Ich habe gelesen

Klar habe ich. Ich frage mich nur, was Sie hören wollen. Ich muß an die Schule denken, wo es die Gattung des Leseberichts gegeben hat. Ja, mein Abitur-Aufsatz in Deutsch diskutierte Fragen des Lesens, wie, wozu, was, wie setzt man das um. Das, was von z. B. meinem Lese-Input sich umsetzen läßt, kann aber hier nicht interessieren, dieser Motor läuft ja immer. Vielleicht: welchen Kraftstoff braucht er in einer gegebenen Zeit, den er nicht umsetzen kann, sondern restlos verbrennt?

Es gibt drei Sorten der Lektüre. Die erste ist das Buch im Mantel, das wichtigste Buch einer Zeitspanne von zwischen zwei Wochen und zwei Monaten. Es kann noch so wichtig sein, wenn das Wetter wechselt, wird es oft im Mantel vergessen, der plötzlich dem Jackett weichen muß. Im Moment ist es Der Parasit von Michel Serres. Wirklich eines der besten Bücher, die je geschrieben wurden: letztes Frühjahr stand ich an der Sorbonne vor den Aushängen und sah nach, was er wohl gerade lehren würde. Da kannte ich den Parasiten nur aus bewunderter Leute Bibliothek, als das neue Ding aus Frankreich, das er kurz nach dem Anti-Ödipus mal gewesen sein muß. Wer aber bin ich, außer Parasit selbstverständlich (was ich inzwischen auch schriftlich habe, in einem Sendemanuskript des Bayerischen Rundfunks), daß ich mir erlauben würde, so einem Buch einen Aphorismus aufzudeckeln.

Dann gibt es das Buch neben dem Bett, das ist seit November Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre. Im Moment bin ich in den Wanderjahren an dieser Stelle: „Diesen verständigen Worten Beifall gebend löste die Versammlung sich auf; der Astronom aber versprach, Wilhelm in dieser herrlichen, klaren Nacht an den Wundern des gestirnten Himmels vollkommen teilnehmen zu lassen.“ Womit das Buch auf den Punkt gebracht ist, nämlich das, was ich daraus zu lernen bereit bin, wie schön es ist, als Spezialist einen Neugierigen in klaren Nächten an Wundern teilnehmen zu lassen, und wieviel schöner noch, von Spezialisten in klaren Nächten in Wunderwelten eingeführt zu werden, was ja jede erklärbare, abgeschlossene Welt erstmal ist (denn das Wunder ist ja immer das Erklärbare, nicht das Unerklärliche), und daß gerade in dunklen, unklaren Tagen wie diesen, wo der postmoderne Agnostizismus vor lauter Verzweiflung objektiv wissen und lernen kann und muß, bevor man damit anfangen kann, sich von teilweise berechtigten theoretischen Hangovers heimgesucht, mal vorübergehend in den Grübel-Blues fallen zu lassen.

