Kajagoogoo: Die neuen Götter auf dem Teen-Olymp. Helden, Hits & Hysterie

1955 war es Elvis, 1962 die Beatles, 1969 Marc Bolan & T. Rex, 1976 die Bay City Rollers. Zufall oder Gesetzmäßigkeit, daß alle sieben Jahre eine neue Teen-Hysterie ausbricht? Jedenfalls scheint es 1983 wieder so weit zu sein: Kajagoogoo sind auf dem besten Wege, die neuen Götter auf dem Teen-Olymp zu werden. Allerorten kreischende Fans, verbissene Autogrammjäger, Scharen verschämter Mädchen vor dem Hoteleingang. Was ist an Kajagoogoo eigentlich dran? Schließlich machen auch Gruppen wie Duran Duran oder Spandau Ballet gefällige Popmusik, schließlich stimmt auch bei ihnen die Optik. Dennoch haben Kajagoogoo sie mit einem einzigen Hit aus dem Rennen geworfen. ME/Sounds versuchte, das Geheimnis der fünf Zauberlehrlinge zu ergründen.

„Es wird langsam Zeit, daß sie uns ernst nehmen.“ Wer? Wen? Die Presse Kajagoogoo natürlich. Stuart Neale, Keyboarder der Teen-Idole, fühlt sich reduziert und ungerecht behandelt. Ich erzähle ihm von der LP-Kritik, die Julie Burchill im englischen „New Musical Express“ geschrieben hat. Sie fand die Gruppe furchtbar, ließ kein gutes Haar an ihr, weder am Image noch an der Musik, meinte aber dann zugestehen zu müssen: „Man darf sie nur aus einem Grund nicht aufhängen: Kleine Mädchen kreischen, wenn sie Kajagoogoo sehen.“

Stuart: „Normalerweise ist es umgekehrt: Die Kritiker finden unsere Musik ganz okay, aber sie glauben nun mal, daß an einer Band, die von Teenagern bejubelt wird, irgendetwas faul sein muß.“

Stuart ist der ruhige, nachdenkliche Typ bei Kajagoogoo, ganz Musiker, gar nicht Star. Im selben Hotelfoyer, ein paar Meter weiter, sitzt Nick; nach Limahl, dem Sänger, der zweitgrößte Mädchenliebling in der Band. Gleichzeitig auch, wie man aus der Lektüre wohlbekannter Teen-Zeitungen erfahren durfte, ein derart religiöser Zeitgenosse, daß er die Bibel stets im Gepäck führt. Ununterbrochen grinst er – ob angestrengt oder aus echter Amüsiertheit, kann man bei der Entfernung nicht sagen.

Stuart wirft ihm einen sinnierenden Blick zu. Man kennt sich schließlich schon seit Jahren, ackert, kämpft, müht sich ab und findet sich jetzt in einem Hotel wieder, wo ein paar Tage später David Bowie höchstpersönlich Hof halten wird.

Die Stunden bis zum ersten Aufritt auf dem europäischen Kontinent vertreibt man sich mit ein paar ruhigen Interviews mit der geneigten Presse. Stuart leidet mehr ais andere Band-Mitglieder darunter, daß der Teen-Mania-Aspekt bei Kajagoogoo so im Vordergrund steht. Das Quartett Art Nouveaux, Kajagoogoo ohne Limahl, hatte jahrelang versucht, beim seriösen, Experimenten aufgeschlossenen Publikum Anklang zu finden. „Wir waren auch damals schon sehr imagebezogen. Wir trugen eigens für uns geschneiderte Bühnenanzüge, aber das paßte wieder nicht mit unserer avantgardistischen, sehr instrumentalen Musik zusammen.

