„Den kann man ja direkt wieder hören“,
ein Freund, mich beim Abspielen von „Nashville Skyline“ ertappend.
„Eigentlich sollte die Ära der Revivals ja nun langsam beendet sein, aber wenn ihr unbedingt eins haben wollt, dann vergeßt all das neo-Brain-Billy-Psycho-Gewürge, laßt ab von ‚Eva‘, ‚Lolita‘ und anderen Nachwuchs-Nymphchen und schaut mal wieder bei der guten alten Mutter CBS vorbei, denn dort gibt’s so um die 30 LPs von Bob Dylan zu entdecken.“
Die von mir geschätzte Kritikerin Florence Bühler in der Februar-Ausgabe der Hamburger Stadtzeitschrift „tango“.
„In dieser Zeit war ich sicherlich Dylan-süchtig.“
Der von mir weniger geschätzte 1984-Shooting-Star Lloyd Cole über die Entstehungszeit seiner ersten, LP.
„Responsibility, security, success mean absolutely nothing … I would not want t be Bach, Mozart, Tolstoy, Joe Hill, Gertrude Stein or James Dean / they’re all dead. the great books’ve been written. the great sayings have all been said / I am about t sketch you a picture of what goes on around here sometimes. tho’ I don’t understand too well myself what’s really happening. I do know that we’re all gonna die someday an’ that no death has ever stopped the world.“
Der Meister selber in bestem Beatnik-Slang auf den Liner-Notes zu seiner LP „Subterranean Homesick Blues“
Daß es kein Dylan-Revival geben wird, liegt schon allein darin begründet, daß er ja nie weg war. Nicht nur, daß er ohne Mühe noch heute eine Generation auf die Hinterbeine bringen kann, die sich von verbeamteten Dylanologen noch jede seiner senilen, religiösen Torheiten weltbild-konform zurechtdeuten läßt, nein, vereinzelt, wenn auch vereinzelter als heute, tauchte er immer wieder als Inspirator und Vorbild auf und die ihm ergebenen Byrds sind als stilbildender Einfluß seit gut drei Jahren auch auf unser Post-Wave-Szene nicht mehr zu übersehen.
Die Frage, die ich mir stelle, ergibt sich aus folgenden Tatsachen:
Jeder stimmt zu, daß weder The Fall noch die Go-Betweens ohne Bob Dylan denkbar sind.
Jeder verweist dann aber auf die sogenannte „gute“ Phase Dylans und nennt meistens die LP „Blonde On Blonde“. Jeder stimmt zu, daß Velvet Underground die größte Band aller Zeiten ist.
Jeder findet auch heute noch Lou Reed und John Cale gut. Niemand findet Dylan als Ganzes gut, niemand würde sagen, Dylan ist gut, allenfalls „Blonde On Blonde“ war gut. Unsere Generation, geboren zwischen 1954 und 1964, zählt ohne Einschränkungen Lou Reed, Velvet Underground und John Cale zu ihrem kulturellen Erbe, hält Bob Dylan dagegen für eine allenfalls unter Revival- und Sixties-Ringelpullover- und Billy-Bragg- und John-Cooper-Clarke-Aspekten zu würdigende Sumpfblüte. Die vorangegangene Generation, geboren zwischen 1944 und 1954, hält dagegen Velvet Underground für ein extremes Kuriosum ihrer wilderen Jahre, Dylan dagegen für den durch vielerlei geradezu volksmundig verbreitete Zitate abgesicherten ‚Goethe-artigen Verfasser goldener Lebensregeln‘: „To live outside the law, you must be honest“, „Don’t follow leaders just watch the parking meters“, „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows“, „He, not busy being born is a busy dying“, „Everybody must get stoned“ bis hin zu „Ruben Carter was falsely trialled / Crime was murder one / guess who testified / Bradley and Bellow and they both lied“, um nur die verbreitetsten Sätze, die mir so ins Gedächtnis schießen, wiederzugeben. An die aus den tränenreichen Poemen gegen Krieg und harten Regen aus der Frühzeit will ich mich lieber nicht erinnern.
Was also sind Dylan und Lou Reed, Goethe und Kleist?
