Kategorie: Post

  • Tote schreiben besser

    Als ich zu Hause ankam, sagte ich zu meinem Vater, ich hätte meine Arbeit in Sonora gekündigt. Ich tauge nicht für so was, sagte ich. Was willst du stattdessen machen?, fragte mein Vater. Die Revolution, sagte ich. Welche Revolution?, fragte mein Vater. Die amerikanische Revolution natürlich, sagte ich.

    Der Kurs Frankfurt–Buenos Aires war der längste Nonstop-Flug im alten Lufthansa-Fahrplan. Von diesem in einer Nacht des argentinischen Sommers 2002 nachhaltig durchgeschüttelt und gerädert, taumelte ich in mein Hotelzimmer unweit vom Ufer des Rio de la Plata, um mein verhangenes Hirn mit dem üppigen Angebot lateinamerikanischer Kabelfernsehsender wachzuhalten. Ein viel zu lebhafter junger Mann mit dichten Augenbrauen weckte mich nachhaltig. Mit scharfen Worten in einem überaus klaren, in knappe Sätze gehackten Spanisch rechnete er mit der gesamten spanischsprachigen Literaturtradition ab, insbesondere an Pablo Neruda blieb kein gutes Haar. Eigentlich seien nur zwei Autoren dieser Tradition wirklich satisfaktionsfähig: der immerhin zu diesem Zeitpunkt schon seit 357 Jahren tote Francisco de Quevedo und – zur Freude der argentinischen Moderatoren – Jorge Luis Borges. Ich lernte dann bald in Buenos Aires reichlich Fangirls und -boys kennen, die mir mehr von dem faszinierenden Polemiker berichten konnten. Ein gutes halbes Jahr später starb Roberto Bolaño 50-jährig an Hepatitis.

    Die massive globale Rezeption und auch mein eigenes unersättliches Lesen dieses Autors begann also posthum. Seit Jimi Hendrix war kein toter Künstler mehr so produktiv wie Bolaño. Damit ist sein Werk das Gegenteil all der auch für diese Zeitschrift kürzlich so relevanten autofiktionalen Autor*innen wie Didier Eribon bis Maggie Nelson, von Annie Ernaux bis Paul B. Preciado, von Karl Ove Knausgard bis Rachel Cusk – nämlich eines, das nicht erkennbar an ein zeitgenössisches Leben gebunden ist, das mit den Leser*innen auf demselben Planeten und zur selben Zeit stattfindet. Der lakonische Gestus des Erzählers, das immer als Spannung ausgespielte, gleichzeitige Zu-viel- und Zu-wenig-Wissen der Protagonist*innen, die ungeduldigen Überfliegereien und die ungerührten Scheußlichkeitsprotokolle taugen nicht zum empathiebedürftigen Berichten von Transformationen und existenziellen, persönlich erfahrenen Veränderungen und auch deren Scheitern, zu deren Darstellung literarisches Schreiben gegenwärtig so gut geeignet zu sein scheint. Die Sprünge, die Perspektivwechsel, (oft angetäuschten) Vielstimmigkeiten wollen etwas ganz anderes. Während dieser Unterschied vielleicht naheliegender damit bestimmt wäre, dass es sich bei Bolaños Schreiben eben um eine ganz andere Art von Literatur handelt – ich sage gleich, welche –, drängt sich mir aber ein anderer Verdacht auf, den ich schon lange hege: Tote Autor*innen schreiben anders als Lebende. Ich würde sagen: besser.

    Warum überhaupt die Autofiktion als Kontrastfolie? Nun, zum einen stellt sie eine literarische Bewegung oder Kategorie dar, der sich diese Kunstzeitschrift vor kurzer Zeit gewidmet hat; sie interessiert mich, weil ich in ihr den neusten Versuch der geschriebenen Kunst sehe, etwas Indexikalität in die Symbole reinzutreiben – ein fast schon tragisch medienkompetitives Unterfangen, gegen das trotz seiner Aussichtslosigkeit (im zeichenontologischen Sinne) gar nicht so viel zu sagen wäre (es ist anderweitig produktiv wie so viele Attacken auf Windmühlenflügel). Zum anderen aber hat Heinrich von Berenberg, mit Christian Hansen einer der beiden hochverdienstvollen Hauptübersetzer des Autors, in einem Nachwort für Cowboygräber, den neusten, frisch von der Festplatte des Verstorbenen gekratzten Erzählungsband, das Autobiografische an diesem Werk nicht ganz unplausibel hervorgehoben. Wenn es das aber ist, autobiografisch, wieso ist es das auf so andere Weise als die kurrente Autofiktion, die ja zumindest eines mit Bolaño gemeinsam hat: das Zusammengesetzte aus Auto und Fiktion (eine Bestimmung, die so nackt und lapidar allerdings immer schon unter Banalitätsverdacht gestanden hat)?

