geben keinen Sinn, ohne den Zusammenhang gewisser kontinuierlicher, anteilnehmender Berichterstattung über den kulturellen Ort, dessen politisches Äquivalent Konkret seit Jahren so beeindruckend verteidigt. Für diesen Reader spricht, neben all dem, was sich jeder denken kann (lehrreiche Dokumente, seltene/gute, selten gute, bezeichnend schlechte etc. Texte in naturbelassener Form), vor allem, daß er auch solche Zusammenhänge offenlegt und nicht für die Befriedigung niederer nostalgischer Triebe, sondern für das Studium der kleinen, westdeutschen Linken von heute aus gemacht worden ist.