Von Zitierkunst ist in Joachim Stenders Diskurs in diesem Heft die Rede. Aber nicht zum ersten Mal in SOUNDS. Daß ein gewisses Virtuosentum im Umgang mit bereits festgelegten stilistischen Codes, mit Meisterwerken der Vergangenheit zu einem blühenden und vielleicht zum wichtigsten neuen Stil geworden ist, zeichnet sich mehr und mehr ab.
Gerade auf diese Weise hält sich New York weiter auf Platz Eins im Bereich historischer Entwicklungen. Phase eins war der Ausbruch des rebellischen, neurotischen Bohemien in atonale Regionen. Phase NO NEW YORK! Intelligenter Lärm gegen Rock’n’Roll. In Berlin wird diese Phase heute weiter am Leben gehalten. Phase zwei war ein Schritt gegen die Unverbindlichkeit, die meistens mit Lärm und Ego-Ausbrüchen verbunden ist. DNA entwickelte einen Stil, James White verschmolz sein Saxophon mit James Brown-Funk, Lydia Lunch graste Gil Evans und Musical-Traditionen ab, um sie mit ihrer Morbidität intelligent zu vergiften. Phase drei war verbunden mit der technischen Entwicklung vieler Musiker. Man war nunmehr in der Lage, richtig zu spielen. Und richtig heißt in Übereinstimmung mit den Rock’n’Roll-Gesetzen. Da man aber nicht so naiv war, zu glauben, man könnte nun losdaddeln wie Generationen vorher, entstand dieser Zitierstil, der sich die bedeutungstragenden Grundmuster diverser überlieferter Spielweisen zunutze machte und für eigene Zwecke einsetzte. Zur Phase drei gehören die Raybeats, die Lounge Lizards, die dBs und noch ein paar andere geniale Eklektizisten. Wichtige Voraussetzung für diese Musik, bei der der Musiker mehr Ingenieur von Pop-Geschichte als subjektiver Schreihals ist, ist die erfolgreiche Beendigung der Pubertät. Ein etwas distanzierteres Verhältnis zu all dem, was man früher so innig liebte.
Peter Holsapple und Chris Stamey, die Köpfe der dBs, sind Pop-Fans von hohen Graden. Ihre Musik wäre nicht denkbar ohne die intensiven Geschichtskenntnisse und die leidenschaftlich gelebten Pop-Fantasien, die die Jugend der dBs in North-Carolina bestimmte: „Für ein Konzert mit Roy Woods Wizzard bin ich 400 Meilen getrampt … Ich kann dir heut noch jeden Besetzungswechsel bei Savoy Brown nennen.“ (Pete Holsapple). Andere Idole lernten die dBs schließlich persönlich kennen, was ihren weiteren Werdegang entscheidend prägte. In den Jahren 77/78 spielten Holsapple und Stamey in verschiedenen N.Y.-Bands: Holsapple bei den kurzlebigen H-Bombs und Chris Stamey bei den Sneakers. Das frühe Schallplattenwerk der dBs umfaßt Solo-Singles von beiden Leadern, sowie eine EP der Keimzelle Sneakers. Bei diversen Arbeiten gehörte der Producer-Credit Alex Chilton, dem großen gemeinsamen Idol, der auch die erste dBs-Single produzierte und mit der Gruppe einen regen Kontakt unterhielt, „bis er nach Memphis verschwand, wo er wahrscheinlich gerade jetzt neben einer Flasche Whisky sitzt“ (Holsapple). Chilton, der als sechzehnjähriger Box Tops-Sänger („The Letter“) seine wilde, genialische Karriere begann, unterhielt in den frühen Siebzigern zusammen mit Andy Hummel für drei LPs die Gruppe Big Star, deren zweite LP RADIO CITY für die dBs absoluten Vorbildcharakter hatte. Big Star pflegte schon damals Tugenden, die erst heute die fällige Anerkennung finden und entsprechend von hellen Köpfen verarbeitet werden. Zu einer notorisch rauhen, zerrissenen Produktion gesellt sich ein stilistischer Eklektizismus, der von tief empfundenen Country-Balladen über deftigen Orgel-Beat-Pop, schrägen Soul, Velvet Underground-meets-Gram Parsons-an-einem-versoffenen-Texas-Morgen-Nummern bis zu mutiertem Blues-Rock reicht. Eine Musik, die sich permanent selbst übertreibt, ihre von Traditionen übernommenen Gesetze liebt, aber sie ständig bricht, sei es aus Inkompetenz oder aus Überschwang. Ein mit Narben und Bruchstellen überzogenes Netz aus bittersüßen Reminiszenzen, bewußten und unbewußten Zitaten, Verweisen – Metapop.