    Und hier kommt die „ganz andere Art der Literatur“ ins Spiel. Klar, Bolaño stammt aus einer anderen, weniger nachdenklich beschwerten, weniger vorsichtigen und aporetischen und deutlich enthusiastischeren Zeit, ist ein Kind von Gegenkultur, Exil, 70er-Jahre-Beatnik-Rezeption; darüber hinaus haben ihn spezifisch lateinamerikanische intellektuelle Traditionen (konzeptuelles Erzählen, die Linie Macedonio Fernández – Borges – Cortázar, aber auch die politischen Chilenen von Nicanor Parra bis Pedro Lemebel) geprägt, aber auch die kulturelle Grundsatzentscheidung Lateinamerikas, wenn nicht der gesamten spanischsprachigen Welt, dass poesía als eine antirationale, aber linke und politisierte Lebensform zu gelten habe: eine politische Romantik gegen die Innerlichkeitsromantik des Nordens, gewissermaßen der historische Sensibilitätskompromiss zwischen indigenen Kulturen und den Gegenkulturen der Kolonialistenkinder. Belesenheit ist nicht nerdy, aber auch nicht tief, sondern erfahrungsgesättigt, lebendig, abgründig komisch, zum Brüllen tragisch. Und so tritt Bolaño als virtuoser, cooler Meister lakonischer Überraschungen auf, serviert kokett dicke Deadpan-Pointen und wird zum großen Konstrukteur, der über das Können und die Traute verfügt, sich mitten im Dickicht selbstverschuldet schwieriger Ideen und Konfrontationen mit der poetischen Machete einen einfachen Pfad zu bahnen. Weil seine Bücher zu allem Überfluss auch noch wahnsinnig unterhaltsam sind, hat man ihn mit Tarantino und der Entdeckung eines spannungsreichen nicht linearen Erzählens im Herzen der Kulturindustrie in Verbindung gebracht. Seine teilweise forciert drastischen und dann wieder ernsten politischen Schilderungen wurden oft mit Skepsis aufgenommen, weil sich das alles so süffig lesen ließ. Wie frivol ist das denn?

    Mit anderen Worten: Diese ganz andere Literatur einer anderen Zeit ist trotz (und ein bisschen auch wegen) aller linker (und postkolonialer) Credentials auch genealogisch verdächtig, nämlich: direkt aus einer alten Männer- und Abenteuerliteratur abzustammen, die eine Subjektivität feiert und fortsetzt, die die transformativen autofiktionalen Erzählungen abzustreifen oder durch etwas anderes zu ersetzen versuchen. Mein Gegenargument: Genau dies ist auch schon ein Teil von Bolaños Projekt. Der expliziten Berufung auf abenteuerliche, umherschweifende, situationistische heterosexuelle Jungs und ihre Organisationsformen – auch in der neuen Sammlung gibt es wieder eine globale surrealistische Untergrundarmee – steht ein gewaltiges Dementi entgegen. Die untergründig verknüpften weltumspannenden Bewegungen sind kein Medium männlicher Souveränität und zu bestehender Abenteuer: Sie sind das Gegenteil, die Form des Souveränitätsverlusts, der Triumph der Poesie in der Organisation unübersichtlicher globaler Netzwerke des Verlorengehens, Abhandenkommens, unerkannter Wiederholungszwänge und von Wirkungen, die die Akteure nie beabsichtigt hatten und die sie zu Verwandlungen zwingen. Das ist zwar romantisch, im Sinne der poesía, aber nicht abenteuerlich, denn hier wird nichts bestanden; alles geht verloren, wenn nicht in Hingabe, dann in Lächerlichkeit.

    Das Movens ist Passivität. Dass die Protagonist*innen meist nicht richtig wissen, wie sie irgendwo hingeraten sind, wie ihnen dort gerade geschieht, ist manchmal kokett, aber eben auch stets sweet. Die literaturgeschichtliche Großgestalt Rimbaud etwa ist das Ergebnis einer Art Vergewaltigung durch französische Soldaten, die in Mexiko gekämpft hatten und in ihrer Niederlage von mexikanischer Otherness geimpft wurden, die sie ungeahnt auf den jungen Dichter übertragen, als sie ihn marodierenderweise im Jahr der Pariser Kommune auf dem Weg nach Paris treffen. Literaturwissenschaftler Amalfitano muss (bei seinem zweiten Auftreten) schwul werden, was er aber erst richtig ausleben kann, als er in Mexiko einen Maler kennenlernt, der Larry Rivers kopiert. Nun kann er selbst Frank O’Hara imitieren und so die große romantische Beziehung aus der New York School reenacten. Längst erledigte Kunst- und Literaturgeschichte zu verkörpern, als Fans – das ist bei Bolaño das Schicksal seiner „romantischen Hunde“. Nur so können sie sinnvoll leben – indem sie sich von denen, die Weltgeschichte erlitten haben, gewissermaßen ficken lassen oder indem sie bereits Erprobtes, zur Anekdote Geronnenes mit heißen Herzen durchziehen. Nicht umsonst sind es immer wieder Rechercheformate, die seine Protagonist*innen erleben: als Literaturwissenschaftler*innen, als Oral-History-Forscher, Sportreporter, Mordkommission oder als Fanboys auf der Suche nach mythischen Dichter*innen.

