Die Wahrheit ist immer dröge

Die Hitler-Tagebücher sind also definitiv falsch. Aber: Ist der „Stern“ echt? War er’s je? Zu welchem Ergebnis käme das BKA (das das angebliche Diktatoren-Diarium zuerst für gefälscht erkannte) bei genauer Prüfung der bunten Illustrierten-Welt? Ist die weltweit mit Gelächter aufgenommene Provinz-Presse-Posse um das Hamburger Parade-Blatt beispielhaft für die bundesdeutsche Presselandschaft?

Hitlers Tagebücher sind also nicht von Hitler. Sie sind von jemand anders. Man spricht von Fälschungen, aber sind es welche? Wenn im „Stern“ Hitlers Tagebücher erscheinen, sind das „Hitlers Tagebücher im Stern“, egal ob Hitler, Peter Koch, Fischer-Kujau, der Osten, John Le Carré, Ernst Stavro Blofeld oder Martin Bormann sie geschrieben haben. Sie fügen sich nahtlos in den „Stern“-Kosmos ein, wie die Kinder vom Bullenhuser Damm, die Feststellung Eric Claptons, Blues lasse alles vergessen, was an neuen Wellen die Gehirne überschwemme, die sanfte Aufmüpfigkeit gegen klerikalkonservative Exzesse in Bayern, BRD und anderswo, die Feststellung, die Elbe sei verschmutzt und nicht verschmutzt, und was sonst das pluralistische Potpourri des Wochenblatts ausmacht. Adolf H. oder Andi Z. – wo ist der Unterschied?

Nun, der Unterschied ist, daß der „Stern“ vergessen oder zu sehr damit gewuchert hat, daß Hitler immer noch ein irrationaler Bereich der pluralen Mediendiktatur ist, und daher wird, wenn es um ihn geht, die Notbremse gezogen und die Frage nach der Echtheit gestellt. Hitler ist heavy, und daher entziehen die Medienorgane sich gegenseitig das stillschweigend vereinbarte Einverständnis, daß sie nämlich der Simulation des einen wie des anderen Organes nur auf dieser Ebene, der der Simulation eben, begegnen. Plötzlich rufen sie Mediennotstand aus und suchen nach einem Tieferen, einem Referenten, nach der Echtheit. Täten Sie’s auch bei anderen „Stern“-Feldzügen, dann wüßten sie längst, was sie natürlich längst wissen, aber nicht wissen wollen: Nichts ist echt, weder im „Stern“, noch in der „Tagesschau“ noch sonstwo. Aber wer prüft schon die „Stern“-Modeseiten, die in streng festgelegten Zyklen ein ums andere Mal verkünden: „Man kann wieder…“ (z.B. in Omas Kleiderkiste wühlen. Auch Frauen tragen Hüte, auch Männer Make-Up)? oder die anderen Wahrheiten: Die Sexualität ist nicht/doch befreit, die Jugend schlimmer/besser als ihr Ruf, Arbeitslosigkeit ist bei Jugendlichen besonders schlimm, Fußball wird immer brutaler. Man kann wieder Strapse tragen.

Ist das echt? Kann man das wirklich? Wessen Stimme spricht da? Und zu wem? Und warum tut sie das? Vielleicht darf das jetzt alles als echt gelten, weil Hitler sich als James-Bond-Figur entpuppt?

Das klassische System von Autoren und verantwortlichen Redakteuren hat schon Anfang des Jahrhunderts nicht mehr ausgereicht, Urheberschaft und Dynamik in der Welt der Phrase ausreichend zu erklären. Irre wird es aber, wenn dieser gut funktionierende, sich selbst erhaltende Phrasenkosmos mit etwas in Beziehung gebracht werden soll, dessen Existenz er ständig behauptet und für seine Legitimation heranzieht: die sogenannte Wirklichkeit. Die zu referieren die Phrase vorgibt und die es natürlich genausowenig gibt wie die Wirklichkeit der Wissenschaft oder anderer, dem Journalismus vergleichbarer, auf permanente Selbstlegitimation angelegter, geschlossener Systeme.

Durch diese Umstände brachte der „Stern“ etwas zustande, wofür wir ihm dankbar sein können: eine Sternstunde bundesdeutscher Medien, aus der eine Menge zu lernen war. Da gab es zum Beispiel den Clash Wissenschaft versus Journalismus. „Stern“ Chefredakteur Peter Koch hatte sich im TV diversen Hitler-Forschern zu stellen. Hitler-Forscher der Sonderklasse, 1a-limitierte Auflage mit Goldrand, durch akademischen Werdegang hundertfach geehrt und veredelt. Und siehe da: Der schräge Koch, von dem ich weder einen gebrauchten Kühlschrank kaufen, noch mir eine Altbau-Wohnung ohne Bad vermitteln lassen würde, hatte keine Mühe, die Wissenschaftler mit ihrem öden, tonnenschweren, dickflüssigen Skeptizismus alt aussehen zu lassen.

