Singles

The Fall: „The Man Whose Head Expanded“ (Rough Trade)

Die Single des Monats. The Fall spielen sich selbst als wären sie professionelle Musiker, die The Fall spielen. „The Man…“ zeigt Mark E. Smith auf einem neuen Höhepunkt, einen richtigen Song aufführend als wäre es eines seiner klassischen Endlos-Rasereien. Ist aber ein SONG, gehalten vom Korsett der Drei-Minuten-Ökonomie.

Heaven 17: „Come Live With Me“ (Virgin)

Das Lied, das es einem wieder wert erscheinen läßt, 37 Jahre alt zu werden („I was 37 / you were seventeen“). Die englische Presse reagierte vielleicht blöd: „Glenn Gregory ist ja gar nicht 37“, riefen sie aus. Wenn das wahr ist, ist Boy George vielleicht doch Amanda Lear. „Come Live With Me“ ist so stark auf die direkte Verhakung mit dem persönlichen Leben angelegt, wie zuletzt nur „Sexual Healing“. Das war reifer Pop, dies hier ist unreifer Pop, der mit Reife nicht nur durch fiktive Altersangaben kokettiert. Eine von Mittzwanzigern entworfene Utopie für die nächsten Jahre.

Elvis Costello: „Everyday I Write The Book“ (WEA)
XTC: „Great Fire“ (Virgin)

Der gute, reife, differenzierte, künstlerisch wertvolle, gediegene Pop-Song. Der unangreifbare Pop-Song, soooo differenziert. Leider nichts Aufregendes. XTC gefällt mir aus nichtigen persönlichen Gründen besser als Costello. Beides ist so gelungen wie unwichtig.

B-52’s: „Future Generation“ (Ariola)

Das beste Stück, das diese Gruppe seit ihrer ersten LP geschrieben hat. Drei-Akkorde, viel Orgel und ein hinreißender Duettgesang: „Wanna be the ruler of the galaxy / wanna be the empress of fashion“ – das erste singt ein Junge, das zweite ein Girl, beide: „Let’s meet and have a baby, now!“ Außerdem begehren die beiden für ihr futuristisches Züchtungsprogramm König der Zulus, Tochter Frankensteins, Präsident Moskaus und andere Ämter mehr zu übernehmen. Alle Bandmitglieder stellen sich mit vollem Namen, Herkunft, Tierkreiszeichen und Hobby vor. Hit.

Aztec Camera: „Walk Out To Winter“ (Rough Trade)

Wie man auch Folklore zum extended dance mix strecken und mischen kann. Der Song, den man von der LP kennt, ist wunderbar und wird dort fast nur noch von „The Boy Wonders“ übertroffen. Demnächst „Like A Rolling Stone“ in der Scratch-Version.

Malcolm McLaren: „Double Dutch“ (Charisma)

Er ist brüllend lustig. In der langen Version der Springseil-Hymne bedankt er sich wieder bei der gesamten Zulu-Nation, der gute. Und außerdem ist seine Stimme nicht schlecht: ein Humor-Faktor. Bisher die kommerziellste seiner drei Singles, aber warum nicht „Merengue“, „Jive My Baby Jive“, „Duck For The Oyster“ als Single-Hit

Fehlfarben: „Agenten“ (EMI)
Family Five: „Japaner In Düsseldorf“ (Das Büro)
Gabi Delgado: „Sex And Soul“ (Virgin)

Diese Fehlfarben-Single ist auf jeden Fall die bessere Auskoppelung als die davor, aber dieses Schmachtende, wie heißt es gleich noch?, das mit den Streichern, ist noch wesentlich besser als „Agenten“, das ansonsten einen guten Song für Kim Wilde abgegeben hätte. Toller Refrain.

Die gute alte Wildheit, leicht verstaubt und -braucht bei der neuen Family Five, immer noch zornig und jung und treibend und schnell, die Single von Leuten, die die Test Tube Babies ebenso lieben wie das Style Council. Was auch heißt für Leute, die…

Gabi Delgado ist nicht so schlecht, wie ihr ihn immer macht. Von allen sieht er am besten aus und hat die entscheidenden taktischen Ideen, wenn auch nicht immer das richtige Vokabular um das im Nachhinein zu rechtfertigen. Er ist souveräner als die beiden obengenannten Bands, aber er hat hier eindeutig die schlechtere Single. Die Letzte war viel besser („History Of A Kiss“). Sein Problem ist das Rheinland, das ihn nicht verstehen kann mit seiner Bodenständigkeit, auf die es so stolz ist.

La Dolce Vita: „Junge, komm bald wieder“ (Arlola)
Incantation: „Charcharpaya“ (Ariola/Beggars Banquet)
Eurythmics: „Who’s That Girl?“ (RCA)

Die Ekelecke: La Dolce Vita hatten die säuisch-originelle Idee, deutsche Schlager („Junge, komm bald wieder“, „Wochenend und Sonnenschein“ und eine ganze LP voll) – ja, ganz richtig – f-u-n-k-y wiederaufzubereiten. Mit Percussion-Mittelteil, Syndrums und cooler Frauenstimme. Da kann man nur, „witzig“ lispeln. Incantation sind südamerikanische Folklore für den Positive-Punk-Anhänger und was ich von den Eurythmics halte, hatte ich schon lange der Welt unterbreiten wollen: eine Grundschullehrerin, die fast ein einsames altjüngferliches spätes Mädchen geblieben wäre, lernt kurz vor der Menopause noch einen Kräutersammler aus schottischen Hochlanden kennen und hält sich plötzlich für einen Vamp. Der Kräutersammler, früher übrigens bei der Hardcore-Folk-Band Amazing Blondel, setzt sich zum Zeichen seines neuen Status als Vamp-Ehemann eine schwarze Sonnenbrille auf sein verbartetes Gesicht und stellt sich auf Synthis um. Und dreht Videos. Und belästigt die Welt. Übel.