    Die unübertroffen lässige Art, mit der diese Souveränitätsverluste erzählt werden, obendrein in einem Verschiebebahnhof der Formate zusammenrangiert, wo sich Schelm, Abenteurer, Dichterin, Fascho, Zuhälter, Kommunistin und Borges-Figur transgenerisch tummeln, treibt natürlich doch wieder eine Sicherheit und Setzung in die Texte, die man bei live erzählten Transformationsautofiktionen nicht so hat. Diese lässige Art kommt schon von ihrer rhetorischen Natur her als Stärke rüber. Dass ein Toter diese Setzung vorgenommen hat, gibt ihr das Endgültige, das alle Liveliteratur nicht hat. Mit Knausgard und Maggie Nelson geht es ja irgendwie weiter. Dass die Sätze Bolaños eines Tages die Sätze eines Toten sein würden, tragen sie in ihrer Form vor sich her. Doch nun sind aber Aktenschränke und Hard Disks überfüllt von Versionen dieser Sätze. Es gibt nicht nur neue Romane sonder Zahl, sondern unzählige Spin-offs: Figuren, die man schon kennt, tauchen leicht abgewandelt erneut auf, Ereignisse nehmen ihren Lauf und dann doch einen anderen. Bei den drei Erzählungen der Cowboygräber sehen wir zahlreiches Personal wieder: vom faschistischen chilenischen Militärkunstflieger und Himmelschreiber Carlos Wieder (nomen est …) bis zum sogenannten Wurm, El Gusano, der schon einmal eine fast wortgleiche eigene Geschichte hatte. Es gibt wieder einen Belano, diesmal Rigoberto, und in der dritten Geschichte taucht schließlich ein guayanisches Alter Ego des wilden Detektivs auf, das von einer fast anagrammatischen Version von Édouard Glissant beeinflusst ist (Regis St. Clair). Das vervollständigt das Repertoire postkolonialer Intellektueller im Œuvre und schließt letzte Lücken.

    Manche Geschichten gehen zwar nicht zu Ende oder springen wilder hin und her, als es der Autor beabsichtigt haben dürfte. Aber auch diese Entscheidungen sind in ihrer verschmitzten Apodiktik so charmant wie unumstößlich. Jeder Satz ist so gültig wie das berühmte letzte Wort. Redigiert wird nicht. Ein Traum. Und doch gibt es auf der Festplatte der letzten Worte Hoffnung und Versöhnung: Wer in einer Version lapidar im Irrenhaus verschwindet, kommt in der nächsten tragisch ums Leben, die Todgeweihte aus der anderen Novelle, erfreut sich nun eines langen Lebens. Die letzten endgültigen Worte bleiben nur in der Form endgültig; der immer noch unfassbare Verlust des viel zu jung Verstorbenen wird von dessen posthumer Produktivität kompensiert – ohne dass man sich fragen muss: Was macht der eigentlich, hat der nicht gerade etwas Dummes unterschrieben, einen peinlichen Preis angenommen, einen debilen Diktator verteidigt, auf Twitter genöhlt oder sich über Cancel Culture aufgeregt? Macht der alles nicht.

  • Oswald Wieners Theorie des Denkens

    Thomas Eder/Thomas Raab/Michael Schwarz (Hg.): Oswald Wieners Theorie des DenkensGespräche und Essays zu Grundfragen der Kognitionswissenschaft. Berlin (De Gruyter) 2023, S. 75 , EUR 38