Ich möchte hierbei einfließen lassen, daß ich einmal die Gelegenheit hatte, Dylans Eckermann aus frühen Tagen live zu erleben, einen gewissen Bob Neuwirth, dessen sich damals John Cale erbarmte und mit ihm ein Dichtung/Musik-Konzert im New Yorker „Kitchen“ versuchte, was höllisch daneben ging. Neuwirth war es, glaube ich, der Dylan mit Edie Sedgewick bekannt machte. Neuwirth war es, der ihn unter anderem dazu ermutigte, frei assoziierte Lyrik und Beatnik-Gedankengut auf ihn und seine Dichtkunst einwirken zu lassen und in den Sechzigern waren sie unzertrennliche Bewohner des Greenwich Village. Neuwirth lebt heute noch da und die Welt hat ihn vergessen.
Goethe/Kleist fällt aus, weil Lou Reed ja gerade der große Überlebende ist, der es geschafft hat, einer Folgegeneration genauso attraktiv und weimarisch zu sein wie der alte Geheimrat von Dylan. Aber Dylan = Goethe ist gut, er ist nämlich genauso ein abgefeimter Könner und dabei ekelhafter Mensch wie der Mann, der den Satz geprägt hat „Die Frauen sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen“. Beide haben ein absolut ekelhaftes Verhältnis zu Frauen.
Lou Reed und Bob Dylan waren Teenager in einer Zeit, als die letzten Koryphäen der anspruchsvollen, elaborierten modernen Lyrik ihren Abschied nahmen. Ezra Pound weilte in einem Irrenhaus, in Deutschland starben Benn und Brecht, die Spanier waren von Faschisten ermordet und ins Exil getrieben worden, wo sie unproduktiv vor sich hin darbten, von den Franzosen wollen wir nicht reden. Zu dieser Zeit begann sich eine Sache als Dichtung aufzuführen, die so leicht ging, wie Punk-Stücke zu schreiben; Unterkiefer vorschieben und die Worte rauslaufen lassen und möglichst viele Namen berühmter Dichter einbauen (Ginsberg) oder dem Ganzen vollmundig den Namen einer Methode wie „Cut-Up“ oder „Fold-In“ unterschieben (Burroughs). Dazu kamen Leute wie Corso, Ferlinghetti, Olson, Berrigan und O’Hara, die in der Minderzahl ein bißchen schreiben konnten, in der Mehrzahl aber einfach den gesellschaftlich anerkannten, aber ansonsten verwaisten Thron der Poesie erklommen und ein letztes Mal dafür sorgten, daß Literatur hip war. Und, wie gesagt, es war so leicht wie wilde Bilder oder Punk-Rock.
Außerdem entstanden um diese Zeit Elvis Presley, Chuck Berry, Eddie Cochran und Buddy Holly.
Während Bob Dylan, sicher nicht ungebildet und auch von Ginsberg begeistert, in den sprichwörtlichen Greenwich-Village-Cafes auftrat, an der Seite der sprichwörtlichen Moralkanone Joan Baez, studierte Lou Reed Literatur bei Delmore Schwartz. Schwartz („In Dreams Begin Responsibiles“ heißt sein Hauptwerk und wir können dem vorangestellten Dylan-Zitat entnehmen, daß jener mit „Responsibilities“ nichts am Hut haben wollte/will) war einer der wenigen verbliebenen akademischen Dichter, der Beatniks und Rock’n’Roll haßte. Lou Reed trug sein Andenken bis in die 80er Jahre auf einen Song der LP „The Blue Mask“. Lou Reed war also erzogen worden von einem der letzten richtigen Schriftsteller, von einem Mann, der in der Literatur in etwa die Strömung repräsentiert, die in der Kunst der „abstract expressionism“ war: Kraft und Ernst und Alkohol.
Dylan war demgegenüber bereits ein Vertreter literarischer Pop-Art. Sein nach seiner musikalischen Wendung zur elektrischen Gitarre (beim Newport Folk Festival 1965) ebenfalls völlig veränderter Schreibstil war die Eingliederung der faserigen Beatnik-Lyrik in die Pop-Art. Seine beste Zeit begann. Er schrieb unter folgenden Maximen:
1.) Alles muß sich reimen!
2.) Verwende so viele Namen wie möglich aus der Geschichte der Hochkultur!
3.) Stelle diese Namen möglichst in Zusammenhänge aus der Welt der Banalitäten!
4.) Lasse Deine Hörer stets im Unklaren, ob Du diesen Namen Respekt entgegenbringst oder sie in den Dreck ziehst!
5.) Sorge dafür, daß auf fünf Zeilen inintelligiblen surrealistischen Matsches, der ja durch die strenge Reimform niemals matschig wirkt, eine Zeile goldene Lebensregel kommt!
6.) Verwende soviel Adverbien wie möglich: approximately, obviously, positively, fortunately, absolutely etc. Am Besten in Songtiteln, die mit dem Inhalt nichts zu tun haben: „Positively 4th Street“!