Wir beschlossen also, uns kommerzielleren Klängen zuzuwenden und einen Sänger zu engagieren. Wir gaben eine Anzeige auf und entschieden uns noch am ersten Tag für Limahl.“ Das süße Ding, das trotzdem schuftet wie ein Profi-Star, der seit Dekaden im Rampenlicht steht. Sein ganzer Tag ist von vorne bis hinten auf optimale Star-Effektivität hin durchgeplant. Jedes einzelne Autogramm wird ernst genommen, jedes kleine Mädchen wie ein noch so wichtiger Journalist behandelt. Verantwortung.

Stuart sieht noch eine andere Verantwortung: „Die Kids, die zu unseren Shows kommen, sind mit elektronischen Klängen aufgewachsen. Synthesizer sind für die total selbstverständlich. Wir sind für viele möglicherweise die erste Erfahrung mit richtigen Instrumenten, mit musikalischem Handwerk.“

Gute Handwerker sind die vier, davon kann man sich nicht nur auf der Bühne überzeugen. Wenn mir je eine Schallplatte von Kajagoogoo richtig gefallen hat, also so gefallen, daß ich sofort in den nächstbesten Plattenladen gegangen wäre, um sie zu kaufen, so war das die Maxi-Version von „Too Shy“ mit ihrem verschlungenen, baßlastigen Intro.

„Wir wollten einmal eine andere Art des ‚Maxi-Remixes‘ versuchen. Die meisten langen Versionen sind ja so aufgebaut: Song/Percussion – Mittelteil/Wiederholung des Songs. Wir haben dagegen versucht, den Song, den man als Hit ja schon kannte, ganz nach hinten zu stellen.“

Was auf angenehme Weise Spannung erzeugt: Innerhalb des langen Intros sind sparsam kleine Signale eingeflochten, die auf den bereits bekannten Hit verweisen, ihn aber nicht deutlich zu erkennen geben. Diese Signale häufen sich und lösen die Spannung schließlich im Refrain auf.

Ansonsten war mir die Kajagoogoo-Musik auf der LP WHITE FEATHERS allenfalls als „clever“ aufgefallen. Offensichtlich ist das Konzept, einerseits weich, wattig und schmusig zu klingen und andererseits unter all den Daunenfedern Rhythmen und Riffs zu verstecken, die auch andere als engumschlungene Tänze möglich machen. Ob sie die gleiche clevere Balance auch live an den Tag legen würden, blieb indes abzuwarten…

Der Sommer hatte gerade neue Höhepunkte erzielt – und keiner, der nicht ein wirklich unüberwindliches Bedürfnis verspürte, eine Gruppe sehen und hören zu wollen, hätte an einem solchen Tag freiwillig mehrere Stunden in einer stickigen Halle verbracht.

Dennoch war Kajagoogoo ausverkauft. Und die Luft gar nicht so schlecht, wie ich mit leichte Verwunderung feststellte. Ein Bekannter machte mich aufmerksam: „Hier raucht keiner.“ Tatsächlich, keine dicken, bläulichen Schwaden, auch keing Bier- und Alkohol-Dünste, stattdessen überall frische, prickelnde Limonade. Kein gewöhnliches Konzert, soviel stand fest.

Ich habe Depeche Mode gesehen, ich habe Culture Club, Human League und Tears For Fears gesehen – alles Gruppen also, für die die jungen und die ganz jungen Mädchen schwärmen. Doch das hier war etwas anderes: Nicht nur, daß die Mädchen diesmal 99 Prozent des Publikums stellten, (was Böswillige dem Umstand zuschreiben könnten, daß in Kajagoogoo-Konzerte eben genau die Mädchen gehen die [noch] keinen Freund haben); es waren auch ganz andere Mädchen als die, die etwa ein Tears-For-Fears-Konzert besuchen. Nicht selbst- und modebewußte neuzeitliche Prinzessinnen warteten cool auf den Auftritt ebenso cooler Jungs; statt dessen aufgeregte, von einem Fuß auf den anderen tretende Sixties-Girls, die dem Erscheinen ihrer fünf grinsenden Helden entgegenzitterten.