Was diese Herren vortrugen, folgte dem folgenden Prinzip. Entweder finden wir in den Tagebüchern etwas, was wir noch nicht von Hitler wissen, dann sind sie, da wir ja schon alles von Hitler wissen, schließlich sind wir limitierte 1a-Hitler-Forscher, eine Fälschung, oder wir finden nur das, was wir ohnehin schon von Hitler wissen, dann sind sie vielleicht echt, aber banal.

Danach richtete sich auch der Fälscher. Er propfte die Tagebücher dermaßen mit Indizien für ihre Authentizität voll, daß das klügere BKA sofort begriff: Die Dinger müssen falsch sein. So ein authentischer Hitler kann Hitler gar nicht gewesen sein. Der „Stern“ propft seine Artikel ja auch sonst immer mit dermaßen vielen Authentizitäts-Indizien voll, daß das BKA, legte man ihm das Hamburger Wochenblatt zur regelmäßigen Begutachtung vor, sich sicher auch schon gewundert hätte, wie brüllend authentisch diese Welt wäre, wenn sie so wäre, wie sie im „Stern“ erscheint.

Aber auch Theo Sommer sagte unfreiwillig etwas Richtiges zur Fälschungsarie: „Journalismus ist in jedem Falle ein schwieriges Gewerbe. Die Reize extravaganter Formulierungen sind oft verführerischer als die kargen Pointen, die sich der Wahrheit abringen lassen.“ Übersetzen läßt sich dieses umgekehrte Credo, nach dem Sommer sein Blatt „die Zeit“ zu führen pflegt, deren Co-Herausgeber der bis dato doch immer ganz flott formulierende Ex-Bundeskanzler gerade aus unerfindlichen Gründen geworden ist, so: „Wer dröge schreibt, sagt die Wahrheit, wer schreiben kann, ist ein gewissenloser Revolverjournalist, Fälscher, Hochstapler oder noch was Schlimmeres und heißt Thomas Mann.“ Der Fälscher richtete sich auch in diesem Punkt nach den Credos der liberalen Presse: Er schrieb so dröge, daß den BKA-Beamten der Text aus den Ohren herauskam. Ein schriller Hitler- und Schriften-Experte aus den USA meinte gar, wenn der Führer wüßte was der „Stern“ ihm da in den Mund legt, wäre die gesamte Redaktion ins KZ gewandert.

Dabei war die zentrale Figur der Geschichte, der angeblich Nazi-Besessene Heidemann, gar nicht unbrillant, eine Geschichte seiner bizarren Recherchen und den damit verbundenen gelockerten Schrauben scheint nach Andeutungen von „Spiegel“ und „Tagesthemen“ weitaus mehr Konturen und literarischer Genuß zu versprechen, als die im Theo-Sommer-Verfahren gefälschten Tagebücher.

Wie dem auch sei: Die Hitler-Forscher aus dem Fernsehen gingen eh noch einer Schritt weiter: Egal ob echt oder unecht, Hitler dürfe man sowieso nicht publizieren, schließlich müsse man an die Opfer vom Bullenhuser Damm und die anderen Greueltaten des Faschismus denken. Und meinten damit, daß Hitler im „Stern“ für Wissenschaft eh nur zwei Dinge bedeuten kann: entweder einen Job als Gutachter oder Berater, was hier nicht in Frage zu kommen schien, oder aber, daß die Leute Hitler für Dreimarkfünfzig am Kiosk bekommen, statt die drögen Schwarten der 1a-Goldrand-Forscher kaufen zu müssen.

Denn so sind sie seit über 30 Jahren, unsere liberalen Antifaschisten: Unter Krokodilstränen auf ein unbeschreibliches Grauen am Horizont der Geschichte deuten. Vielleicht ein wenig auf die Notwendigkeit der Bewältigung (= dauernde Vernebelung) verweisen, die sie in Lohn und Brot setzt. Die den Klassiker „Rot gleich Braun“ bemühen oder das alte Lied vom unbeschreiblichen Grauen singen. Nur keine Analyse; zeigt DDR-Dokumentarfilme!

