Autor: admin

  • Bücher für jene Übermenschen, die …

    Improvisation – einst Waffe der Befreiung in den Händen von Jazz und Jackson Pollock, und immer wieder dann, wenn die Opposition Befreiung versus starre Formen mal wieder ihre ganze Banalität erreichte, aber auch Vorwand für unklare Haltung, Solipsismus, religiöse Irrwege und irgendwann sogar für das der Idee der Improvisation widersinnige Festschreiben von gewissen „intensiven“ Sounds (das überblasene Saxofon, die wimmernde Gitarre), schließlich das Ausliefern an die ewigen Dynamiken der Gattungen und Instrumente, Entmündigung des Musikers. Derek Bailey, der freieste Gitarrist der letzten, mindestens, zwanzig Jahre und so was wie ein unbestechlicher Guru der ganz freien Musik, die zur Bedingung von Freiheit, zumindest in seiner Musik, macht, daß jede Tonfolge, die sich auf irgend etwas beziehen könnte, ausgemerzt gehört, also ein echt donquijotistisches Unterfangen angesichts der Endlichkeit möglicher Tonkombination (auch wenn das Reiskorn-Schachbrett-Beispiel für ihn spricht: seine Skala kennt mehr als sieben, auch mehr als zwölf Töne), hat ein Buch geschrieben (Improvisation), das nicht nur im Kulturvergleich (indische Musik, Jazz, sogenannte Free Music, Rock) das Wesen der Improvisation, ihren fortgesetzten Kampf gegen die Notation, ihre Bedeutung für die Entstehung der klassischen europäischen Musik untersucht, sondern darüber hinaus grundsätzliche, gerade auch im Zeitalter von Sampling und Beatbox diskutable Behauptungen aufstellt, wie z. B. die, daß das Musikinstrument in dieser Kultur noch gar nicht annähernd verstanden worden ist, weil die ganze Vermittlung von und Erziehung zur Musik über ein abstraktes System organisiert ist und nicht über die Erfahrungen mit dem Instrument. Baileys Forderung nach Vertiefung in das Instrument, seine Erklärungen der Barockimprovisation etc. sind darüber hinaus gut geschrieben und zum Teil von Alexander von Schlippenbach übersetzt worden, dessen Credo man sicher auch ganz gerne mal lesen würde. Tagebücher sind auch so eine Form, die nicht erst Heiner Müller und die seine Interviews verschlingenden Spex-Leser zu Recht angezweifelt haben. Etwas anderes sind die von Paul Valéry, für den wie für Goethe, Thomas Mann et al. gilt, daß bei Autoren, die ein Leben an einem Werk gesessen haben, Tagebücher einen anderen Stellenwert einnehmen. Nach irgendeinem Pech mit irgendeiner Frau nahm sich Paul Valéry vor, jeden Morgen von 5 bis 8 Uhr zu denken. Was an zusammenkondensierten, wenigen Sätzen an so einem frühen Morgen entstand, wurde dann geprüft und nach einem ausgedachten System verschiedenen Heften zugeordnet, die z. B. „Ego“, „Ego Scriptor“, „Homo“, „Theta“, „Eros“ oder „Bios“ hießen. „Diese geile Scheiße muß ich haben“, hörte ich meine Stimme, die wie die eines mir eben vorgestellten Fremden klang, sagen, als ich den ersten Band der auf sechs Bände angelegten Ausgabe von Valérys Cahiers für DM 78,– in der Buchhandlung liegen sah. Man wird ganz zweifellos süchtig von dem Kram, und nur ein Vollbrankrott konnte mich die Woche drauf davor retten, auch noch DM 98,– für den Briefwechsel zwischen Valéry und André Gide auf den Tisch zu legen, wo es seitenweise um Papiersorten geht und Urlaub und zwei Freunde, die sich an ihrer gegenseitig bewunderten Verschiedenheit und der dem jeweils anderen total unverständlichen Unverständlichkeit freuen konnten: „Ego. Ich erkenne klar …“ Valéry versicherte sich immer der Klarheit dessen, was er in der Morgensonne notierte: „Ich erkenne klar, daß meine einzige Absicht im Intellektuellen und im Vitalen die war, mit der ganzen Vagheit der von so vielen Leuten vorgebrachten Gedanken aufzuräumen. (…) Der Ideenbestand, von dem ein Großteil der ‚kultivierten Leute‘ zehrt, ist das Erbe einer gewissen Anzahl von Individuen, die allesamt von philosophischer und literarischer Eitelkeit getrieben und inspiriert wurden, von dem Ehrgeiz, über andere Geister zu herrschen und ihren Beifall zu finden.“ Der Band hat über 600 Seiten voller Sätze wie diesem, und wer da widerstehen kann, der ist zu Unrecht noch immer mit der Verklemmtheit vernagelt, die einen zwischen 21 und 28 glauben läßt, eine bis an seine Grenzen gequälte Ergründung des bürgerlichen Ich sei pubertär oder gar bürgerlich (lach!). Denn von einem bestimmten IQ an ist es genau das: Denken. Hier kommt allerdings echte K-Cred, Street-Cred, Polit-Cred. Von der Franz-Jung-Ausgabe des nautilus-Verlages ist nach den Bänden 1/1, 1/2, 2, 6 (besonders empfehlenswert!) und 8 sowie dem Sonderband Der Weg nach unten (remember: fünf Jahre Spex im November 85, Dexys-Nummer, das Zitat über dem Inhaltsverzeichnis) nunmehr Band 10 erschienen. Der sogenannte Industrieroman Gequältes Volk, ein seinerzeit (1927) von allen linken (sozialdemokratischen, kommunistischen und anarchistischen) Verlagen als hervorragend, aber „für unsere Leser zu harte Kost“ befunden – die elende Erfindung des Lesers gab es also damals schon. „Unsere Leser“, der Kampfruf der Literaturfaschisten. Shame on me: wie oft mußte ich es freien Mitarbeitern zurufen! – abgelehnter hardcore-sozialistisch-realistischer Roman, der die Atemlosigkeit der früheren Franz-Jung-Eheterrorgeschichten in politische Kämpfe trägt. Atemlosigkeit – diese andere Unternehmung zur Abschaffung der wohlgeformten und -gebauten dramatischen Handlung (neben Abbau und Stillstand der äußeren Welt um 5 Uhr morgens): Ereignisüberflutung. Daß in diesem Buch bereits der Wald stirbt („rußbeschwert“), mag Leuten, die solche Argumente brauchen („prophetisch“), ein zusätzlicher Anreiz sein. Andere mögen sich an dem expressionistischen Sprachknirschen stören, diese mögen ruhig husten und sich von ihrer Mutter den Rücken freiklopfen lassen: Wie aus dem unnachgiebigsten Aufbegehren gegen Stil ein Stil wird, gehört auch hier zu den größten Vergnügen an der Jung-Lektüre. Auch wenn zum Einstieg weiter Der Weg nach unten empfohlen sei. Dazu die andere Seite jetzt: die Memoiren der Cläre Jung. In Paradiesvögel erzählt eine dieser Frauen ihr Leben (das nur sehr zeitweilig an der Seite von Franz Jung verlief, die aber an der Wiederentdeckung und dem Zugänglichmachen verschollener Manuskripte des Dichters in ihren letzten Lebensjahren maßgeblichen Anteil hatte), die sich noch mit über achtzig Jahren Zigarre rauchend und Schnaps trinkend fotografieren ließ. Von Else Lasker-Schüler zur SED-Kulturpolitikerin und wieder zurück, nicht zu verwechseln mit den geschwätzigen, eitlen Erdbeertorteletten-für-Kokoschka-Memoiren der Claire Golls und Alma Mahler-Werfels dieser Welt; das Büttner-Diktum, die Männer schrieben auf, was gut und wichtig war, die Frauen, was sonst noch so passierte, macht den Reiz dieser Biographie denn auch nur teilweise aus. Leider wurden diese Erinnerungen schon 1955 abgeschlossen, so daß die letzten knapp dreißig Jahre DDR fehlen, hierzu lesen sich auch sehr gut die Briefe zwischen Franz und Cläre, die im zweiten Band der Nettelbeck-Verlag-Ausgabe des Weg nach unten (über zweitausendeins) erschienen sind. „‚Es fehlen uns die Waffen‘, das war die allgemeine Ansicht. ‚Es müssen ein paar Leute gehen und Waffen holen.‘“ Daß diese Waffen und ihre Epoche letzten Endes nicht Leben erfüllten und rund und süß und trunken machten, sondern Leben zerstörten, liest sich etwas ergreifender und nachdrücklicher aus Franz Jungs Schilderung derselben Schicksale. Andererseits war Cläre die Schlauere, weniger Starrköpfige, ob man sie dafür bewundern oder weniger bewundern soll, vermag ich nicht zu entscheiden. Wahrlich, wir leben in helleren Zeiten!

