Bärchen und die Milchbubis – Pogo mit menschlichem Anlitz oder Hans Jörg Felmy und die Stoischen Skinheads

Hannover sei ein Vorort Hamburgs, sagt man in dieser Stadt. Für mich ist der Weg dahin dennoch eine transsibirische Expedition, und Leben und Menschen mindestens so exotisch wie sowjetische Algenfischer im Eismeer.

Städtevergleiche sind jedoch eher Stoff für gepflegte Party-Konversation als für anregende, informative Artikel. Bevor ich irgendwelche Chancen hatte, mich der Umgebung zu akklimatisieren, bin ich schon mitten in einem der seltsamsten Szenarios Hannovers; dieser typisch Mischung aus Akne und Weisheit, abgeklärtem Fun und adoleszenter Verwirrung: Bärchen und die Milchbubis, die Pop/Pogo-Kapelle mit menschlichem Antlitz spielt in der Aula eines altsprachlichen Gymnasiums und – eheu! – Sokrates tanzt Pogo und Cicero macht bum!

Die unlängst erschienene BudM-LP DANN MACHT ES BUM! wurde in diesem Blatt meiner Ansicht nach zu Unrecht von der Pech und Gröfaz-Ecke sehr skeptisch rezensiert. Ich finde, daß ihr Verzicht auf jede Finesse, ihre gebirgsquellklare Pop-Ausrichtung von geradezu ekstatischer Einfachheit nicht nur hierzuland absolut originell ist. Gerade heute, wo alle Punks Funk und alle Hippies Untergang- und Elektronik-Lärm machen, ist es schön, daß jemand Unschuld mit Stil und (Widerspruch!) cleverer Selbstinszenierung verbinden kann. Auf der Platte tritt als Star nur Bärchen in Erscheinung, die in den 14 Songs in alle möglichen Rollen schlüpft: männermordend, naiv, böse, lasziv, provinziell, frech etc. Auf der Bühne wirken die andern drei mindestens ebenso phantasieanregend, wie sie zwischen lauter tanzwütigen ungestylten, bebrillten Schülern auf ebener Erde herumhüpfen. Mit ihrem Äußeren verkörpern sie drei Karikaturen heutiger Jugendbewegungen, am Baß Adam Ant (Kai), an der Gitarre ein Oi!Hacker (Rudolf), am Schlagzeug ein Pogo-Hacker (Andreas), wobei ihre Mienen die Verkleidung allemal relativieren.

Zwischen den Songs, an der Wand mit den Kursankündigungen der reformierten Oberstufe auf- und abgehend, beginnt vor meinem inneren Auge ein Film Gestalt anzunehmen. Er gehört dem längst vergessenen (zu Unrecht!) Genre des Paukerfilms an. Vorbild ist ein Halbstarkenfilm au den Fünfzigern mit Heinz Rühmann als verständnisvollem Pauker, der eine Bande halbstarker Schüler (darunter der junge Fritz Wepper, sowie Klaus Löwitsch und Peter Vogel) mit pädagogischer Finesse zu ekelhaften Freizeit-Automechanikern umerzieht, die auf Schrottplätzen sich aus Müll ein Auto zusammenbasteln. Totale Aus-Ruinen-auferstanden-Mentalität. Doch bei uns läuft es anders. Die renitente Bärchen schleppt den Virus der Punk-Revolte an das ehrwürdige, traditionsreiche Gymnasium, das bis vor ein paar Jahren noch nicht einmal Mädchen aufnehmen wollte und aus dessen Absolventen sich Jahr für Jahr die neue Nomenklatura der Leine-Metropole rekrutiert. Unterstützt bei ihren aufrührerischen, rebellischen Aktivitäten wird sie von einem schlagkräftigen, Gitarre spielenden Skinhead, der schon früher an der ganzen Schule gefürchtet wurde. Seine rebellische Interessenlosigkeit hat nur deswegen noch nicht zur Relegierung geführt (schon 76 hatte er seiner Leidenschaft, der Chemie, gefrönt, indem er einen selbsterfundenen Sprengstoff in die Karte mit dem Periodensystem der Elemente einrollte, die beim Entrollen durch den Lehrer so explodierte, daß dem Armen der Hosengurt zerbarst), weil er im ehrwürdigen Kollegium über einen Fürsprecher verfügt: den sanften verständnisvollen Griechisch-Lehrer (von Hans-Jörg Felmy gespielt), mit dem der junge Skin, der ein Musterschüler in Griechisch ist, die Vorliebe für die Philosophen der Stoa teilt. Doch als Skin und Bärchen auch noch aus einem verträumten Bassisten einen vergnügungssüchtigen Piraten-Punk machen und dann zu dritt den besten Fußball-Torwart der Schule in einen Punk-Drummer umformen, sind die Grundfesten erschüttert. Bevor es zur Katastrophe kommt … Fortsetzung folgt.

Die Milchbubis sind inzwischen beim Höhepunkt ihres Sets angelangt, dem Single-Hit „Jung kaputt spart Altersheime“ (was im übrigen nicht stimmt: denn „jung kaputt“ macht aus Steuerzahlern Frührentner, die sich raffiniert am Generationenvertrag vorbeistehlen und dem Staat die Geldmittel entziehen, mit denen er überhaupt noch irgendwelche Altersheime bauen könnte). Bevor die Schulfest-Disco wieder auf DAF oder Extrabreit schaltet, wird der Kehrreim noch einmal mitgegröhlt. Zugaben fallen bei den Milchbubi aus, dafür spielt der enorm ausdauernde Rudolf auf seiner Gitarre die Auslaufrille der LP, bis sein Arm schwach wird. So geht man bestimmt nicht jung kaputt, bei soviel körperlicher Ertüchtigung…

Es bleibt fraglich, ob dieses spezifisch Hannoveraner Talent, treffsichere Pop-Melodien nicht mit angelesenen Ansprüchen zu überfrachten, sondern auf die eigene, direkte, mitunter auch peinlich direkte Ausstrahlung zu vertrauen, sich anderswo durchsetzen wird. Dabei könnten wir Images, Selbstdarstellung und Mini-Mythen wirklich dringend brauchen, um den schmalen Grat zwischen Nichts, 999, Fehlfarben und Kim Wilde wieder begehbar zu machen.