Seine populärsten Songs waren dennoch die, die nur aus Lebensregeln bestanden wie „Ballad Of A Thin Man“ und „Like A Rolling Stone“. Es sind dies die Songs, die die Zitatenschätze der älteren Generation konstituieren halfen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Hippies über ihre kleine Freundin gebeugt zärtlich dachten: „She aches just like a woman / She fakes just like a woman / She makes love just like a woman / but she breaks just like a little girl“. Und bei diesem Gedanken kommt in mir gerechter Zorn auf. Noch widerlicher ist der Text von „Like A Rolling Stone“. In diesem Lied sagt ein Freund zu seiner (Ex-)Freundin, die offensichtlich eine feine, gebildete, zarte Frau ohne elende streetsmartness war, höhnisch, jetzt, wo es ihr dreckig ginge, würde sie wohl nicht mehr so arrogant auftreten, sich nicht mehr mokieren, jetzt müsse sie wohl mal Kreide fressen und das täte ihr ja auch einmal ganz gut. Das arme Mädchen.
In diesem Fall starb das arme Mädchen knapp sechs Jahre später nach einer Phase als Rockerbraut an Drogen. Es handelt sich um Edie Sedgewick, Warhols Supergirl aus der berühmten Gründerväter-Familie der Sedgewicks stammend, alter US-Adel, Superstar der ersten Hälfte der 60er in New York. Sie löste Joan Baez als Dylans Muse ab und ihre Art-World-Drogen-Mondänität muß geholfen haben, ihn von seinen biederen Protestliedchen und Ostermarschkantilenen zum geilen surrealistischen Matsch mit literarischen Anspielungen zu führen. Ob es stimmt oder nicht. Ich gehe einmal davon aus, daß alle seine Liebes- und/oder Haßlieder der LPs „Subterranean Homesick Blues“ und „Highway 61 Revisited“ von ihr handeln. Erst heißt es da: „She can take the dark out of the night time and paint the day time black“. Nein, so ein herrlich-verrücktes Hippie-Mädchen. Dann: „She knows there’s no success like failure / and that failure’s no success at all“. Die Absage an die amerikanische Leistungsgesellschaft, auch dies der rätselhaften Geliebten zugeschrieben, die nämlich hat „everything she needs / she’s an artist / she don’t look back“. Auf der nächsten Platte weidet er sich dann in zwei Songs an ihrem Verfall („Like A Rolling Stone“, „Queen Jane Approximately“) und wendet sich dabei gleichzeitig von seinen letzten verliebten Naivitäten ab, der surrealistische Matsch triumphiert nun über die letzten gebliebenen Lebensregeln. Es kommen die Dylan-Songs, die die aufgeklärteren Vertreter unserer Generation schätzen, die im kollektiven Dylan-Gedächtnis der eigentlichen Dylan-Generation dagegen nicht diesen Ehrenplatz haben.
Der surrealistische Matsch (Beispiel: „Well Ma Raney and Beethoven once unwrapped their bedroll / Tuba players now rehearse around the flagpole /and the National Bank at a profit sells road maps of the soul / to the old folks homes and the colleges“) wurde perfektioniert. Dylan arrangierte Stab- und Binnenreime, daß es knackte, kaum einer in der Geschichte der Pop-Musik, Tom Waits zuweilen oder Loudon Wainwright III an einem guten Tag, konnte ihm da je das Wasser reichen, das Namedropping hielt sich nun in Grenzen, einmal „Shakespeare – he’s in the alley“ pro Song mußte reichen, stattdessen oft beste Poesie des 20. Jahrhunderts – ich rede von der LP „Blonde On Blonde“ und bis auf „Just Like A Woman“ fast kein privater Dreck. Bob Dylan hatte die Popmusik erfunden, bei der man auf den Text achtete.
Man schrieb damals zwar hier und dort drogengeschwängerten Unsinn, den manche ebenfalls für Literatur hielten, aber die Zeit gab ihnen Unrecht. Und selbst die Beatles erreichten einen Standard, wie ihn „A Day In The Life“ oder „Being For The Benfit Of Mr. Kite“ vorlegten, nicht alle Tage. Nur Lou Reed und John Cale, die zwei großen Literaten der 70er-Pop-Musik, bereiteten langsam den zweiten Stil der Pop-Dichtung vor. Erstaunlich, daß Velvet Underground zu einem Zeitpunkt, wo sie die Spitze der musikalischen Avantgarde darstellten, imagemäßig verbunden waren mit Gerard Malangas Peitschentänzen und allen Ungeheuerlichkeiten des Warhol-Clans, sich textlich hingezogen fühlten zu Geschichten, kleinen Epen und Pointen, also einer Auffassung des Gedichts, die noch vor jeder Modernen angesiedelt ist. Dennoch deutlich unterschieden vom konventionellen Pop-, Rock- oder Country-Text.