    Derek Bailey – Improvisation. Kunst ohne Werk, DM 28,–, Wolke Verlag

    Paul Valéry – Cahiers/Hefte, Band 1, DM 78,–, S. Fischer

    Franz Jung – Gequältes Volk, Werke 10, DM 25,–, nautilus

    Cläre Jung – Paradiesvögel, DM 36,–, nautilus

  • Leather Nun

    Und die wenigen, die gekauft hatten, gingen hin und gründeten eine Band. (Jonas I, 23) Und wir reden nicht von Idioten, die nur kopieren. (Jonas I, 24) Nein! Wir meinen die, die stehlen, von denen, von denen sich stehlen lernen läßt – das wird ein guter Song! (Diedrich XI, 87).

    “… you can suck, you can suck, you can suck on my lollipop“ (Lollipop zu Unrecht vergessene B-Seite von ’86)

    Sie kamen zurück in unsere Stadt. Ob um sich zu holen, was ihnen rechtmäßig gehörte, wie in der Köln-Hymne „Lost And Found“ angekündigt, weiß ich nicht. Aber sie spielten diesmal im „Luxor“ statt im „Rose Club“, und sie stiegen nicht im Hotel „Heinz“, dem traditionell-schrabbeligen Musikerhotel, sondern im „Intercity-Hotel ibis“ ab, von dem ich immer schon mal wissen wollte, wie es von innen aussieht (wie die Kulisse eines zeitgemäßen Death Of A Salesman nämlich, nun weiß ich es), und Jonas Almquist will auch nicht zu genau darauf eingehen, was damals passiert ist, in diesem „Hotel called ‚Heinz‘“.

    „Das war eine wilde Nacht, mein Gott, das Hotel fiel ja auseinander. Das hatte ja Löcher in den Wänden, da konntest du die Straße sehen. Jedenfalls dürfte der Manager nicht mehr sehr gut auf uns zu sprechen sein.“

    Ich habe fürwahr in meinem langen Leben schon viele Leather-Nun-Konzerte gesehen und durchaus gerne genossen, es war immer ein gutes Gefühl, zu wissen, daß es sie gab, diese wandelnde Additionsmaschine europäischer Erfahrungen mit amerikanischer Leidenschaft (wie man sie aus amerikanischer Musik sich vorstellt).

    Immer summa summarum, immer den Strich ziehen, und siehe: wir haben hier diesen kleinen, aber bedeutenden Schritt nach vorne getan. Nicht gerade sehr groß dieser Schritt, aber, Mann, alles, was ihn uns machen ließ, haben wir selber gesehen und gehört. Etwas derart Reiches und Vollmundiges aber, die weite, hohe, kühle, aber sonnige Hochebene der goldenen mittleren Jahre souverän Erklimmendes habe ich von ihnen noch nicht gesehen. In zwei Stunden alle, alle Leather-Nun-Songs im specially improved Hitsound. Kann man immer noch an „Heroes“ und „Search & Destroy“ und „Waiting For The Man“ weiterarbeiten? Eben, schau an, tatsächlich, man kann.

    Und man kann sogar eine Prise Plastic-Sly-&-The-Family-Stone hinzugeben.

    Als erster war an diesem Sonntagmorgen Aron aufgestanden. Früher Bengt Aronsen, aber jetzt nur noch Aron. Dieser muß so um 85/86 die zweite Luft in die Leather Nun gepumpt haben. Seit Lust Games ist er Produzent, denkt sich die Plastik-Pop-Effekte aus, eröffnet die Auftritte mit Abba-Hymnen vom Band, entwirft die Sleeves mit ihrem trockenen Schweden-Humor (Lust Games) oder rührend-ironischem Gigantomanen-Auftritt (Steel Construction) manchmal etwas zu tongue-in-cheek, und spielt die Leadgitarre, der Riffpeter.

    „Wenn man so lange Musik macht wie wir als Leather Nun und ich auch noch davor alleine, dann hat man eine musikalische Sprache entwickelt, die einem völlig natürlich vorkommt. Man muß sich dann keine Akkorde mehr ausdenken, man braucht keine gewagten Ideen für tolle Songs …“

    Man braucht sich überhaupt nichts mehr auszudenken und überhaupt keine Ideen, der beneidenswerteste Zustand der künstlerischen Weisheit: so lange an sich gearbeitet zu haben, daß man von innen gut ist, einfach gut.

    Ohne Anstrengung: jede Seele hat ihre drei Akkorde. Die bleiben bestehen bis die Städte verschwunden sind. Die Städte, die die drei Akkorde gegeben haben: Gitarre einstöpseln, twäng. Twäng klingt gut, immer gut. Jetzt muß der Sänger nur noch sagen: „Hey, Baby“. Etwa so wie Jonas, der dazu genau ein Viertel eines heiseren Stimmbandes kurz anschlägt, und alles ist für alle Zeiten immer gut.

    Aber so natürlich ist diese Sprache natürlich nicht, Generationen von Aron-Inkarnationen im Laufe der Jahrzehnte haben daran gearbeitet, durch alle Stürme des Lebens hindurch.