    Als ich Oswald Wiener das erste Mal live sah, um 1990, promotete er sein Buch Probleme der Künstlichen Intelligenz aus dem Merve Verlag mit einem Vortrag in der vollbesetzten Aula der Städelschule in Frankfurt. In der ersten Reihe saßen die bekannten Professoren, Hermann Nitsch schlief irgendwann ein. Die Rede hatte nichts mit Kunst zu tun, aber auch wenig mit den KI-Debatten von heute. Dennoch war es für Wiener selbstverständlich, eine Kunstschulaula mit Themen aus den Kognitionswissenschaften, der Mathematik, der Kybernetik und der Linguistik zu behelligen, von denen niemand dort einen Schimmer hatte. Wurde Wiener, der selbst in diesen Feldern ein Autodidakt war und erst im Berliner Exil mit Mitte 30 ein Mathematikstudium begonnen hatte, von der Fachwelt ignoriert, zu einer Kunstuni- und Selberdenkerszene abgedrängt, die weder sein Vokabular noch seine Erkenntnisabsichten verstand? Doch in dem neuesten, von drei „Schülern“ herausgegebenen und mitverfassten posthumen Band mit Texten, Interviews und einem Glossar, Oswald Wieners Theorie des Denkens, zeigt sich ganz lässig, auch dank autobiografischer Bemerkungen Wieners, dass und wie im starken Sinne künstlerische und ästhetisch-theoretische Probleme ihn direkt zur Frage nach dem Bau des Bewusstseins führten. Es gab keinen Bruch nach der Verbesserung von Mitteleuropa, sondern eine Kontinuität.
    Dass Wiener sich eigentlich schon immer damit beschäftigt hat, wie Kognition jenseits „sprachlicher Krücken“ funktioniert, hängt also genau damit zusammen, dass Kunst beansprucht, eine besondere, hervorgehobene Sorte von Bewusstseinsvorgängen auszulösen oder von diesen hervorgebracht worden zu sein. Kunst wird so zum Kardinalproblem des menschlichen Narzissmus, keine Maschine zu sein und auch von keiner ersetzt werden zu können. Wieners Antwort auf diesen uralten Verdacht war es, sich gewissermaßen mit dem Feind, in diesem Fall mit dem in den 1950er Jahren popularisierten Behaviorismus, zu identifizieren und zu überprüfen, ob die Gegenseite möglicherweise recht hatte: Ja, Maschinenmodelle können auch anspruchsvolle Tätigkeiten des Bewusstseins wie Musikhören oder Musizieren repräsentieren. Doch natürlich waren die Lösungen nicht nur des Behaviorismus viel zu schlicht; Wiener rechnet eigentlich allen Kandidat*innen vor, dass und wie sie keine haltbaren Vorschläge hinkriegen. Leute wie Max Bense und Abraham Moles, die seinerzeit eine mathematische Ästhetik betreiben wollten, haben ihn „geärgert“: Sie hatten ein viel zu simples Bild von ästhetischen Vorgängen.
    Andererseits wollte er auch den Humanisten und Anthropophilen nicht den Gefallen tun, die menschliche Kreativität wieder dem Reich des Unberechenbaren zurückzugeben. Die von ihm gegen jeden epistemologischen Mainstream immer wieder proklamierte Methode der Selbstbeobachtung sollte Ergebnisse hervorbringen, die alle geläufigen Gewohnheiten subjektphilosophischer und ichpsychologischer Verständnisse hinter sich lassen würden. Sie war eine Synthese aus einem aggressiven, die Alltagsvorstellungen vor allem von Kreativität negierenden Maschinendenken und Komplexitätsstolz: gegen humanistische Einzigartigkeitsillusionen (des Individuums wie der Gattung), aber mit den Mitteln einer intelligenten Beobachtung durch ausgerechnet jene Menschen. Am abstrakten und theoretizistischen Gipfel menschlicher Intellektualität warten Erkenntnisse, die auf angemessenem Niveau auf das mathematisch-naturwissenschaftlich Berechenbare genau dieses menschlichen Erkennens verweisen können.
    Dieses Programm hörten lange Zeit vor allem Künstler*innen, mit denen Wiener sich umgab. Er war ein charismatischer, zugewandter, dann wieder strenger Charakter, der Leute stundenlang fesselnd unterhalten, aber auch vorführen und ins Bockshorn jagen konnte. Martin Kippenberger und Dieter Roth etwa saßen an seinen Tischen, raumbeherrschende Charismatiker wie er selbst, jedoch auch Maria Lassnig. Sie hörten ihm gerne zu, so wie er ihnen, aber ich nehme nicht an, dass sie sich inhaltlich für seine Theorien interessierten oder sie verstehen konnten. Trotzdem waren gerade sie in ihren ausgefeilten, auch exzentrischen Individualismen für ihn anregender als ein kognitiver Normalfall. Vielleicht verhält sich ja diese Kommunikation unter Charismatiker*innen zur Argumentation wie Selbstbeobachtung zur Messung.
    Leute vom Fach, die dann doch auf Wiener reagierten, in meiner Erinnerung etwa eine Gruppe mit unter anderem Vilém Flusser und Friedrich Kittler im Wissenschaftszentrum NRW, waren beeindruckt, blieben aber ungläubig. Das hat sich in den letzten 20 Jahren vor seinem Tod geändert. Thomas Eder und Tomas Raab, zwei der Herausgeber des vorliegenden Bandes, haben schon 2015 bei Suhrkamp einen Reader zu Oswald Wieners Denkpsychologie vorgelegt, an dem auch Michael Schwarz, der dritte Herausgeber, bereits maßgeblich beteiligt war. Alle drei haben sich in Wieners eigensinnige Nomenklatur eingearbeitet und diskutieren informiert (man kann auch sagen: initiiert) dessen Programm. Im Gegenzug hatte auch Wiener seinen suprematistischen Ton abgelegt, mit dem er früher, wenn auch pointiert und heiter, anzudeuten pflegte, sich von Idioten umgeben zu sehen. Es ist anregend zu verfolgen, wie die früher ins Solipsistische lappende und auch vom Verfasser dieser Zeilen seit Jahren nie ganz verstandene „Denkpsychologie“ in Dialoge gebracht wird und auf Verständnisfragen tatsächlich handgreiflich erklärende Antworten hervorbringt. Eine Outsider-Science wird anschlussfähig, vielleicht zulasten ihres künstlerisch-performativen Anteils.

  • Die Echtheit in unserem eigenen Blick

    Als der Filmemacher, Aktivist und große Verweigerer Guy Debord, Anführer der ominösen Situationistischen Internationalen, 1967 sein Traktat Die Gesellschaft des Spektakels vorlegte, klagte er die modernen, kapitalistischen und hochindustrialisierten Gesellschaften des Westens vor allem wegen eines Makels an: der Unmöglichkeit von Erfahrung. In der kapitalistischen Kultur der Ware, in der der Tauschwert immer über den Gebrauchswert herrscht (und damit das Austauschbare über das Relevante, über die Erfahrung) hat sich ein großer sedierender Screen aus visuellen Ablenkungsmanövern gewissermaßen vor die Welt selbst geschoben, in der die so sedierten, entfremdet Schuftenden in Schlafstädten vor sich hin vegetieren – sie machen keine Erfahrungen mehr.

    Diese Kritik ist wie so viele Kritiken der Entfremdung, des Vermittelten, des Verlust einer vermeintlich unverstellten Welt sehr erfolgreich gewesen. Niemand wollte so leben, insbesondere die damals noch relevanten Mittelschichten und ganz besonders deren Kinder wollten etwas Anderes: Sie wollten Erfahrungen machen, die nicht vermittelt waren, sie wollten Erfahrungen mit dem Echten, dem Authentischen. Eines der Mittel der Wahl für diese Erfahrung war der Rock ’n’ Roll.