Ich kenne Beatlemania-Szenen auch nur aus Film und Fernsehen, aber ungefähr so muß es gewesen sein: Beim ersten Anzeichen des sich nähernden Show-Beginns hebt ein Kreischen an, das mögliche musikalische Darbietungen nur erahnen läßt. Der Geräuschpegel steigt nochmals, als Bassist Nick – und ein weiteres Mal, als Limahl die Bühne betritt – und sich die Köpfe aus dem Dunst des Kunsteisnebels abzeichnen.

Nach dem ersten Stück bringt Limahl die Kinder zum Verstummen. Er spricht zu ihnen. Auf deutsch. „Entschuldigt bitte, daß ich hier von einem Zettel ablese (kicher, kicher), aber ich spreche leider kein deutsch (kicher). Unser nächster Song…“ und so weiter.

Die ausführlichen deutschen Ansagen bringen das Publikum immer wieder in Verzückung. Wenn die Musik dann wieder ansetzt (offensichtlich die reine Nebensache), fliegen die mitgebrachten Plüschtiere auf die Bühne – und das Kreischen wird wieder so laut, „daß wir uns oft selber nicht hören können“ (Stuart).

Von seiner Ankündigung, man werde auf der Bühne auch ein wenig improvisieren, das Instrumentale ausbauen, ist denn unter diesen Umständen wenig zu spüren. Die Kajagoogoo-Musik gerät zur gleichförmigen Pflichtübung, ein Song klingt wie der andere. Aber: Wenn man mitten drin steht in diesem Emotions-Orkan, kommt es einem sowieso nur pharisäerhaft vor, über Wert und Unwert dieser Musik nachzudenken. Eine Urschrei-Therapie dürfte dagegen wie eine Talk-Show im dritten Programm wirken.

Wie war das also mit der Begeisterung? Kajagoogoo langweilen mit ihrer Bühnenshow, aber das, was sie bei ihrem Publikum entfachen, gehört zu den großen Natur-Ereignissen.

Dabei ist Kajagoogoo die erste Band seit langer Zeit, die den Teens ganz alleine gehört: Adam Ant, Haircut 100, Human League, Depeche Mode, Altered Images, Spandau Ballet, Culture Club, sogar Nena – sie alle hatten auch ältere Bewunderer, waren bei der Kritik wohlgelitten bis gefeiert. Kajagoogoo aber sind derart Eigentum der Teens wie zuletzt nur die Bay City Rollers.

Ich erzähle Stuart, daß ich mir die Zukunft von Kajagoogoo entweder als Bay City Rollers der Achtziger – oder als verjüngte Neuauflage von Duran Duran vorstellen kann. Duran Duran hatten es bekanntlich geschafft, Teen-Publikum mit dem älteren, konservativen Genesis/Pink Floyd-Publikum zu verbinden – und gleichzeitig auf die Kritikergunst verzichten zu können.

Stuart erzählt, was seiner Meinung nach den Unterschied zwischen ihnen und den Rollers ausmacht: „Zum einen spielen wir unsere Instrumente selber, ohne Netz und doppelten Boden; wir haben Ehrgeiz als Musiker. Zum anderen sind wir älter. Wir sind nicht, wie immer alle vermuten, eine Hype wie die Monkees oder die Rollers. Wir sind keine fertigen Produkte, die sich jemand anderes ausgedacht hat. Wir machen alles selber.“

Auch das Image?

„Auch das Image.“

Was denkt ihr euch bei eurem Image?

„Nun es ist schwer, ein Image mit Worten zu beschreiben.“

Was ist der Inhalt, die Absicht eures Auftretens?

„Ganz wichtig ist, daß wir Optimismus ausstrahlen wollen. Wir wollen den Kids Optimismus vermitteln.“

Zu dem man eigentlich gerade in England nicht so viel Anlaß hat.

„Meinst du die Arbeitslosenzahlen?“

Zum Beispiel.