    „Ende der 60er gab es die älteren Brüder mit den Velvet-Underground-Platten. Und es gibt nun mal nichts Schöneres als die erste Velvet-Underground-Platte. Du kannst dich ihrer Energie nicht entziehen. Leg sie auf, und du bist automatisch glücklich und stark. Das ist unser Erbe. Das Velvet-Underground-Erbe und das Detroit-Erbe. Vielleicht kennst du die Geschichte: Nicht viele Leute haben Velvet-Underground-Platten gekauft, aber alle, die sie gekauft haben, haben eine Band gegründet. Ich meine, die, die Velvet Underground kopieren, haben natürlich nichts verstanden, das würden wir nie tun. Das ist ein Heiligtum, das wir niemals zu berühren wagen würden. Wir verwalten das Erbe, das heißt wir arbeiten in diesem Sinne weiter. Und auch da kann man viel falsch machen, wie das Beispiel der Psychedelic Furs lehrt.“

    Hier spricht absolute Sicherheit, ein trotz oder gerade wegen der immer wieder betonten, sich ständig in kleinen und mittleren Kämpfen entladenden Individual-Anarchismen der einzelnen Leather-Nun-Members gewonnener eherner Geschmacks- und Gefühls-Konsens. Wer will einer alten Eiche auch erzählen, sie möge sich aus Gründen der Abwechslung zu einer Pappel umzüchten lassen, das einzige, was sie tun kann, ist wachsen. Und variatio sowieso eben nicht delectat. (Das heißt: doch. Aber das ist ein völlig anderer Bereich von Leben und Kunst und dem Van-Dyke-Parks-Department unterstellt.)

    Der einzige Bereich, wo sich in der Leather-Nun-Welt noch einschnittartig etwas ändern könnte, ist der Bereich der Produktion (und der der Verpackung, dazu später). Nach diversen Versuchen, die einst 1979 mit hausgemachtem Horror-Schock-Krach-Lärm-Rock für Throbbing Gristles Industrial-Label begannen („Slow Death“, über einen Mann, der mit einem zu 90 % verbrannten Körper 55 Stunden qualvoll vor sich hin stirbt, heute als schleppend-gereifter Rock-Song wieder sehr eindrucksvoll im Programm), über ungeschliffene Live-Veröffentlichungen (Aron: „Das Live-Album war eine vertane Chance. Wir klangen schon damals eigentlich besser. Wahrscheinlich versuchen wir noch einmal ein Live-Album.“), über den Hausproduzenten ihres Labels Wire-Records, Bill Buchmann, sind Leather Nun heute bei Aron selber angelangt.

    „Ein Produzent sollte die Aufgabe haben, uns zu überraschen, er soll unsere Songs hören und etwas Überraschendes daraus machen. Schließlich haben wir eingesehen, daß wir uns in all den Jahren immer noch am meisten selbst überrascht haben. Deswegen bin ich jetzt der Produzent …“

    Mit einer Vorliebe für unerwartet grelle Pop/Effekt-Produktion. Die Eiche, in Day-Glo-Farben eingespritzt:

    „Vieles von dem, was ich mache, auch die Sleeves, sind natürlich Witze. Was mir wichtig ist, sind die filmmusikartigen Intros und Übergänge. Das habe ich immer gewollt für die Band, daß ein Auftritt wie ein Film ist … Ich denke so an eine Mischung aus Bladerunner und der Realität des 21sten Jahrhunderts … kann aber auch die Gegenwart sein.“

    Dazu sprechen die Riffs und die Texte die Sprache amerikanischer Großstadt-Rock-Einsamkeit der, na spätestens, 70er Jahre. Jonas setzt sich zu uns, während ein taiwanesischer Spielwaren-Vertreter hinter uns sein Leben aushaucht („Wenn sie nicht Chinesisch sprechen, muß ich eben hier sterben“, sagt er auf englisch). Draußen regnet es nicht.

    Jonas, wenn ich „Live To Ride“ höre, stelle ich mir vor, wie du oder ich auf einem Motorrad …

    „… oder einem Pferd …“

    … oder einem Pferd eine amerikanische Ebene zerteilen.

    „Meinetwegen. Aber das ist deine Phantasie. Ich begrüße es, wenn man sich irgend etwas vorstellt, aber das halten wir gerne offen, was das genau ist. Das ist wie beim Bücher-Schreiben. Es gibt keine zwei gleichen Leser.“

    Aber der Autor bemüht sich doch durch Präzision, keine zwei verschiedenen Lesarten offen zu lassen?

    „Manchmal“, so Jonas Almqvist, „ich denke da an dieses Buch, von diesem Iren, Ulysses, wie heißt er noch?“

    James Joyce.

    „Genau der. Ich habe das Buch zweimal gelesen. Mann, war das präzise! Du konntest dir bei diesem Buch absolut nichts vorstellen. Es stand schon alles da.“

    Und war das nicht toll?

    „Naja. Ziemlich extrem und deswegen auch sehr gut, total faszinierend, um ehrlich zu sein. Aber Songs funktionieren eben ganz anders.“

    Wie kommt es denn, daß Europäer wie ihr beste amerikanische Rockmusik machen, aber die Amerikaner nur AOR, daß das Erbe der Stooges in Göteborg oder Melbourne oder Bamberg besser aufgehoben zu sein scheint als in Detroit?

    „Was ist schon Rock? Rock ist Eddie Cochran und Buddy Holly. Und dann sind 30 Jahre ins Land gegangen, und heute ist Rock alles, bis zu Henry Rollins und Swans. Das sind auch Amerikaner, aber kein AOR. Außerdem: alle Städte sind gleich, alle Straßen sind gleich. Im Westen sieht doch alles gleich aus, nur die Menschen sind etwas verschieden. Bei unserer Plattenfirma fragen sie mich immer, ob ich nicht Lust hätte, nach Amerika zu gehen, aber es ist doch eh dasselbe wie hier. Und um deine Frage zu beantworten: Die Iren in den USA verstehen mehr von irischer Kultur als die Iren in Irland, das wäre das umgekehrte Phänomen. Und die beste irische Band lebt in London und heißt The Pogues.“

    Die einzige andere Band, die einen Song über Köln gemacht hat.

    „Was für ihren Geschmack spricht.“

    Meiner Ansicht nach kommt The Leather Nun in letzter Zeit zunehmend das Verdienst zu, den Widerspruch zwischen Pop als distanziert-überlegtem, politischem Handeln und Rock als religiös-intuitivem Handeln, innerhalb der Rituale eines geregelten Gottesdienstes, überwunden zu haben. Song. Bild. Platte. Cover. Drama. Kino. Ich meine Lust Games, da hätten sich ABC vielleicht auch hin entwickeln können (und Beauty Stab war doch eigentlich ein Schritt in genau die Richtung).

    Aron: „Einige Sachen, die wir machen, sind halt mehr Pop, andere mehr Rock. Ist doch nicht so wichtig.“

    Jonas: „Welcher Widerspruch? Pop heißt populär. Rock’n’Roll ist ein zunächst mal sexueller Begriff. Sex wiederum ist sehr populär. So schließt sich der Kreis.“

    Wenn das Live-Album Raw Power war, dann seid ihr jetzt bei Lust For Life.

    „Dann lieber bei Kill City, die Iggy Pop zwischen Stooges und Bowie mit James Williamson aufgenommen hat, weil man daran sehen kann, daß Idiot und Lust For Life nicht so große Einschnitte waren. Andererseits gefällt mir der Vergleich nicht, weil Iggy immer andere zu Hilfe genommen hat, um vorwärts zu kommen. Er hat mir einmal gesagt, Kill City sei 90 % James Williamson, 10% Iggy Pop, so wird es mit Bowie auch gewesen sein. Nein, es gibt einen besseren Vergleich (sieht auf die Uhr): Heute vor zehn Jahren und einem Monat starb Marc Bolan, der eine wilde, schmutzige Musik machte und sie optimal teeniemäßig und popmäßig präsentierte und das auch genossen hat. Das ist unsere Richtung. Und da sind wir jetzt angekommen.“

    Nach und nach ist ein schwerer Schwede nach dem anderen erwacht. Die Männer, die als „der Schlagzeuger, mit dem habe ich schon im Sandkasten gespielt, schon unsere Väter haben im Sandkasten gespielt“, der „Keyboarder, der ist neu, er war heut Nacht abgängig, hehe“, „unser neuer Bassist, seit drei Wochen dabei, Bassisten waren schon immer unser Problem“ vorgestellt werden, überragen jeden Mitteleuropäer um Haupteslänge, ihre riesigen Brustkörbe könnten als Käfig für einen Kaninchenwurf dienen. Der tote Chinese wird fortgetragen. Unsere Freunde bereiten einen Angriff auf Rom vor. Rom will überfallen werden, Rom ist müde. Die vier Ur-Leather-Nuns kennen sich mindestens seit die Band sich im Februar 1979 gründete. Die Plünderungen waren zäh, aber erfolgreich. Öden sie sich nicht langsam an?