    Dass von Authentizität seit Jahrzehnten immer wieder so hartnäckig die Rede ist, hat drei Gründe, die sich gegenseitig verstärken. Zum einen gibt es im 20. Jahrhundert mit der massenhaften Verbreitung technisch aufgezeichneter Bilder und Töne eine medial verbreitete gewissermaßen technische Authentizität menschlicher Körperlichkeit. Echte Menschen haben in ihrer authentischen Körperlichkeit tatsächlich vor Kameras und Mikrofonen gestanden und sich lebendig aufzeichnen lassen. Damit treten technische (fotografische und phonographische) Authentizitätseffekte und die fast paradox mit ihnen verbundenen Stillstellung (Mortifizierung) von Lebendigkeit gemeinsam mit künstlerischen und stilisierenden Vorgehensweisen auf (Aussagen, Gestaltung, Dramatisierung).

    Das Foto sagt: Dieser Moment hat tatsächlich stattgefunden

    Die technische Authentizität wirkt auf Stil und künstlerische Strategie ein, unterwandert diese oder verstärkt sie, die Künstlerinnen und Künstler wissen dies oder nicht, meistens eher nicht. So entsteht eine das vergangene Jahrhundert und vor allem dessen zweite Hälfte künstlerisch und kulturell prägende Spannung zwischen dem Lebendigen, Unwillkürlichen, Zufälligen als (technisch geförderte) Attraktion und dem künstlerisch oder kulturindustriell Geplanten. Ein Foto ist zugleich ein Bild mit allen Konsequenzen (Komposition, Bezug zu anderen Bildern, Ähnlichkeit, Verweischarakter etc.) und ein reines Dokument (dieser Moment hat tatsächlich stattgefunden).

    Diese als Chance wie als Problem lange unbegriffene Spannung zwischen Gestalteten und Zufall musste, zur großen Verwirrung von Künstlerinnen und Künstlern, Produzentinnen und Produzenten, die Kriterien der Gelungenheit bei Kunstwerken massiv verschieben: vom erfolgreich durchgeführten Plan zum erfolgreich evozierten glücklichen Zufall; von Kunst zu Charisma, von Verführung zu Sexyness.

    Zugleich berührte sie sich mit der zweiten Ursache des dauerbrennenden Authentizitätsdiskurses, dem oben erwähnten Gefühl eines Verlusts von Erfahrbarkeit. Neben dessen linker, kapitalismuskritischer Variante, die diesen Verlust in der Warenform selbst lokalisierte, gab es eine schon ältere und in Deutschland erfolgreichere rechte Variante in der moderneskeptischen Kulturkritik, die in Technisierung, Massengesellschaft, Großstadt und, ja, Aufklärung die Ursachen des Übels erkennen wollte. Die Verwechselbarkeit und vor allem gezielt betriebene Verwechslung dieser beiden Diskurse hat sicher zu einigen großen Katastrophen des letzten Jahrhunderts beigetragen: im Denken, in der kulturellen Orientierung, vor allem in der Bildung politischer Ideologien.

    Wir haben den Job, authentisch zu handeln, uns selbst aufgebürdet

    Der zweite Grund für das Fortbestehen von Authentizität als Wert und Thema ist also die geheime Einigkeit in den unverstandenen Gemeinsamkeiten zwischen rechten bis völkischen Echtheitsverlustklagen und linker Warenkritik, deren Schwundstufen rechtem Gejammer oft nur zu ähnlich sehen. Als Theodor W. Adornoschon 1964 seine Kritik an dieser rechten Entfremdungskritik in ihrer erfolgreichsten und vielleicht noch am ehesten der Rede werten Form bei Heidegger formulierte, nannte er seinen Essay Der Jargon der Eigentlichkeit – die englische Übersetzung heißt The Jargon of Authenticity.

    Die modernen Kunstformen, die auf Aufzeichnungstechnologien basieren und so mit den Authentizitätseffekten echter aufgezeichneter Körperlichkeit zu spielen gelernt haben – Kino seit Nouvelle Vague, amerikanischer Experimentalfilm und Andy Warhol, Pop-Musik, dokumentarische Fotografie – waren auch stets in der Gefahr, beide Diskurse zu bedienen. Dabei ist das technische Mittel der Aufzeichnung ja beides: Dem Leben und seiner Kontinuität wird einerseits etwas gestohlen, die Entfremdung und Nicht-Authentizität wird durch die Zirkulation mortifizierten Lebens also eher noch gesteigert. Das Gestohlene wird aber so aufgezeichnet, dass es seiner Alltäglichkeit, Zufälligkeit enthoben wird, gewissermaßen ewig glänzt, zum unentfremdet wirkenden, weil als nicht inszeniert empfundenen Attribut und Ausdruck echter Menschen und der großen, erhabenen Kontingenz des wirklichen Lebens. Schauspieler legen sich daraufhin kleine Ticks zu (am Ohrläppchen spielen), um diesen Effekt des Zufälligen planen und beabsichtigen zu können, Rockmusiker entdeckten die Pose.