Die dritte Lektüre nimmt die meiste Zeit ein, sie geschieht immer. Beim Fernsehen, beim Essen, in Straßenbahn und Flugzeug. Es ist das Lesen der Welt und dessen, was sie an Signifikanten so rumliegen läßt: Plakate, Aufschriften, Schrifttafeln, der Express auf dem Beifahrersitz des Taxifahrers, das Gespräch am Nebentisch (wo gestern immer vom „Literatur-Nobelpreisträger“ Elie Wiesel die Rede war, der angeblich Waldheim überführt hätte) bis hin zu den Büchern, die für Später oder Zwischendurch auf den unaufgeräumten Schreibtischen liegen bleiben. Ein peruanischer Diplomat erzählt der Zeitschrift Blitz, daß „compared to other Latin American countries, the poor Cuba is paradise“. Und Jean-Luc Godard fügt hinzu, daß er Lenin erst mit 35 entdeckt habe und daß sein politisches Engagement im Jahre 68 das eines Zehnjährigen gewesen sei, weil er erst zehn Jahre im Filmbusiness war. Was sich damit deckt, daß ich in letzter Zeit auch immer häufiger bei mir und bei anderen das professionelle und das Lebensalter in Beziehung setze. Dieses professionelle Alter gibt es wirklich und es muß mit den Jahren um einen je nach Beruf und Charakter verschiedenen Faktor x multipliziert werden, aber wenn man es nicht kennt, kann man schwere Fehler begehen. Dick Hebdige beschreibt in seinem neuen Buch i-D Magazine, postmoderne Philosophie mit Gothic-Punk: „Alle tragen schwarz und laufen mit kleinen schwarzen Semiotexte-Büchern herum – scheint die letzte übrig gebliebene Subkultur zu sein.“ Und einer ihrer Angehörigen war gerade bei mir zu Besuch, ein New Yorker, der sich ganz ernsthaft um die Pop-Kultur dieselben Sorgen machte, die wir uns in Europa vor fünf Jahren gemacht haben, während im amerikanischen Hinterland die vielversprechendste Pop-Kultur seit fünf Jahren gedeiht, aber nur von London aus, nicht von New York aus wahrgenommen wird. Die Chuck-Berry-Autobiographie soll von hohem literarischen Rang sein („viele Wortspiele“, aber dieser Mann hatte doch schon immer einen hohen literarischen Rang). „Das post-industrielle Großbritannien macht aus sich ein einziges, großes Museum und plötzlich leben wir alle in der Vergangenheit.“ Immer mehr Leute denken plötzlich darüber nach, in welcher Zeit man an welchem Ort lebt, ein immer größer werdender kultureller Jetlag lähmt und beflügelt jeden Austausch, würde die Lücke nicht immer größer, könnte ich ja jeden verstehen. Wir sehen alle dieselben Fernsehprogramme, aber es kommt immer darauf an, der wievielte Durchlauf von Bezaubernde Jeannie gerade dein wievieltes Verhältnis zu dieser Serie bestimmt.

Tom Wolfe erzählt im Interview zu seinem neuen 1000-Seiten-Hauptwerk The Bonfire of the Vanities von Pro-Khomeini-Studenten, die nach der iranischen Revolution das iranische Konsulat in New York stürmten und so beschäftigt waren, die 200 seriellen Farah-Diba-Porträts von Warhol zu zerschlitzen, daß sie vor dem Eingreifen der Polizei gar nicht dazu kamen, irgendwelche Wertsachen an sich zu nehmen. Was lernen wir daraus? Besser nichts derart, wie daß die Kunst von irgendwas ablenke oder daß Warhol ein Hofmaler der Herrscher gewesen sei, höchstens, daß die Bilder verdammt gut gewesen sein müssen, wenn sie den unmittelbaren Haß so korrekt auf sich ziehen konnten.