    „Nicht diese starken Individuen, nicht in dieser Band. Bei uns herrscht immer die Spannung, die bei den Sex Pistols herrschte, nur daß die zu dumm waren, das auszuhalten. Wir halten das aber schon seit acht Jahren aus, es hat uns stark gemacht … es war schon manchmal kritisch, damals, als man uns in Schweden boykottierte, wegen des Fistfucker-Videos. Die Klubs, wo wir sonst spielten, sagten: Wir wollen keine Nazis und Junkies. Nur die Biker ließen uns weiter auf ihren Treffs spielen, die wußten, daß wir keine Nazis oder Junkies waren. Oder es war ihnen egal. Und die Punks kamen dann auch zu diesen Gigs, was eine sehr schöne Publikums-Mischung ergab.“

    Riß zu dieser Zeit auch der Kontakt zu Genesis P. Orridge, der auf D.O.A. – The Third And Final Report immer noch einem gewissen Jonas A special dankt?

    „Keineswegs. Wir haben 1980 mit Monte Cazazza und Throbbing Gristle in London gespielt, wir haben später noch mit Monte zusammengearbeitet, wir haben auch mit Psychic TV gespielt … Heute, ich will nicht sagen, es sei ein reiner Witz, Genesis hat schon einige sehr ernste Anliegen, aber es ist viel mehr Humor dabei, als so mancher Fan denken wird. Es gibt sicherlich Leute in diesem Temple Ov Psychick Youth, die diese Sachen zu ernst nehmen und dann auch sich selbst gefährlich werden können. Eigentlich ist das ja bei allen Bands so: wer nicht zum Inner circle gehört, nimmt alles in der Regel viel zu wichtig. Es gibt da einen italienischen Professor, Francesco Alberoni, der sich vom wissenschaftlichen Standpunkt mit den selben Sachen beschäftigt wie Genesis. Daß man im Zustand der Verliebtheit besondere Kräfte freisetzen kann, die man als magisch beschreiben kann, wenn man will. Wenn mich meine Menschenkenntnis nicht sehr trügt oder sich Genesis total verändert haben sollte, was ich nicht glaube, ist das sein zentrales Anliegen. Alles drumherum ist Quatsch.“

    Interessant. Übrigens, was trägst du für ein eigenartiges Lederarmband? Sind das Runen?

    „Ja, das ist altnordisch. Eine Inschrift, die man bei Ausgrabungen gefunden hat.“

    Was bedeutet sie?

    „Das werde ich dir nicht sagen, denn das ist magisch: Liebesmagie.“

    Und das Zeichen an der Halskette?

    „Das ist supermagisch. Das sind mehrere Runen übereinander, die hintereinandergeschrieben einen Sinn ergäben, übereinander aber nur, wenn man weiß, wie man sie auseinandernehmen muß, ein Satz, den niemand entziffern darf, um die Magie nicht gegen mich zu richten.“

    So etwas würde ich nie tun. Warum bist du immer so einsam in deinen Songs? Immer einsamer Hustler, einsam im Hotelzimmer 506?

    „Also, wir sind doch alle Hustler, und ‚506‘ ist auch leicht zu erklären. Damals, 1979 in London, habe ich tatsächlich allein in diesem Hotelzimmer mit der Nummer 506 gesessen. Ich hatte Iggy Pop zweimal live gesehen, alles Geld für Konzerte und Alkohol ausgegeben, und nun saß ich da: Es regnete, und ich hatte nur ein Pfund …“

    Aber das Lied klingt dramatischer, als würdest du gerade Wasser in die Wanne laufen lassen und noch ein letztes Mal in den Sartre-Erzählungen blättern … (Der Tod ist ein Ministerpräsident aus Deutschland.)

    „Das ist ja auch wahr: Ich bin einsam. Die Band lebt in Göteborg, ich in Stockholm. Im Zug findet man keine Freunde. Andererseits liebe ich meinen Job und kann deswegen nicht aus Stockholm weg … Ich bin Redakteur bei einer Motorradzeitschrift. Wir schreiben über alles, was mit Motorrädern zusammenhängt. Neue Gesetze, neue Straßenbeläge, neue Kleidung, neue Filme, neue Platten, und wir versuchen die schwedische Politik im Sinne der Motorradfahrer zu beeinflussen. Wir haben Freunde bei der Linken wie bei der Rechten und versuchen, eine Lobby aufzubauen. Die Wahlausgänge in Schweden sind immer sehr knapp und die 200.000 Motorradfahrer könnten gut zum Zünglein an der Waage werden, wenn ich mich mal so ausdrücken darf. Die Politiker sind da in allen Parteien gleich: Sie verstehen nichts vom Leben. Sie machen Gesetze über Alkohol, ohne zu trinken. Und die Frau, die für die Straßen zuständig ist, hat nicht einmal einen Führerschein. Das ist viel Arbeit, wie soll man da noch Zeit für Freundschaften finden.“

    Die Biker-Bewegung ist in Schweden, so Jonas, etwas völlig anderes als in Deutschland oder in den USA, wo die traditionellen Rockerstämme inzwischen an Generationskonflikten leiden. Alte Biker und junge Biker verstehen einander nicht. In Schweden müssen bei Biker-Treffen keine Wachen aufgestellt werden, die auf die teuren Geräte aufpassen, denn konkurrierende Banden, die sich gegenseitig die Maschinen zerstören, sind nicht bekannt. Alle sind eine große Familie, schon in Dänemark kann davon keine Rede mehr sein. Noch heute spielen Leather Nun regelmäßig bei Biker-Treffen, noch heute mischen sich dann alte Biker und junge Punk-Rocker zu idyllischen Versammlungen.

    „Der Underground hält solange zusammen, wie sich die Medien nicht darum kümmern. Sowie die Medien irgendeine Bewegung herausheben, vielleicht sogar, weil sie gewalttätig sei, schaffen sie erst die Tatsachen, die sie behaupten, aufgefunden zu haben. So entstand zum Beispiel die Skinhead-Bewegung. Irgendwo gibt es drei Idioten, und ein Journalist schreibt, wie furchtbar gewalttätig und widerlich die sind. Das lesen andere und finden das geil, wollen auch gerne als gewalttätig und widerlich in den Zeitungen vorkommen, und prompt hast du ein Problem. Wir Journalisten haben eine enorme Verantwortung.“

    Wie findest du Grateful Dead?

    Jonas: „Was ist das? Ein Nachtclub?“

    Eine Biker-Band, damals in San Francisco, spielte Benefiz für die S.F.-Hells Angels und war ihre Hausband.