    Echter Schweiß, echte Tränen, echtes Sperma

    Diese Entwicklungen prägen gerade Formate wie Pop-Musik, aber auch Fernsehgenres wie Talkshows und Reality-TV bis heute. Nebenbei basieren ganze Zweige der Kulturindustrie wie Pornografie auf diesen Attributen: echter Schweiß beim Rock ’n’ Roll, echte Tränen in der Castingshow, echtes Sperma beim Cumshot. Dennoch ist dieser eben geschilderte Stand der authentizistischen Kompensation mit Echtheitsprodukten nicht der neueste.

    In einer Gesellschaft der Authentizität leben wir erst, seit wir jedes Gefühl dafür verloren haben, dass wir als Einzelne nicht nur deswegen keine Erfahrungen machen, weil uns die Tauschwerte regieren (oder in der rechten Variante: der „große Austausch“), sondern dass wir dieses Schicksal mit anderen teilen. Seit wir glauben, dass es keine kollektive, geteilte Erfahrung ist, sondern eine individuelle, private – oder zumindest seit wir so handeln, als sei das so. Seit wir den Job, authentisch zu handeln, ganz freiwillig nur uns selbst aufbürden, nicht den Beziehungen, Verhältnissen, gesellschaftlichen Lagen, in denen wir mit anderen gemeinsam leben.

    Dieses Verhalten wird von der zuständigen Gegenwartsdiagnose als Zwang zur Selbstoptimierung beschrieben oder auch als Narzissmus moralinsauer gegeißelt, es wird dem Internet und Instagram vorgeworfen oder der Vereinzelung und Entsolidarisierung im gegenwärtigen Kapitalismus. Und wie schon bei der vorherigen Stufe werden die gesellschaftlichen Ursachen als technische ausgegeben (und manchmal auch umgekehrt).

    Selten wurde die Mechanik dieser neuen Stufen zwanghafter Authentifzierung beschrieben. Sie läuft in etwa so: Weil ich das Gefühl habe, dass genau das, was unabdingbar zu mir gehört, mir genommen werden könnte, wie alle anderen zunehmend privatisierten und einst öffentlichen Bereiche des Lebens in der Stadt, steigere ich dessen Besonderheit, Einzigartigkeit, Coolness mit jedem Post, mit jeder kreativen Mikroidee ins hoffentlich Inkommensurable. Zugleich tue ich das aber in einem ganz bestimmten Modus von Einzigartigkeit, den ich der Warenform abgeschaut habe. Je mehr ich mich unverwechselbar mache, desto mehr steigere ich meinen Wert; und dieser Wert ist mein Tauschwert, meine möglichst hochpreisige Austauschbarkeit.

    Ich privatisiere mich, um nicht privatisiert zu werden

    Dass das Wort für die Exhibition meiner Einmaligkeit oft genug das Wort „to share“ und dessen Übersetzung „teilen“ zum Einsatz kommt, ist bezeichnend für das Paradox dieser aktuellen Stufe des Authentizismus: Aus Angst vor der Enteignung (Privatisierung) meiner Privatsphäre (dem Teil meiner Kommunikation mit der Welt, den ich verantworte) erhöhe ich meinen Anteil, meine Kontrolle. Ich privatisiere, um nicht privatisiert zu werden. Ich zeige meine Individualität auf Facebook, wo aber nun gerade meine – gewissermaßen – entindividualisierende Algorithmisierung stattfindet.

    Diese Steigerung des Versuches, sich selbst gegenüber authentisch zu werden, als lächerlich, tautologisch, masturbatorisch oder ideologisch zu denunzieren, ist nun aber auch leichter gedacht als tatsächlich legitim. Denn diese Kritik gehört selbst in ein authentizistisches Modell, das sich indes zu fein ist, seine Ideale preiszugeben; denn wenn ich meinen Mitmenschen misslingende und tautologische Modelle vorhalte, mit denen sie sich echt machen wollen, teile ich ja weiterhin den Wert des Authentischen. Ich folge einer uralten Kulturkritik, die bei den anderen, bei den am Leben Teilnehmenden, vor allem bei den jungen, weiblichen, nichtweißen Akteur*innen immer die Bereitschaft sich zu verkaufen erkennt und sich überlegen entweder, im weißen, bürgerlichen Fall deswegen fühlt, weil sie selbst nichts in den gesellschaftlichen Austausch einbringen müssen; in anderen Fällen auch, weil ihre Vertreter nicht einmal mehr etwas zu verkaufen hätten – geschweige denn in einem weiteren Sinne zu bieten hätten.

    Doch dass jede pauschale, aus allgemeinen Gegenwartsdiagnosen abgeleitete Kritik an der Bodenlosigkeit der Anderen jederzeit ins Ressentiment stürzen kann (und in netzkulturelle Verhältnisse, wo solche Kritik ad hominem meistens im Beleidigungsmodus erfolgt und auch zwangsläufig muss), ändert nichts an der Berechtigung der allgemeinen Befunde. Den damit lebenden Individuen muss dabei immer ein Recht des Einzelfalls zugestanden werden, der gerade in dieser persönlichen Frage des Selbstbezugs und des Einsatzes von Masken die Validität der allgemeinen Diagnose durchkreuzen kann.