Wenn junge Ratten nicht mit ihrer Mutter aufwachsen, die sie mit ihrer feuchten haarigen Zunge unentwegt ableckt, scheiden sie ein gewisses körpereigenes Opiat nicht mehr aus, das für das Wachstum unerläßlich ist. FAZ-Behaviourismus, von der genialen „Natur und Wissenschaft“-Beilage. Sie weiß auch einen Rat (Rat, engl. = Ratte): Liebes-Simulation gegen Milieuschädigung, wenn man die jungen Ratten mit einem feuchten Pinsel mehrfach täglich streichelt, wachsen sie normal. Sowjetische Wissenschaftler wollen Gewächshäuser im All bauen, um das Problem der langfristigen Sauerstoffversorgung zu lösen, sie folgen damit einer Idee des russischen Wissenschaftlers Konstantin Ziolkowski (1857-1935), der dergleichen schon früher vorgeschlagen hat. Ob er wohl 1935 eines natürlichen Todes gestorben ist? Pawlow starb im selben Jahr und C.F. v. Weizsäcker fand heraus, „daß Energieerzeugung in den Sternen durch Kernreaktionen bei hohen Temperaturen erfolge“ (Steins Kulturfahrplan). Geldfälscher machen München zum Blütenmeer, bestätigt die Süddeutsche Zeitung die alte Ahnung, daß es da unten nicht immer nur um echtes Geld gegangen sein kann. Im Magazine for frequent travellers – Airport lese ich, daß Japan das zivilisierteste Land der Erde sei. Nirgendwo sonst könnten Frauen nachts so gefahrlos dunkle Seitenstraßen erkunden, nur eines könnten die Japaner nicht ab, wenn man sich öffentlich die Nase schnäuzt. Das aber wollte ich in diesem Flugzeug gerade tun, als ich des Japaners neben mir gewahr werde, der tatsächlich so zivilisiert ist, als einziger in diesem Flugzeug beim Start weder vor schamhaft versteckter Flugangst zu zittern (wie ich), noch unsensibel gelangweilt zu schlafen (wie alle anderen). Er liest ein Taschenbuch. Ich frage mich: Was ist Layout in Japan? Bedeutet die unterschiedliche Länge der vertikalen Schriftzeichen-Reihen, daß es sich um Gedichte handelt? Oder sind die Schriftzeichen so dicht, daß es sich um Absätze handelt? „Wahrnehmen und Entschlüsseln von Sprache ist nach den Gesichtspunkten der Informationsverarbeitung eine schwierige Aufgabe, die vom Gehirn bravourös erledigt wird. Wenn man einen Text verstehen will, müssen Informationen von geringer Abstraktionsstufe – die gedruckten Buchstaben – vom Gehirn aufgenommen und in abstrakte Informationen umgesetzt werden: die geschriebene Sprache wird decodiert. So ergeben sich schließlich die Gedanken des Autors.“ Wie kann der naturwissenschaftliche Teil so hinter dem Erkenntnisstand der Seite „Geisteswissenschaft“ hinterherhinken, wo in einem gut gemachten Resümé einiger Grundgedanken Jacques Derridas zu lesen steht: „Es sei verfehlt, den Übergang von Aussageabsicht zur Verschriftlichung als bruchlose Kontinuität anzusehen. Die im Innenraum des Subjekts vermutete Intention könne im Akt der Versprachlichung (in der Äußerung) dem Zwang von „Schrift“ (der Eigengesetzlichkeit von Zeichensystemen) nicht entgehen.“ Es gibt also keine „Gedanken des Autors“, zu denen man lesenderweise hinaufklettern kann. Es gibt nur uns, gebeugt über die Schrift. Die FAZ ist da genauso heilig wie die taz, wo ich von zwei Leuten lese, die wegen Abnahme einer größeren Menge von Exemplaren der verbotenen Druckschrift radikal schuldig gesprochen wurden, diese Zeitschrift verteilt haben zu wollen. Der eine Angeklagte wurde als „eher künstlerischer Typ“ eingeschätzt und daher zu nur vier Monaten verurteilt, die andere, wegen politischer Äußerungen vor Gericht, zu sieben Monaten. Was mich daran erinnert, wie bei den Punk-Unruhen im Hamburger Karolinenviertel, anno 80, die Polizei wieder wahllos einen Verdächtigen aufgriff und abführte und als sie um die Ecke Glashüttenstraße biegen wollte, um den Armen, der ein in der Gegend bekannter Künstler war, auf die wegen Folterungen berüchtigte „Punkerwache“ zu bringen, einem anderen stadtbekannten Pennerkünstler begegnete: „Was wollt ihr denn mit dem, der ist doch harmlos, der ist doch Maler“. Worauf die Beamten den Maler sofort frei ließen und an den Ort der Unruhen zurückkehrten, um sich einen anderen zu greifen.

Landeanflug in Düsseldorf, dieser Scheißtag nähert sich seinem Ende, permanente Lektüre bewahrt die Welt vor dem sofortigen Zerfall vor meinen Augen. In der Schrift wird alles kompatibel. Im Lufthansa-Bordbuch schreibt der bekannte Schriftsteller Hubert Winkels über die Stadt: „Und wenn traditionell jede Stadt einer Frau gleicht, dann ist Düsseldorf eher eine attraktive Mittzwanzigerin, verführerisch und klug; doch ins Herz sieht ihr keiner so schnell (und die 700 Jahre sieht man sowieso nicht).“