Wir befinden uns an dem historischen Punkt, wo Dylan Perfektion erreicht hat. Die Doppel-Lp „Blonde On Blonde“ ist so meisterhaft betextet, daß es in dieser Richtung kaum noch ein Weiter gibt. Die Musik, klanglich eingefärbt von der von Al Kooper ersonnenen, wenn auch Historikern oft The Band zugeschriebenen Idee, Orgel und akkustisches Klavier zusammen einzusetzen, gibt den Texten gerade noch soviel Sentimentalität wie sie aushalten, gibt sich aber sonst ganz der verschmierten Kaffeetassen-Hardcore-Bohème-Resignation hin, umweht von rundum zufriedener, schnöseliger, oberbefriedigter, arroganter Gleichgültigkeit, so daß ich etwas Persönliches sagen muß, an dieser Stelle, wenn Sie gestatten: Surrealistischer Matsch kann das Größte sein. „Six white horses / that you did promise / are finally delivered / down to the penitentiarys“. Oder „… thirst hurts, but what’s worse /is this pain in here …“
Radikalisierung stand unmittelbar bevor. Dylans Höhenflug läßt einen den Rausch, der durch meisterhaftes Beherrschen einer Form hervorgerufen wird, spüren. Es ist ein großartiger, aber ein ästhetizistischer Rausch, der Höhenflug des Formalismus, von dem man sehr tief fallen kann. Oder von einem Motorrad. Dylan nahm im Keller des großen, rosanen Landhauses seiner Begleitband The Band (BigPink) Stücke auf, die erst in den mittleren Siebzigern als „The Basement Tapes“ veröffentlicht wurden. Nichts was er gemacht hat, ist so punkig wie etwa das Lied „Yeah, Heavy And A Bottle Of Bread“, so laid back und böse wie zeitgleich nur noch The Velvet Underground. The Band, später die großen bodenständigen Museumsverwalter der großen amerikanischen Musiken, klingen hier wie eine Kreuzung aus The Seeds und Violent Femmes (tatsächlich sind die Femmes exakt das: eine Punk-Ausgabe von The Band) und die sich anbahnende Hinwendung ganz Psychedelias zu Country & Western klingt hier wie eine böse Drohung, nicht wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes, der nach einem langen Acid-Trip seine Eltern wiedersieht (was das Country-Revival dann in Wirklichkeit war, nicht zuletzt im Falle Dylan). Velvet Underground und Bob Dylan sind zu diesem Zeitpunkt die Avantgarde einer Jugendbewegung, die in allen Aspekten den literarischen New Yorker Punk der Jahre 76ff. direkt ansteuert…
Wenn nicht der Weltgeist seine bevorzugte historische Form, die Wellenbewegung in Gefahr gesehen hätte, und dem Treiben den Garaus gemacht hätte: Durch Dylans Sturz vom Motorrad und das Attentat auf Andy Warhol. Wäre das nicht passiert, dann wäre uns viel erspart geblieben. 68 wäre gleich in 77 übergegangen, die Bewegung hätte eine viel abgebrühtere Härte gehabt, wäre stoßkräftiger, schwerer zu enttäuschen gewesen. Der im Grunde genommen pubertäre Quatsch von der „Blank Generation“ und anderen Konstrukten, wäre nach dieser forcierten, professionellen Dosis Bosheit gar nicht mehr möglich gewesen.
Doch war es eine bürgerliche Bosheit, eine aus dem Rausch der Überlegenheit des ästhetisch vollendeten Ausdrucks der eigenen Ziellosigkeit sich speisende Bosheit. Wer dann vom Motorrad noch fällt, ist eigentlich dafür zu bewundern, daß er noch so lange braucht, bis er Gott oder Ähnliches findet. Daß er vorher noch andere Dinge ausprobiert, von denen wir lernen können.