    Gemeinschaft und Solidarität

    Das könnte zu einer anderen Maxime führen, die unter heutigen Bedingungen gültig werden könnte: Je mehr der Glaube an eine Rettung vor Vermitteltheit und Vermischtheit durch das Beharren auf Individualität und deren Versteinerung in Abweichungs- oder Konformitätsfetischismen unhaltbar geworden ist, desto wichtiger wird die Reformulierung der politischen Gemeinsamkeit und der langfristigen Solidarität. Dies ist tatsächlich – wenn auch oft in unterentwickelter und unterpolitisierter Weise – in Phänomenen wie vor zehn Jahren Occupy, dann der Solidarität mit Geflüchteten oder unlängst Klimaprotesten erkennbar gewesen, gerade bei denen, denen oft vorgehalten wird, nur weiter an ihrem Lifestyle nun auch mit politisch-moralischen Attributen zu basteln.

    Diese Bewegungen sind wichtiger als nostalgische Appelle an alte Formate von Gemeinsamkeit. Auch sogenannter Identitätspolitik wird im deutschen Feuilleton gerne vorgehalten, zu empfindlich zu sein, zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, zu „authentizistisch“ – dabei ist die politische Identifikation mit einer Gruppe ja nun gerade das Gegenteil davon. Nur für den sich als dezidiert außenstehend Identifizierenden gibt es keine Schnittmenge mit der „Identitätspolitik“ von Diskriminierten der verschiedensten Art. In der projizierenden Umkehr ihrer Borniertheit schreiben sie den anderen Authentizismen zu. Das Herausarbeiten der Schnittmengen ist aber, was man die Politik der Intersektionalität nennt. Deren Optimum wäre so etwas wie das je authentizitätsbezogene politische Problem der anderen Gruppe in solchen identitätspolitischen Koalitionen einzubeziehen – und von da aus wenn nötig auch den damit verbundenen Kulturrelativismus zu kritisieren.

    So sind es gerade künstlerische Arbeiten, die mit den Tools des dritten Authentizismus – nach bürgerlich-kulturpessimistischer Eigentlichkeit und selbstverwirklichenden Rock’n’Roll – den Smartphone-Fotos und YouTube-Selbstdarstellungen arbeiten. Das sind etwa die Filme von Arthur Jafa oder Khalil Joseph, die den digitalen Selbstdarstellungsfetisch nicht nur als Symptom, sondern auch als Chance lesen und als Tool einsetzen, als den Stand der Dinge, hinter den keine künstlerische Arbeit zurück kann, und dem natürlich zugleich massiv zu misstrauen ist – aber auf seinem (technischen, künstlerischen) Niveau.

    Die Errettung der äußeren Wirklichkeit erfolgt nicht mehr durch den dokumentarischen Blick auf ihre materiellen, noch allein durch den dialektischen auf ihre ideologischen Bestände. Sondern durch die Linsen, die sich die Subjekte vor die Subjektivität geschnallt haben, um ihre Echtheit im eigenen Blick, im eigenen fremden Blick auf sich selbst zu implementieren. Nicht mehr ein großer Screen steht vor der Wirklichkeit. Sondern ein großer Spiegel, in dem der Screen sich spiegelt – und in dem sich diejenigen spiegeln, die in ihn hineinschauen.

  • Je kleiner der Mensch, desto größer die Welt

    Das nächste Mal kommt wieder das Denken der Straße und der Stadt zur Welt. Heute die Theorien von Kindern. Die machen aber nur Theorien, wenn sie genügend Vertrauen zu Haus und Garten entwickeln. Schon früh beginnt man, sich die Welt zu erklären. Die ersten Theorien sind von schon vorhandenen Lehrgebäuden noch wenig beeinflußt. Man mag die Eltern nach Gott und dem Tod fragen, aber da man keine wirklich befriedigenden Antworten erhält, begreift man, daß es nun von den eigenen Erklärungen abhängt, ob man sich gegen die bohrenden und ungeklärten Fragen ein bißchen Seelenfrieden verschaffen kann. Eine gute Theorie entscheidet nun darüber, ob man nachts schlafen kann.

    Erstaunlich ist, wie viele kleine Kinder in dieser Zeit diese Theorie entwickeln: Alle Menschen müssen sterben, okay, das kann man akzeptieren, es scheint wirklich so zu sein. Es gibt Erfahrungswerte. Aber dies trifft ja nur auf die Vergangenheit zu, vorwiegend auf alte Menschen. Ich bin aber der erste Mensch, der unsterblich sein wird. Dessen bin ich ganz sicher. Keine Ahnung, woher die Kinder das so genau wissen, aber wenn sie erwachsen sind, erinnern sie sich noch genau daran, diesen Gedanken gehabt zu haben.

    Kindliche Theoriebildung hat sehr viel mit Geltungsbereichen zu tun. Für wen oder was soll meine Theorie gültig sein? Da die soziale Differenzierung noch nicht weiter geführt hat, als Kinder, mit denen man spielen darf, von denen zu unterscheiden, mit denen man besser nicht spielen sollte, tendieren die Theorien der Kinder dazu, das ganze Universum erklären zu wollen. Auch wenn die Klassenkämpfe unter Kindern heute härter sind als zu meiner Kinderzeit: Es gibt noch keine Grenze für ihren Einzugsbereich. Je kleiner der Mensch, desto größer seine Welt. Kinder müssen Unendlichkeit erklären, Erwachsene machen sich Gedanken über den Unterschied von Mitte und Prenzlauer Berg. Und die Pointe einer Kindertheorie ist meistens eine punktuelle Einschränkung ihres Geltungsbereiches. Ein anderer kleiner Junge glaubte zum Beispiel, daß alle Frauen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, Männer werden. Seine Großmutter war aber die erste Frau, für die diese Theorie nicht galt.