    Aron: „Ich kenne sie. Ich mag sie als Phänomen. Sie sind sehr alt, sehr lange dabei, komplett unabhängig und zäh. Wie wir. Jerry Garcia ist ein sehr guter Gitarrist.“

    Jonas: „Was machen sie für Musik?“

    Aron: „Amerikanische Musik, sehr amerikanische Musik …“

    Jonas: „Was soll das heißen, Boogie-Woogie?“

    Aron: “Nein, nein …“

    Nein, nein, nein.

    Warum sind eure Songs zu einem großen Teil so alt?

    Aron: „Irgendwie bleiben sie an uns hängen. ‚Son Of A Good Family‘ ist von 1975 …“

    Ein klasse Song!

    Aron: „… nicht? Zeitlose Größe, ohne jede Anstrengung oder Idee, natürlich komplett von den Stooges geklaut, die es ihrerseits wieder von jemand anders geklaut haben werden. Das ist übrigens mein Song. Wir haben aber eigentlich nur deswegen die Live-Platte gemacht, um die alten Songs loszuwerden. Dann blieben sie an uns hängen, weil es nun mal erstklassiges Live-Material ist.“

    Neue Songs sind dagegen entweder sehr langsam …

    Jonas: „Wir sind halt alle vor kurzem 30 geworden. Da verändert sich manches …“

    Aron: „Ich mag’s gerne atmosphärisch. Du weißt doch: Filme im Kopf.“

    … oder 70er-Jahre-Funk. Wie heute abend „F.F.A. (Fist Fucker Associated)“ oder der Opa-Rap „Cool Shoes“ oder „Dance, Dance, Dance“, wozu der neue Keyboarder immer so geschmackvoll gekupferte alte Synthi-Licks einstreut, ein Verhältnis zu seinem Instrument dokumentierend, das mindestens so fetischistisch-verliebt und deswegen „natürlich“ ist wie Arons zu seiner Gitarre. Nur daß man das bei Keyboardern so selten sieht, die sonst immer vom Spannungsfeld Idee oder Diskette aufgezehrt werden.

    Warum hast du dir die Haare abgeschnitten, Jonas?

    „Ich hatte es satt. Außerdem will ich nicht mit Grebos oder kalifornischen Thrash-Metallern verwechselt werden.“

    Magst du keine Grebos?

    „Doch, sie sind sehr lustig, aber absolut nicht Leather Nun.“

    Ich habe eine Single, die du mit Motorrad-Freunden aufgenommen hast, die SMC Ål Star; Leather Nun war früher auch allein deine Band, die Songs schrieb alle dieser Jonas A. Jetzt seid ihr eine diszipliniert zusammengewachsene Band. Willst du nicht überschüssige Ideen auch wieder alleine verwirklichen?

    „Könnte ich mir vorstellen. Wäre aber absolut nicht Leather Nun.“

    Verstehe ich „Pink House“ richtig als eine Deutung des US-Imperialismus als Schwulen-Verschwörung?

    „Verschwörung auf jeden Fall, du kannst ihr jedes Attribut geben. Pink, weil Rosa die Kreuzung aus weißem Haus und rotem Platz ist. Aber der alte Ronnie hat schon was für Jungs übrig.“

    Ist deine Stimme eine korrekte Repräsentation deiner Seele?

    „Puh! Gute Frage, weiß ich nicht. Ich bin meine Stimme, ich habe keinerlei Distanz zu ihr, aber sie ist mir auch nicht peinlich. Ich weiß nicht, wie ich bin, also weiß ich auch nicht, ob meine Stimme korrekt ist.“

    Bei Aron und seiner Gitarre ist das, glaube ich, keine Frage.

    „Wie klingt denn meine Stimme?“

    Befriedigt. Wie ein hart arbeitender, zufriedener Mann, der weiß, was er will, und es auch kriegt.

    „Nein, das bin ich nicht. Ich bin nicht zufrieden, absolut nicht. Ich bin eher unzufrieden. Nein, ich bin ganz und gar nicht zufrieden.“

    Discographie

    1979: Slow Death – EP, 7″, Industrial Records (später als 12″ reissued)

    1983: Prime Mover; F.F.A.

    1985: Desolation Ave; 12″ / Coriun Monaca-Deadly; Live-LP / 506; Fly, Angels, Fly; I’m Alive; 12″

    1986: Gimme, Gimme, Gimme; Lollipop; 12″ / Pink House; 12″ / Lust Games; Mini-LP

    1987: I Can Smell Your Thoughts; Falling Apart; 506 revisited; 12″ / Cool Shoes; I Wish; Special Agent; 12 “ / Steel Construction; erste Studio-LP

  • Copyright

    Diedrich Diederichsen über das Recycling von Tönen und die Eigentumsfrage in der Popmusik

    In den 40er Jahren drehte der große Howard Hawks den Film The Outlaw. Da ihm sein Produzent, der bekannte Milliardär Howard Hughes, die Arbeit durch Querulantentum zur Hölle machte, schmiß Hawks den Film und Hughes mußte ihn allein zu Ende drehen. Kurz darauf machte Hawks den Klassiker Red River. Darin fielen einige total banale, lakonische Sätze, die Hughes als sein geistiges Eigentum reklamierte. Der bekannte Regisseur Frank Capra schaltete daraufhin eine Anzeige in den Hollywood-Business-Magazinen, in der er aus Solidarität mit Hawks sämtliche Rechte an dem Satz „They went thataway“ für sich beanspruchte.

    In der jüngsten Copyright-Auseinandersetzung der Hip-Hop-Szene geht es um noch Einfacheres. Jimmy Castor verklagte die Beastie Boys auf Unterlassung des Rufes „Hey, Leroy“, den man irgendwo, von den meisten Menschen unbemerkt, auf ihrer LP Licensed To Ill hören kann. Die Zahl der von James Brown, oft wegen kurzer Schreie mit Klagen überzogenen Rapper kann man kaum noch zählen. Und das englische Erfolgsproduzenten-Trio Stock/Aitken/Waterman und der nicht minder erfolgreiche Avantgarde-Tanzmusik-Zusammenschluß M/A/R/R/S haben sich gegenseitig bei nahezu gleichzeitig erschienenen Platten des geistigen Diebstahls beschuldigt. Ganz zu schweigen von dem, was die Justified Ancients Of Mumu alles zu erdulden hatten.

    Irgendwann hat einmal der Rapper Eric B. auf einer eigenen Platte mit tiefer Stimme „Pump Up The Volume“ gefordert. Seitdem konnte er seine Worte nicht nur auf einem LP-Track von Age Of Chance wiederfinden, sie wurden zum Markenzeichen des gleichnamigen und wochenlang überall in Europa auf Nummer Eins stehenden Hits der erwähnten M/A/R/R/S. Natürlich geht es bei diesen Streits, anders als damals in Hollywood, nicht um das geistige Eigentum von naheliegenden Sätzen, sondern um die Verwendung identisch kopierter Teile, oft nur in Zehntelsekundenlänge, von bereits veröffentlichten Platten: die sogenannte Sampling-Technology ermöglicht Speicherung und Abrufung kleinster musikalischer Einheiten und ist maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung vor allem schwarzer Tanzmusik-Innovationen der letzten fünf Jahre.