(Pause) Ich baue eine Brücke: Haircut 100 haben immer gesagt: „Wir sind die wirklich Aufrichtigen. Gerade weil wir einfach nur geradlinigen, cleanen Pop spielen, sind wir aufrichtig, denn wir sind wirklich so. Die wahren Heuchler sind Siouxsie und Killing Joke, denen es blendend geht, die aber dennoch die ganze Zeit so tun, als laste die Welt auf ihren Schultern!“ Gilt das vielleicht auch für Kajagoogoo?

„Oh, ja, oh, so kann man das sehen. Ich glaube, Entertainment enthält immer eine gewisse Flucht vor der Wirklichkeit. Man geht ins Konzert, weil man von seinen Problemen genug hat.“

Die Frage ist doch: Geht ein sorgenbeladener Normalmensch ins Konzert, vergißt seine Probleme für zwei Stunden und ist anschließend verträumt, ausgelaugt und unfähig? Oder geht er ins Konzert und kommt heraus gekräftigt, bestätigt und voller Wut, jetzt den Kampf aufzunehmen?

„Weißt du, wir machen uns im Moment nicht so viel Gedanken über solche Sachen. Wir versuchen im Moment, musikalisch weiterzukommen, eben über Musik auch ein älteres Publikum zu erreichen. Wir sind zur Zeit so beschäftigt, daß wir nicht einmal Zeit zum Wählen hatten.“

Was hätte Stuart denn gewählt?

„Schwer zu sagen. Bestimmt nicht die Tories. Vor allem wegen der Rüstungspolitik der Konservativen. Die Labour-Partei ist mir andererseits auch nicht recht. Die sind einfach zu phantastisch, zu utopisch und wollen aus der EWG austreten. Aber wie gesagt, so genau weiß ich es auch nicht, weil es für uns in letzter Zeit so viel anderes zu bedenken gab.“

Ich frage mich, ob Stuart ein stiller, nachdenklicher Musiker ist – oder ob er vielleicht einfach nicht gerade der Temperamentvollste ist. Jedenfalls gibt es eigentlich nur ein Thema, das ihn aus seiner Reserve lockt. Und das dürfte den Leser dieser Zeilen am wenigsten interessieren: neue Instrumente, neue Synthesizer, neue technische Entwicklungen.

Er hat sich gerade ein neues Gerät gekauft, mit dem man einfach alles machen könne. Ich weise ihn daraufhin, daß er noch kurz vorher das Loblied des traditionellen Instrumentalisten gesungen hat. Aber auch das ist für ihn kein Widerspruch. Kajagoogoo sei eben für beides offen, für das komplizierte Live-Baßspiel von Nick ebenso wie für die Computerprogramme, mit denen sich Pianist Stuart beschäftigt. Uberhaupt seien alle Multi-Instrumentalisten. Bei Art Nouveaux haben sie die Instrumente noch gewechselt, bei Kajagoogoo hätten Image-Gründe sie bewogen, sich jeweils auf ein Instrument zu beschränken. Welche Image-Gründe?

„Naja, das klassische Band-Image, wo das Spielen eines bestimmten Instruments eben auch mit einem bestimmten Charakter verbunden ist.“

Wie bei den Beatles.

„Genau.“

Und warum Kajagoogoo und nicht The Sowiesos?

„Weiß nicht, Kajagoogoo sollte nichts besonderes bedeuten, sondern einfach nur schön klingen. Wir hatten gerade Limahl in die Band gebracht und waren uns im klaren, daß zu dem neuen Konzept auch ein neuer Name gehört. Kajagoogoo war sehr hübsch.“

Sollten Kajagoogoo tatsächlich nichts anderes sein als die Wiedergeburt der Bay City Rollers mit anderer, ausgefeilterer, ambitionierterer Musik? Teen-Darlings für die kurzen unsicheren Momente zwischen 11 und 16, je nach Stand der hormonellen Entwicklung? Und später vielleicht mit den Fans altern und ungefährliches Kunstgewerbe à la Duran Duran betreiben? War nicht „Too Shy“ doch ein Tick neuartiger? Besser?