    Eine meiner liebsten Kinderkosmologien ist inzwischen von einem berühmten Physiker – als denkbar – bestätigt worden. Alles passiert, was passieren könnte. Aber die Konsequenzen können uns egal sein, weil sie nur in einem von unendlich vielen Paralleluniversen stattfinden. Jedesmal, wenn etwas geschehen ist, das auch anders ausgegangen sein könnte, entsteht ein neues Paralleluniversum, jede knappe Entscheidung fällt auch anders und gebiert eine neue Welt. Unser Bewußtsein bleibt aber immer in der Welt, in der es für uns noch am besten ausgegangen ist. Wir bleiben immer da, wo es gutgegangen ist, und leben da weiter. Aber die Schicksale aller anderen um uns herum sind nicht immer die jeweils günstigsten. Wir gehen also davon aus, daß wir von diesen anderen nicht die Version sehen, die in der für sie besten Welt geblieben ist, sondern irgendeine zwischen bestmöglich und schlimmstmöglich. Nur das reflexive Ich lebt also in der besten der möglichen Welten – alle anderen je nach Zufallsverteilung in irgendeiner Welt dazwischen – jedenfalls von uns reflexiven Ichs aus gesehen.

    Der Widerspruch war immer der, daß, wenn ich in der besten möglichen Welt für mich lebe, die anderen, die das nicht tun, entweder nicht authentisch reflexive Ichs besitzen – oder daß es doch anders laufen könnte. Daß man nur bis zu einem bestimmten Punkt mit seinem Bewußtsein im richtigen Universum landet – und dann irgendwann doch nicht oder nicht mehr selbst entscheiden kann. Schließlich werden auch Bürgerkinder zuweilen krank. Muß man dann doch in das Universum, wo man mit dem Auto angefahren wird und an Krücken gehen muß? Oder kann man doch ewig auf der richtigen Seite bleiben, und die kleinen Kümmernisse sind immer noch bestmögliche Lösungen? Und kann man zwischen den auf verschiedenen Entscheidungen basierenden Universen kommunizieren?

    Jedenfalls hat vor ein paar Jahren in der „Zeit“ ein Outsider-Wissenschaftler, nein, keine Eso-Type, genau diese Kosmologie vertreten. In dem Artikel stand, daß die Mehrheit der Zunft zwar die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde, es gäbe aber auch ernst zu nehmende Kollegen, die das erwägenswert fänden. Natürlich meinten die nur den Paralleluniversumsteil. Meine Kinderkosmologie läuft aber ja im Prinzip darauf hinaus, daß „Ich-denken-Können“ zur Unverwundbarkeit und Unsterblichkeit führt. Daß leidende Mitmenschen irgendwie nicht ganz wirklich sind, Leid immer nur in der nicht endgültigen und nicht ganz gültigen Version des Universums vorkommt, derjenigen, gegen die sich das Bewußtsein entscheiden kann. Interessanterweise ist es bei Erwachsenen ja genau umgekehrt: Sie halten nur Leid für wirklich authentisch und können den anderen nur in seinem Leid anerkennen. Oft nicht einmal dann, seufzen jetzt viele. Seine Majestät das Kind lebt dagegen immer in „Truman’s World“ und denkt – auch diese Welterklärung ist ja bei Kindern immens verbreitet –, daß die anderen nur Staffage und Statisten in dem Film „Mein Leben“ sind. Wenn der Geltungsbereich meiner Theorie alles umfaßt, trifft er eigentlich doch nur auf mich zu. Alles für mich. So ähnlich ja auch der Tausend-Theorien-Autor Fichte.

    Am tröstlichsten wäre dann vielleicht doch die erste Theorie, an die ich mich erinnern kann. Das Leben nach dem Tode gleicht dem Leben davor. Das Leben auf der Erde ist nur eine Unterbrechung. Vor und nach dem Tode hält man sich aber in einer Welt auf, die aussieht, wie wenn man mit Legosteinen baut, aber ohne etwas Konkretes, ein Haus etwa, zu bauen, sondern wenn man ungegenständlich willkürlich, ja rein ästhetisch geleitet Legosteine aufeinanderschichtet. Die Ewigkeit – das sind abstrakte Legowelten. Japanische Architekten ahnen manchmal etwas von der Wahrheit dieser Theorie. Sie gilt nämlich überall, und man kann auch andere Steine benutzen, wenn sie nur entsprechend glatt sind. Alle diese Theorien stammen von weitgehend behütet aufwachsenden Kindern. Und denkt nicht jeder, auch der nichtjapanische Architekt, gerne so, als würde er von einer Welt ausgehen, in der er, weitgehend ohne lästige Nebenbedingungen, mit Häusern das Modell wie die konkreten Bedingungen von Glück schaffen kann – und damit die Voraussetzungen der hier referierten Theorien. Und führt diese Behütetheit irgendwie zwangsläufig zu Erinnerungen an und Hoffnungen auf abstrakte Ewigkeiten?