Zuhause beim Fernsehen: endlich Entspannung bei Steins Kulturfahrplan, die 50er Jahre: Ich wußte nie, daß Bayern einst von einer SPD/FDP/Bayernpartei regiert wurde, daß nicht die Jungs aus The Right Stuff, sondern ein Brite in den 50ern den Höhenrekord für Düsenflugzeuge hielt, daß der späte Ortega y Gasset ausgerechnet noch einmal Meditationen über die Jagd vorlegen mußte, war das bei ihm Jüngersches Insektenforscherdelirium? Man weiß es nicht, und warum ist das wichtig für mich oder Herrn Stein, der in der 87er Ausgabe noch immer von dem „Negersänger“ Nat King Cole spricht und in den 50er Jahren ein dermaßen ungeheuerliches Gewitter von kommunistischen Greueltaten über die Welt niedergehen läßt, den Senator McCarthy aber nur mit eineinhalb Eintragungen erwähnt, die von seinen Popularitätsverlusten handeln. Dafür sind in den letzten Jahren Jacques Lacan, Anselm Kiefer und Ivan Lendl neu dazugekommen. Erst 1955 wurde die Bertelsmann GmbH gegründet und 45 Prozent der Menschen mit Abitur lehnen die moderne Malerei „im Stile Picassos“ ab, bei denen mit Hauptschulabschluß sind es nur 32 Prozent. Am 6. November 1956 soll es zu einer krisenhaften Verschärfung der Beziehungen zwischen USA und UdSSR gekommen sein, die sogar die Schweiz veranlaßte, nach einer Friedenskonferenz zu rufen, und die Amerikaner, Eisenhower mit großer Mehrheit wiederzuwählen. Und Don Campbell, dessen zweiten „Bluebird“ ich noch heute als Corgi-Modell auf einem Altar stehen habe (der Arme verunglückte ’67 tödlich bei einem Rekordversuch zu Wasser), stellte seinen ersten Landgeschwindigkeitsrekord auf: 648 km/h. Mann ist das interessant. Alles läßt sich hinschreiben, Zahlen zuordnen, die von Jahr zu Jahr einen höheren Beitrag ausweisen (In roten oder in schwarzen Zahlen? Ist Geschichte Verschuldung oder Kapitalakkumulation?). Alles läßt sich aufeinander beziehen und vergleichen, wenn es mit den Buchstaben zu paktieren bereit ist. Jacques Rigaut war dazu nicht bereit, er vollendete fast nichts. Hinterließ „Dokument über das Unvermögen zu schreiben“. Schrieb: „Lebendig bin ich nur, insofern es sich um die Herztätigkeit handelt und um die äußeren Höflichkeitsformen.“ Wer Rigaut kennt, ist entweder in sein absolut sauberes Scheitern verliebt oder verachtet ihn dafür. Dabei ist es am hilfreichsten zu prüfen, was sein aussichtsloser Kampf abgeworfen hat, bevor er das Handtuch warf, um herauszufinden: wie geht und was bringt absolute Sauberkeit? In der 83 von der Edition Tiamat herausgebrachten Sammlung Suizid zu lesen, reinigt uns von den Verheerungen des planlosen Wissensdurstes. Eine Stunde mit ihm mußte noch hinein in diesen Tag. Die letzten Worte aber hat Serres, in der Kneipe vorgelesen:

Wir sind in uns selbst vergraben; unablässig und nutzlos senden wir Gebärden, Zeichen und Töne aus. Niemand hört zu. Jeder spricht, niemand versteht; die direkte oder wechselseitige Vorlesung, ihn kümmert nicht, ob man ihm zuhört, ein anderer ist jovial und gibt sich überlegen; damit die Aufmerksamkeit nicht erlahmt, würzt er das Zuhören mit seinem Humor; ein dritter, Choleriker, reckt seine ganze kleine Gestalt empor und terrorisiert seine Umgebung; sie alle spielen auf ihren vorbereiteten Instrumenten, die nach ihrem Eigennamen heißen. All das müßte eine Kakophonie ergeben, und ich gebe zu, es macht Lärm. Und Leibniz hat recht, die Monaden sind abgeschlossen, sie verstehen und hören einander nicht. Und dennoch kommt manchmal ein Gleichklang zustande. Die erstaunlichste Sache von der Welt ist, daß es zuweilen ein Zusammenspiel gibt, Verständnis, Harmonie.

Und davon handeln die Schallplatten, die ich jetzt noch hören werde.