Für die dBs wirkte aber Big Star mit seinen rohen, offenen Produkten nur zu Beginn als Anregung, Meister Chilton nachzumachen, der sich ja auch selber nie auf ein Konzept einigen konnte und dessen viele Seelen ihn im Moment zu den wilden Blues/Rockabilly-Zerstörungsorgien von Tav Falcos Panther Burns („I don’t wanna be mistreaten by no bourgeoisie“) getrieben haben. Auch die dBs hatten noch eine eigene Geschichte der Pop-Musik zu schreiben, und auf die Dauer war es nicht mit Chiltons Lektionen getan. Das erste Album STANDS FOR DECIBELS bringt noch ein paar der Singles-Klassiker, aber in einem völlig verwandelten Sound. Die monatelange perfektionistische Arbeit trug vor allem Vorbildern wie den Beach Boys Rechnung: „Beach Boys-LPs wie FRIENDS, SMILEY SMILE oder PET SOUNDS sind vom Arrangement, der Produktion und den Melodien her absolut einmalig und unerreicht. Eine Musik, auf die sich Chris und ich einigen können. Eigentlich ist er eher der Tüftler von uns beiden, er hat Harmonielehre studiert und konstruiert Melodien sehr bewußt, während ich mehr von Rock’n’Roll-Tradition zehre“, meint Peter Holsapple.
Doch umfaßt der Geist von STANDS FOR DECIBELS weit mehr als nur die Rekonstruktion der Beach Boys-Brillianz. Der Reiz der Platte besteht eher in der Mischung, im Zusammenwirken von lustvollem Aufgreifen eines bereits bestehenden Stils und dem Durchbruch der eigenen, noch sprachlosen Leidenschaft. Was alles zum Vokabular der dBs gehört und wie flexibel sie es organisieren, zeigt dann ein Live-Auftritt, Samstagnachts gegen drei in New Yorks „Peppermint Lounge“, die zu diesem Zeitpunkt mit eher konservativen Fun-geilen Teenagern aus den Vororten gefüllt ist, die sich von der Tanzfläche die Lunge nach „Rrrrockandrrrooll“ heiser schreien. Man konnte befürchten, daß in dieser Atmosphäre kein Mensch einen Nerv für den Filigran-Pop der dBs hat. Aber die meistern die Situation auf ihre Weise. Etwas kraftlos schlurfen sie auf die Bühne, scheinbar ohne Angst vor dem Löwen in der Höhle oder den Hexen des Kessels. Die vier z.T. recht langhaarigen Figuren bauen sich in aller Ruhe vor ihren Instrumenten auf, bis Peter Holsapple mit einem Riff auf der Gitarre einsteigt, das hier alle kennen: „Up Around The Bend“ von Credence Clearwater Revival. Und für einige Momente verschmilzt nicht nur seine Erscheinung mit dem Aussehen der großartigen Fogerty-Brüder, der ganze Song wird in Sound und Arrangement bis hin zur Stimme an das Original angelehnt. Das Publikum hat seinen „Rock’n’Roll“ und die dBs nützen ihren Überraschungscoup aus, um das Publikum über die rockigeren Nummern der zweiten LP REPERCUSSION langsam in die dBs-Welt einzuführen.
„Vieles erklärt sich dadurch, daß wir aus einem ganz isolierten Nest in North Carolina stammen und uns zwar enorm intensiv, aber aus der Ferne mit Pop beschäftigt haben, da entstehen ganz andere, leidenschaftliche Beziehungen zur Musik. Wir kommen auch heute besonders gut an, wenn wir an Provinz-Colleges spielen. In North Carolina entsprechen die Menschen eben nicht so den Großstadt-Stereotypen. Da, wo ich herkomme, gibt es zum Beispiel so einen Typ, das ist ein ganz reaktionärer Redneck, ein versoffener gewalttätiger Kerl, der Rote und Schwule gern abknallen würde. Neulich hat er sein Herz für BowWowWow entdeckt und jetzt läuft er mit einem Matthew Ashman-Irokesen-Schnitt herum.“ Peter Holsapple stellt sich als der erste Mensch heraus, den ich in diesem Business treffe, der Van Dyke Parks nicht nur kennt, sondern ihn auch, wie ich, für einen der fünf größten Musiker der Gegenwart hält. „Wir warten natürlich auch seit sieben Jahren auf seine vierte LP, aber zwischen SONG CYCLE und DISCOVER AMERICA waren auch vier Jahre, und als wir ihn mal in LA besucht hatten, haben wir den Eindruck bekommen, daß er an etwas ganz Großem arbeitet. Er hat ja einen Teil der Musik von ‚Popeye‘ gemacht und er tritt auch einmal kurz als Pianist auf.“
Peter Holsapple und Chris Stamey, vor allem ersterer, arbeiten auch als Musikjournalisten, vorzugsweise beim „New York Rocker“. Im Moment macht Peter ein Buch, das, wie die „Golden Turkey Awards“ fürs Kino, die schlechtesten Platten der Rockgeschichte zusammenfaßt. Fan, Analytiker, Beobachter – der Typ des Pop-Musikers entfernt sich immer mehr von „Man-we-play-our-music-don’t-ask-me-about-politics“-Typ vergangener Jahre. Pop ist zu einer Sprache geworden, die man weder mit der Muttermilch („entweder fühlst du es oder du fühlst es nicht“) aufsaugt, noch einfach durch die Ausbildung in Sachen Musik, Klang und Töne, Harmonien und Dissonanzen beherrschen kann. Pop ist mehr. Unschuld kann nur noch durch Besessenheit gerechtfertigt werden. Und Lärm ist kein Fortschritt, sondern Dada-Revival.