Epilog I

Dieser Kommentar wurde geschrieben in Würdigung dessen, was den „Stern“ und andere sozialliberale Presseerzeugnisse in den letzten dreizehn bis sechzehn Jahren ausgemacht hat. Inzwischen hat es einen hausinternen Rutsch gegeben, und Henry Nannen scheint geahnt zu haben, daß die „Ich habe abgetrieben – bin gegen die Todesstrafe – boykottiere die Volkszählung – und heiße „Stern“ Inge Meysel“-Mentalität nicht mehr gefragt ist, daß der „Stern“ seine Rolle als Zentralorgan des Sozialliberalismus nicht weiter spielen konnte, und hat sich zu der außergewöhnlichen Maßnahme entschlossen, statt auf Hardcore-Opposition auf Anpassung zu schalten. Mit Ernst Stavro Blofeld (gerüchteweise) Peter Scholl-Latour, (das wandelnde Schreckbild des Gaullismus) und Johannes Gross (bekannter, apfelförmiger Schlallumeier) soll die Chefredaktion von amtlich bekannten Rechten übernommen werden. Leute wie Gross, der die sozialliberalen Zeiten in der selbstgeschaffen ökologischischen Nische überwintert hat, die sich konservativer Intellektualismus nennt, dessen einziger Vertreter er war, der originelle Mensch, und der französische Kolonial-General Scholl-Latour sind nicht etwa nur Journalisten-Profis, die ihre technischen Fähigkeiten in den Dienst eines jeden Konzeptes von Zeitschrift stellen könnten. Sie sind Gesinnungstäter, Überzeugungsreaktionäre, unter deren Ägide der „Stern“, wie wir ihn kannten, als klassiche pluralistische Vernebelungsmaschine, umschlagen dürfte in ein noch schlimmeres, eine historische Epoche früher einzuordnendes Rechtsblatt.

Epilog II

Gestern war dann Demonstration und Kundgebung mit Gewerkschaft und solidarischen Medienfiguren (praktisch das jeder Journalist, außer Springer-Journalisten. Und die sind es auch.) im „Stern“-Streit. Ein Hauch von Revolte wehte, durch einige heftige Böen von der nahegelegenen, stark besegelten Alster unterstützt, über die kleine Versammlung vorm „Stern“-Building. Natürlich nicht wirklich, aber für dermaßen gesetzte und staatstragende Menschen wie es „Stern“-Redakteure in der Regel sind, müssen Vorgänge wie Redaktionsbesetzung und das Aushängen von Solidaritätsadressen in klassischer Wandzeitungsmanier ganz schön abenteuerlich wirken, sie werden noch ihren Enkeln davon erzählen, wie sie an den Grundfesten des Kapitalismus gesägt hätten. Natürlich wurde Henri Nannen von keiner aufgebrachten Meute und von keinem Sondergericht füsiliert, und niemand wollte Punk Kujau teeren und federn, und auch sonst sorgten die Veranstalter IG Druck & Papier und die im Durchschnitt eher phlegmatische Mentalität der Redakteure dafür, daß alles gesittet und dröge zuging. Keine Brandreden, alle waren sich einig und nannten sich „Kollege“ und alle von Peter Härtling bis zu einer DKP-Frauenvereinigung hatten eine herzliche Solidarität gewünscht. (Die DKP ekelt sich vor gar nichts.)

Ein „Kollege“ (also ein anderer freier Journalist) versuchte mich von der Notwendigkeit der Solidarität mit der „Stern“-Redaktion zu überzeugen, indem er irgendwas von großen und nicht ganz so großen Haufen Scheiße redete, zwischen denen man angeblich die Wahl hätte. Ich erwiderte, daß der ganze Vorgang, wie auch immer er ausgehen mag, nur der Glorifizierung des „Stern“ dienen könnte: Wie sind sie doch nun immer engagiert gewesen! Dann schlägt man das Blatt auf und liest, Rock’n’Roll sei der reine Sex. Ob das nun Scholl-Latour oder Henri Nannen verantwortet, ist doch völlig gleichgültig, große Scheiße ist es allemal. Auf die gleiche Weise könnte man übrigens Springers „Welt“ zum „Ami du Peuple“ stilisieren: Der Alte bräuchte nur in einem Anfall von Senilität irgendeinen amtlich bekannten Neo- oder Alt-Nazi zum Chefredakteur zu küren, und alle Welt würde jammern, wir wollen unsere alte rechtskonservative „Welt“ zurück. Unverschämter Rechtsputsch, Pressefreiheit bedroht, Solidarität mit Walden, Kremp und Löwenstern! Alle Giftspritzer wären plötzlich die Honorität in Person, jeder Geiferer ein engagierter Volksheld.

Jetzt haben sie sich einen Kompromiß „erkämpft“ (großer Erfolg der Gewerkschaftsbewegung): Gross kommt nicht (nur in den Vorstand), Scholl-Latour, der „Sohn der französischen Revolution“ (S-L über sich selbst) kommt. Au Backe, am Ende Egalite auf dem Affenfelsen? Alle Affen werden Brüder? In Freiheit?

O.K. Natürlich war der „Stern“-Putsch ein Angriff auf die „Pressefreiheit“. Aber sich auf diese Formulierung einzulassen, heißt, auf den Betrug hereinzufallen, vorher hätte sie bestanden.