    Auf der anderen Seite ist Sampling auch im normalen Musikgeschäft gang und gäbe. Warum den talentlosen Schlagzeuger einer Hamburger Jung-Soul-Band auch noch damit quälen, einen vernünftigen Drum-Sound hinzukriegen, wo er doch nicht einmal den Takt halten kann? Der Produzent ist ein konventionelles Arschgesicht, aber er kennt die Stellen auf den alten Led-Zeppelin-Platten, wo John Bonham besonders vollmundige Breaks geschlagen hat. Ohne Problem läßt sich der Bonham-Sound samplen und in der richtigen Geschwindigkeit, sowie mit einigen verschleppten Tambourin-Schlägen von guten, alten Motown-Platten auf die Percussion-Spur des nachempfundenen Soul-Songs legen. Auf diese Weise werden mehr und mehr Platten gemacht. Als man denkt, vor allem. 

    Vereinfachend läßt sich feststellen, daß es zwei Möglichkeiten gibt, diese Technologie zu nutzen; einerseits diejenige, die bekannte, gesicherte und gewonnene Soundvorstellungen festschreibt, indem sie vermeintlich klassische Sounds immer wieder und schwer feststellbar recyclet, gerade gegenüber jungen, von der Plattenindustrie-Orthodoxie als dilettantisch empfundenen, neuen Spielweisen den Vorzug gibt und damit nicht nur zu musikalischem Stillstand führt, sondern auch nach und nach diesen klassischen Sounds ihren Reiz nimmt, den sie noch hatten, wenn man sie offensiv zitierte oder sich, wie im Falle Motown, analoge Einschränkungen ihrer Erkenntnisse über musikalische Ökonomie bediente; und andererseits diejenige, die wie im Hip-Hop durch erkennbare Übernahmen bestimmter Phrasen (sprachlicher wie musikalischer), charakteristischer und bekannter Sounds, die Kunst der Collage in der Musik auf eine neue Ebene gehoben hat (hierzu ist anzumerken, daß die Rechtslage in der Bildenden Kunst im Falle der Collage auch alles andere als geklärt ist und nicht nur Andy Warhol regelmäßig mit Prozessen überzogen worden ist, wenn er bestimmte Bildvorlagen bearbeitete).

    „Die Entwicklung des Reggae wie wir ihn kennen, wäre unter den Bestimmungen amerikanischer Copyright-Gesetze nie möglich gewesen“, bemerkte Glenn O’Brien anfangs der 80er. In Jamaika gibt es seit den frühen 70ern eine Kultur des sogenannten Toastens, die sich im Laufe der Zeit aus der DJ-Tätigkeit entwickelte und fortgesetzt Copyright-Verletzungen beging. DJs, die sich profilieren wollten, nahmen Tageshits, ließen bis auf den Kehrreim und einige bezeichnende Stellen, den Gesangsteil rausmischen, oft in Zusammenarbeit mit den Studios, in denen die jeweiligen Hits entstanden waren, und rappten (in Jamaika: toasteten) ihre weitschweifigen Gedanken zu Tagespolitik, Jahs Geboten und Verboten, Spaß mit Ganja und Ärger mit der Polizei. Nach und nach wurde Toasten zur eigenständigen Gattung, Leute wie Big Youth, U-Roy und I-Roy waren in Jamaika zeitweilig, vor allem im Ghetto, wichtiger und größer als die international gefeierten Reggae-Sänger Marley und Tosh (Friede ihrer Asche!) und sie hatten erst, als auch sie dann zaghaft den internationalen Markt erreichten, eigene Backings. Die daraus vor allem unter britischen Jamaikanern entstandene sogenannte Dub-Poetry (Linton Kwesi Johnson, Michael Smith, Benjamin Zephaniah) verdankte ihrerseits vieles singenden oder sprechsingenden Dichtern des schwarzen Amerika wie den Last Poets oder Gil Scott-Heron, womit eine von vielen Verbindungen vom Toasten zu Vorformen des heutigen Rap hergestellt wäre.

    Daß die schwarze Popkultur der Gegenwart, deren Vorfahren ihre Ideen stets für wenig Geld einer weißen Industrie überlassen mußten, die damit viel Geld zu machen wußte, heute eine Kultur des geistigen Diebstahls geworden ist, hat künstlerische wie ethnologische Gründe: die Idee, daß Gesang immer von Liebe spricht oder lügt (was dasselbe ist), harte Fakten aber nach gesprochener Sprache verlangen; daß der Groove ein allgemeines Eigentum ist, der keinem Autor gehört und erst recht nicht denjenigen, die die Produktionsmittel haben, um den Groove geil klingen zu lassen, sind einige davon. Vor allem aber, daß die Grundhaltung weißer Rockmusik, derzufolge im Laufe eines Songs ein Individuum in kontinuierlicher, kontrollierter Ausdruckskunst sein Inneres nach außen kehre, nicht nur ein bürgerlicher Unsinn ist (das auffallendste Merkmal des Hip-Hop ist seine Diskontinuität), sondern eben nicht mehr dem Stand der Produktivkräfte entspricht. Der vermeintlich unverwechselbare Ausdruck hat eine neue Stufe der Reproduzierbarkeit erreicht. Nicht reproduzierbar sind nur die Ergebnisse der Collage vor dem Hintergrund des Kollektivbesitzes Groove. 

    Auf der anderen Seite sind die durch das Copyright erst zu solchen gewordenen Waren (die ja in ihrer Funktion das Allgemeingut Volkslied abgelöst haben) heute mehr denn je zum Spekulationsobjekt geworden. Mit ihnen lassen sich genauso gut Geschäfte machen wie mit Schweinebäuchen oder tiefgefrorenem Orangensaft. Die Versteigerung der Rechte an allen Beatles-Kompositionen, bei der Michael Jackson den bislang reichsten Musiker aller Zeiten, nämlich Paul McCartney selbst, überbot, nahm man noch mit einem Achselzucken hin. Schließlich ist Paul selber reich genug (Yoko auch) und außerdem ist man es aus der Geschichte gewohnt, daß in der Popmusik, wenn irgendwo mal Geld verteilt wird, stets eher die Phil Collins und Stings dieser Welt abkassieren als einer, der etwas geleistet hat: diese Leistungen waren eh eher synthetische Leistungen, deren Verwässerungen erst, bei den erwähnten Collins und Stings z. B., geben sich als authentisch und original aus.

    Erst als Michael Jackson den Beastie Boys untersagte, die alte Beatles-B-Seite “I’m Down“ zu covern, begriff man, welche Macht der kleine Außerirdische sich gesichert hatte. Mit Rechteeignern wie ihm, die nicht nur aus finanziellen Erwägungen sich Mitspracherecht bei der Verwaltung eines Erbes sichern, gerät dann eine der wichtigsten Institutionen der Popmusik überhaupt in Gefahr: die Coverversion. Stets eines der markantesten Mittel, um den Standort einer Band/Generation etc. klar zu machen, heißes, internes Mittel der Kritik und Überprüfung. (Paradoxerweise darf die 100%ige Coverversion nicht einmal ein Michael Jackson verbieten, seine Rechte setzen erst bei – allerdings nicht nur von den Beastie Boys nicht vermeidbaren – nachweisbaren Bearbeitungen ein.)