Lou Reed entwickelt inzwischen das, was er kann, zur Perfektion. Jeder seiner Songs ist mindestens eine kohärente, stimmungsvolle Filmszene, oft fast ein Roman. Er wird inhaltlich zum besten Songwriter, erzählt die definitiven Geschichten der Pop-Kultur. Das Dylan-Erbe tritt teilweise David Bowie an. Geiler surrealistischer Matsch im Sinne Dylans ist etwa das Lied „Life On Mars“ von der LP „Hunky Dory“, die klugerweise auch Widmungen an die beiden 60er Stars enthält, deren fast-tödliche Unfälle die kulturelle Entwicklung so jäh stoppte: „Andy Warhol“ und „Robert Zimmermann“. Doch was wurde aus dem Meister der sprachlichen Form? Was wurde aus Dylan?
Sicher blieb er ein begabter Songwriter. „John Wesley Harding“ enthält Klassiker wie „All Along The Watchtower“ und Gewaltiges wie „I Pity The Poor Imigrant“, später gefiel „Planet Waves“ ein wenig, besser war „Blood On The Tracks“, kuriose Live-LPs wie „Before The Flood“, der Glam-Rock-Versuch „Hard Rain“ oder die schräge Reggae-Platte „Live At Budokan“ amüsierten. Dazwischen mehrte sich Schrott, der in der zweiten Hälfte der Siebziger die Überhand nahm. Heute hat Bob Dylan seinen absoluten Tiefpunkt erreicht, mit der LP „Real Live“. Honorige alte Songs wie „Tombstone Blues“ werden von einer Stumpfrock-Band hingerichtet, seine Stimme ist die eines Dylan-Plagiators. Er hat nach seinem Motorrad-Unfall nur noch ein richtiges Meisterwerk hingelegt, die notwendige menschliche Ergänzung zu seinem großartigen, aber gewissenlosen Lyrik-Höhenflügen: „Nashville Skyline“.
Dylan hatte ja gerade in dem Moment eine keinerlei Inhalten, keinerlei Ideen, nur sich selbst verpflichtete sprachliche Meisterschaft entwickelt, als ihn die junge Welt mehr denn je zum Jugendführer haben wollte. Baudelaire als Pfadfinder-Funktionär? Das ging natürlich nicht. Diese Situation verursachte einen zusätzlichen Druck, einen Gewissensüberhang, der natürlich voll aufbrach, nachdem sich Dylan erholte und sich in den Spiegel sehen konnte. Wer war er? Was sollte er in dieser Situation sagen? Und wie so viele, die ausführlich und ausgiebig in künstlichen Paradiesen gelebt haben, entdeckte er nach seiner Vertreibung aus diesen Paradiesen, das Liebe. Das Liebsein, eine Geißel der 70er Jahre – ja sicher ist er dumm wie Bohnenstroh, aber unheimlich lieb –, die einen komplexen Menschen auf seine Umgangsformen reduzierte, und dabei die primitivsten, lange Umarmungen, freundlicher Gesichtsausdruck am meisten honorierte, hatte aber in einer bestimmten historischen Sekunde ihren Sinn. Es war das Liebsein, das vollkommen verwirrte Menschen brauchen, die just von einem LSD-Trip herunterkommen. Es war ein kurzfristiges Erinnern an Roots, ein ganz und gar artifizielles ohne jede Schwerfälligkeit der späteren Landkommunebewohner. Und es ist eine Platte dabei herausgekommen, die, und auch das ist eine Lektion für uns heutige, zeigt, daß der Weg zur notwendigen Vereinfachung nach einer Phase der Überspezialisierung, also ein Punk-Effekt, von Country & Western geleistet werden kann. „Responsibility und „great sayings“ – plötzlich konnte er sich nicht mehr Beatnik-nihilistisch daran vorbeistehlen, plötzlich war er rührend, ein einziges Mal aber so sehr, daß es noch heute wirkt.
Lou Reed und John Cale, unsere beiden Lieblingspoeten sind Meister in verschiedenen Genres. Lou Reed des Epos, John Cale europäischer Dekadenz-Traditionen. Die Tradition der reinen sprachlichen Perfektion fehlt uns ebenso wie die Fähigkeit zur Rührseligkeit im rechten Moment. Lou Reed und John Cale haben in ihren wechselvollen Karrieren oft Kreuzungen mit dem Zeitgeist gehabt, aber sie haben sich ebenso oft stumm und eigensinnig entwickelt. Dylan konnte sich nur solange entfalten, wie er über dieses Gespür verfügte, die historische Sekunde zu ergreifen und für sich zu nutzen. In dem Sinne ist er fast mehr Pop als die anderen beiden. Heute ergreift er nur noch seine Vergangenheit. Und ist mir in seiner desperaten Senilität lieber als ein frischer Mick Jagger.