    Die Lächerlichkeit der Empörung „Das ist ja geklaut“ ist uns schon in diversen Lektionen klar geworden. Daß niemals ein Autor zählt (schon gar nicht in einer Welt, wo wahrer Lohn für wahre Arbeit so selten ist wie in der Popmusik), sondern ein kleines Objekt, wie auch immer es zustande gekommen sein mag (nett und lobenswert, wer Credits gibt und deren finanzielle Konsequenzen trägt (tragen kann)). In der heutigen Situation wird geistiger Diebstahl aus mehr als einem Grunde zur lebensnotwendigen Devise der Popmusik. Zum einen, weil große reaktionäre Einzelne und Institutionen ihre Finger auf Allgemeingut gewordene (per Gewohnheitsrecht) Teile der Tradition legen (können), gerade in einer Zeit, wo die Popmusik Begriffe von sich selbst und ihrer Tradition zu erarbeiten begonnen hat. Zum anderen, weil eine von wenigen zeitgemäßen vielversprechenden Musikformen – den Arbeitsweisen der neueren Popmusik selbstverständlich – die Errungenschaften der Sampling-Technik ausnutzt und damit auch eine Ästhetik entwickelt hat, die unserem wirklichen Leben in der wirklichen Gegenwart entspricht, die Musik rund um Hip-Hop.

    Wenn ein LL-Cool-J-Stück zu einem Viertel aus einem Chuck-Berry-Intro, einem Viertel aus einem Bill-Haley-Text, einem Viertel aus Isaac Hayes’ „Shaft“ und nur zu einem Viertel aus LL Cool Js Rap besteht, ist dennoch die künstlerische Leistung, wenn wir denn einen Autor in unserer Vorstellung brauchen, zu hundert Prozent seine. So verlaufen Veränderungen der Pop-Musik schon immer. Nur verlangten frühere, stilistische Entwicklungen die weiche, unmerkliche Verschmelzung. Die Diskontinuität des Hip-Hop hat aber gerade die Härte und Unverbundenheit seiner Bestandteile zum Geschmackskriterium erhoben, als Nebeneffekt entsteht dabei Wiedererkennbarkeit für die Urheber.

    Männer von Welt wie der hochverschuldete Chuck Berry lassen das geschehen. Dem unterbewerteten Jimmy Castor ist es auch nachzusehen, daß er für die, in seiner Originalstimme – den immerhin weißen Beastie Boys zu einem Millionstel Erfolg verhelfenden – gesprochenen Worte „Hey Leroy“ ein paar Bucks sehen will (auch wenn gerade er jetzt den Musterprozeß über Sampling angestrengt hat, der zumindest für die Overground-Distribution von zeitgemäßem Hip-Hop das Aus bringen könnte), von James Brown sind teilweise, nur geringfügig bearbeitete, komplette Stücke übernommen worden, was diesem Godfather gewiß bei einigen seiner zahllosen Prozesse recht gibt. Gegen die anderen jedoch, an der Spitze Michael Jackson, muß man was tun (auch wenn Michaels Copyright-Verweigerung sich noch auf eine altmodische Coverversion der ihm ideologisch mißliebigen Beastie Boys bezog). Die Gruppe Culturcide hat ohne Angabe von Absender, Hersteller, Plattenfirma oder ähnlichem vor einem Jahr eine Platte veröffentlicht, wo sie zu den im Studio laufenden Platten irgendwelcher Megastars einfach mitsingen (oder mitspielen) und die Urheber kunstvoll beschimpfen. Trotz null Werbung und geheimster Geheimdistribution wurde die Platte weltweit bekannt und beachtet. Ein erster Schritt zur Enteignung der Copyright-Inhaber.

  • Bücher für alle, die die letzten sechs durchgelesen haben

    Das Werk Pierre Klossowskis, in letzter Zeit nur noch in Ramschausgaben der Rowohlt-Serie „das neue buch“ oder in teuren, auf 500 Exemplare limitierten, von Klossowski selbst illustrierten Broschüren erhältlich (Das Geld, Das Bad der Diana), wird nun vom Rowohlt-Verlag neu zugänglich gemacht. Erschienen ist als Hardcover Der Baphomet, mir liegt das Hauptwerk, Die Gesetze der Gastfreundschaft, vor. In eigentlich drei Romanen, die Klossowski zwischen 1950 und 1960 schrieb, bekämpft sich das Ehepaar Roberte, aufgeklärte, linke Politikerin, und Octave, emeritierter Professor, Kunstliebhaber und Lustgreis, der seiner rationalistischen Frau immerzu eine dunkle, böse Sexualität anphantasiert, sich an ihren Seitensprüngen weidet, bizarre Liaisons dangereuses konstruiert, während sie ihm stets einen Gedanken voraus ist. Doch seine Niederlage ist ihm gerade besonders pikanter Triumph im Auskosten von Bos- und Verworfenheiten, für die ihm ein zertrümmerter, katholischer Glaube Definitionen wie geeignete Schuldgefühle liefern muß. Allen Wurzeln aller denkbaren sexuellen Konstellationen wird dabei natürlich bis in die feinsten Verästelungen nachgegangen, bis sie zu Ensembles erstarren, die neben anderen, als Bilder ausgewiesenen Bildern wie Bilder beschrieben werden, und zwar wie Bilder von Klossowskis Bruder Balthus. Wer nach der Lektüre glaubt, mehr von Frauen zu verstehen, versteht auch von Literatur nichts: So sind natürlich nicht einmal die französischen Frauen. Wir stehen stattdessen mitten in der Welt der Klossowskis und der sie bewundernden Philosophen von Bataille bis Foucault, in der die Denkbarkeit von Leidenschaften bis zur Atomisierung verfeinert wird, nicht ohne auch Roberte zu Wort kommen zu lassen, die sie als „natürliche Vorgänge“ zurückgewinnen will. Selbst der feinste Geschmack, die tiefste Einsicht in die Berechenbarkeit der Frauenseele langweilen Petschorin, den dekadentesten Decadent russischer Zunge und „Held unserer Zeit“ in dem wohl bekanntesten Roman des in der BRD immer noch skandalös unbekannten Michail Lermontow, dessen gesammelte Werke (viele sind es nicht, da er schon mit 27 bei einem Duell zu spät zog – im Gegensatz zu Petschorin – und kaum eines ist vollendet) jetzt erst nahezu vollständig in deutscher Sprache zu haben sind, natürlich bei einem DDR-Verlag, Rütten & Loening, und sensationell billig (zwei Bände DM 32,–). Selten ist das fortschrittliche Element des großen Auflösungskampfes „Dekadenz“ über die 145 Jahre besser und reiner konserviert worden als in den verschwenderisch-genialen Fragmenten dieses Byron-Fans. Was bei französischen Zeitgenossen (und auch bei den bis zu vierzig Jahre später geborenen) sich heute wie Hoffart, Marotte und zwanghafte Erfüllung eines freilich von Späteren entworfenen Klischees liest, blieb hier konserviert, frisch gehalten in den Gletschern russischer Lakonie: die alte Geschichte, wie sich das avancierte bürgerliche Individuum durch einen gegen sich selbst gerichteten und dennoch genossenen Verfeinerungsprozeß zur eigenen Selbstauflösung drängt. Denn schließlich ist es nicht nur der Held Petschorin, der fortgesetzt von seiner Langeweile an den von ihm selbst inszenierten Liebeleien und Ränkespielen spricht, es ist auch der Autor Lermontow, der immer seine eigenen Zweifel an Erzählungen, Dialogen und Räsonnements, die er anrichtet, das Angewidertsein von Formen aussprechen muß: „Heute morgen hat mich der Arzt aufgesucht; er heißt Werner, ist aber ein Russe. Was ist daran verwunderlich? Ich habe einen Iwanow kennengelernt, der war Deutscher.“ Daß die Auflösung immer auch das Leben selbst trifft, ist ein zeit- und gattungsspezifischer Fehler, über den wir hinwegsehen müssen, als Heutige, und gerade als gattungsspezifisch und damit als vertrautes Erkennungszeichen sogar ebenso genießen können wie das Reaktionäre eines guten Westerns: „‚Was mich betrifft, so bin ich nur von einem einzigen überzeugt‘, sagte der Arzt. ‚Wovon also?‘, fragte ich, um die Meinung desjenigen zu erfahren, der bislang geschwiegen hatte. ‚Davon‘, antwortete er, ‚daß ich früher oder später eines schönen Morgens sterben werde.‘ ‚Ich bin reicher als sie‘, sagte ich. ‚Ich besitze noch eine Überzeugung mehr, und zwar die, daß ich an einem überaus widerwärtigen Abend das Unglück hatte, geboren zu werden.‘“ In den Schriften  Lermontows wird eigentlich schon alles gesagt, was zur Künstlichkeit (Ein Held unserer Zeit) und Ungerechtigkeit (Wadim) menschlicher Beziehung gesagt werden kann. Die Leidenschaft, die am Ende bleibt, ist die Rache (nach zwei Bänden). Knapp 120 Jahre später endete diese Entwicklung/Richtung in dem erwähnten Roman Klossowskis (und anderer), um dann via Foucault in ein wirklich neues Denken überführt zu werden. Hätte aber Lermontow ein Jahrhundert später gelebt, hätte er die Bücher Isaak Babels geschrieben, nicht ein von zaristischen Kreisen organisiertes Komplott hätte zu seinem Tod im Duell geführt, sondern ein stalinistischer Schauprozeß. Vorher hätte er den Revolutionär von Adel in die Weltliteratur eingeführt, den Kavalleristen der roten Reiterarmee („Ich saß abseits, nickte ein, und Träume umsprangen mich wie junge Katzen. Erst spät wurde ich durch eine Ordonnanz wach.“), und mich genötigt, wider meine Überzeugung, erstmals ein Buch des Greno-Verlages zu empfehlen. Zusätzlich zur Reiterarmee sämtliche Erzählungen als Erste Hilfe, die es bislang nur in einer schwer erhältlichen DDR-Ausgabe gab. 99 Jahre und 6 Monate nach Lermontow starb Babel unter ungeklärten Umständen 47-jährig in der Haft. 1954 wurde er rehabilitiert. Asger Jorn war zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt und arbeitete im dänischen Widerstand. Da ich für die hervorragende Zeitschrift Durch, Nummer 3, und die nicht minder hervorragende Zeitschrift artscribe je einen sehr langen Artikel über diesen artikuliertesten aller europäischen Maler verfaßt habe, bin ich jetzt etwas talked out. Ich sage nur, daß dieser Mann, der 100 Jahre nach Lermontow zur Welt kam und 1973 59-jährig starb, mehr zur Philosophie der Kunst (bes. Malerei) und ihrer Rolle in künstlerischen Bewegungen mit revolutionärem Anspruch (welcher Art auch immer) wie der Situationistischen Internationale, der wichtigsten und dem Spex-Leser gar nicht genug ans Herz zu legenden Gruppe, der Jorn angehörte, zu sagen hatte, als ein anderer europäischer Künstler dieses Jahrhunderts außer Beuys. Bevor man aber DM 42,– für die gesammelten Publikationen der SI hinlegt oder die ebenfalls sehr gut angelegten DM 20,– für die zu Gedanken eines Künstlers zusammengefaßten Schriften Jorns, empfiehlt sich ein neu bei Nautilus erschienener Reader, der Texte seit 1941, dem Todesjahr Babels, zum Teil in deutscher Sprache unveröffentlichte, für nur DM 10,– zugänglich macht. Ich will zu diesem Punkt nichts mehr hinzufügen, hat mich Jorns Schrifttum doch so gefressen, daß ich gerade damit beschäftigt bin, es mit Luhmanns Sozialen Systemen und Goethes Faust erklären zu wollen und umgekehrt, was sich zur Apotheose meiner Lieblingsmethode auswächst, etwas Großes, Klassisches auf etwas Großes, Vergessenes zu legen, um die überstehenden Ränder abzuschneiden, und sie mir als Federn an den Tirolerhut zu stecken. Um die Zahl fünf vollzumachen, noch eine Dylan-Biographie, das bislang fetteste auf diesem Markt, der wahrscheinlich mittlerweile größer ist als der für Dylans Schallplatten. Robert Sheltons No Direction Home dürfte wirklich die handlichste Form sein, in der die meisten Details aus Dylans Biographie versammelt sind, was vor allem wegen der unzähligen, immer lohnenden Interviewpassagen, Film- und TV-Mitschriften, die man sich nun nicht mehr zusammenzusuchen braucht, sehr nützlich ist. Andererseits ist dieser Shelton ein ergebener Freund des Meisters, kaum ein Blick auf die „Other Side Of Bob Dylan“, keine Respektlosigkeit, kein kühner Gedanke, der den Horizont des zu Bedenkenden übersteigt. Die Texte, die tatsächlich zum Schönsten in amerikanischer Sprache gehören, werden in einer Kaninchen-vor-der-Schlange-Haftigkeit angebetet, wenn analysiert, dann nur von den zahlreichen Akademikern, die sich in den USA mit Dylan ihren Ph.D. verdient haben und natürlich noch weniger sagen können als Shelton – aber man muß ja nicht alles von einem Buch wollen. Backstage-Geschichten wie den Wutanfall Pete Seegers, als Dylan berühmterweise bei dem von Seeger mitgetragenen Newport-Festival zur E-Gitarre griff und man Seeger nur mit Mühe daran hindern konnte, während Dylans Auftritt die Stromversorgung für das gesamte Festival zu sabotieren, weil er lieber eine Heysel-Stadion-mäßige Massenpanik in Kauf nehmen wollte, als weiter mit anhören zu müssen, wie sein Adept die Sache der reinen Folklore verriet, bekommt man in solcher Detailfülle sonst nicht erzählt. Dagegen lesen sich seitenweise Spekulationen, wen Dylan mit Mr. Jones (in „Ballad Of A Thin Man“) gemeint haben könnte, wie üble Germanistik. Mr. Jones ist nämlich einwandfrei eine Klossowski-Figur, aus dem Kokon der allerfeinsten Dekadenz ausgewickelt und ins Beat-New-York gestellt, wo alles bereits vollzogen und überwunden war, wirklich vollzogen und wirklich überwunden, was vorher jahrzehntelang nur beim Abtasten von Kleiderfalten zu erahnen gewesen war.

    Pierre Klossowski – Die Gesetze der Gastfreundschaft, Rowohlt, DM 42,–

    Michail Lermontow – Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Rütten & Loening, Berlin/DDR, DM 32,–

    Isaak Babel – Erste Hilfe, Greno-Verlag, DM 30,–

    Asger Jorn – Heringe in Acryl, Nautilus-Moderne, DM 10,–

    Robert Shelton – No Direction Home / The Life And Music Of Bob Dylan, Penguin Books