Grandmaster Chilly T. and Stevie G.: „Rock The Message Rap“ (Eclipse)
Ministry: „Work For Love“ (Eristea)
Futura: „Feelin Hot“ (Metronome)
Class Action: „Weekend“ (Boni Records)
Freeez: „I.O.U.“ (Virgin)
J. Walter Negro/Nicky Tesco: „Cost Of Living“ (Albion)
Visual: „The Music Cot Me“ (Teldec)

Grandmaster Flash, der, was mal ausdrücklich gesagt werden muß, seit „The Adventures“ mit den unter seinem Namen erscheinenden Platten nichts zu tun hat, wird in den deutschen Charts notiert. Grandmaster Chilly ist mit ihm, entgegen der Auffassung des NME, weder identisch noch verwandt oder verschwägert. Zusammen mit Stevie G. zieht er einen freundlichen, fast-jazzigen, nicht elektronischen Underground-Rap mit viel Saxophon-Unterstützung vom Leder, der entgegen des Trends alles andere als karg und cool arrangiert ist. Sehr treffsicher, aber wenig aufregend: Ministrys Versuche, britische Melodiösität mit amerikanischem Funk-Feeling zu mixen. Wenn Schwarze auf Spandau Ballet abfahren. Ich weiß nicht, glaube aber auch nicht, daß Futura mit dem gleichnamigen Graffiti-Künstler identisch ist, zumal ein, sicher fülliges, schwarzes Weib den Gesang bestreitet. Die etwas ältere, jetzt in der „Maxi-Dancer“-Reihe der Metronome veröffentlichte Disco-Nummer kommt nicht über den Durchschnitt hinaus. Warp 9 kann in der Sektion „Schwarze Synthi Disco“ der Soul Sonic Force und der Jonzun Crew das Wasser allenfalls in Kniehöhe reichen, auch wenn Engineer-Star John Benitez, mit dem wunderschönen Spitznamen Jellybean, die Knöpfe gedreht hat. Für DJs jedoch gut gebräuchlich. Auch schon älter „Weekend“ von Class Action, das sich trotz vier interessant differierender Versionen nur bei Version Nummer drei nicht in die Reihe langweilig nachempfundener Rap/Synthi-Coolness einreiht. Wie es denn richtig geht, demonstriert der sicherlich enorm überarbeitete Meister selbst. Star-Produzent Arthur Baker hat sich des Schicksals von Freez angenommen, seiner extra dafür geschriebenen, nicht atemberaubenden neuen Kompositionen, zwei „Megamixe“ im bewährten „Planet Rock“-Stil hat angedeihen lassen. Wieder hat Jellybean gemixt. Wirklich cool. The old couple: J. Walter Negro und Nicky Tesco beklagen die Höhe der Lebenserhaltungskosten. Nett und etwas flau, diese Soul-Rap-Mischung, irgendwie befangen und bemüht, zuviel Effekte, zuviel Ernst. Wham für die ältere Generation. Ein gruseliges Beispiel für die neue Disco-Konfektionsware im modernen Kleid: Visual. Perfekter Durchschnitt, nicht so cheap wie Italo-Disco, aber genauso tödlich.

The Police: „Every Breath You Take“ (A&M)

Ungefähr die beste Police-Single aller Zeiten, was nichts heißt. Wahr ist: die erste Phase dieses Songs, die zurückhaltende, ist wirklich zauberhaft. Danach sollte man ausblenden, dann wenn das blöde Rock-Emotionsgedonner losgeht.

Robin Gibb: „Juliet“ (Polydor)

Zweifellos eine Idee von Herbert Asmodi, dem Schöpfer unvergessener TV-Großkitschscheiße wie „Die Frau in Weiß“; eine Kreuzung aus Procol Harum und Reinicker, dieser Asmodi. Jetzt hat er seinen Knecht Gibb dazu gebracht, ein neues Projekt zu verwirklichen: Die Tragödie eines drogenzerfressenen Rockstars, der nach England aufs Land zieht und dabei von der französischen Revolution, die nicht genau weiß ob sie nicht lieber einen Aufstand flandrischer Textilarbeiter wäre, überrascht wird.

Donna Summer: „She Works Hard For The Money“ (Phonogramm)

Das Beste an dieser Platte ist der Werbespruch: She works even harder on 12inch. Das zweitbeste der Video mit den vielen arbeitenden Frauen. Das drittbeste der Text, das viertbeste, daß es der beste Song der LP ist. Donna Summer verhält sich zu Diana Ross, um einen abgeschmackten Vergleich zu bemühen, tatsächlich wie Pamela zu Sue Ellen.

Max Goldt: „L’eglise des crocodils“ (Zensor)

Der Bursche ist wirklich superoriginell und supersympathisch. Nach einigen kommerziellen Platten kehrt er hier Solo wieder zurück zur „Rubbermind“-Musik der frühen Foyer des Art und Aroma Plus. Das Zeug ist zwar oft schwer verdaulicher Lärm. Aber allein die beiden Texte der zwei Songs auf dieser Mini-LP lohnen den Kauf, dazu kommen einige herzzereißende Musikideen und ein schönes kleines Beiheft.

Schlösser rechts/Seen links: Titel: Irgendwelche japanische Schriftzeichen (Zensor)

Berliner Underground der sympathischen Sorte. Als wäre nichts geschehen. Als wäre 79 und wir säßen alle im selben Boot. Sympathischer Underground…

Nicolle Meyer: „Nowhere Bei Mir“ (Ariola)

Die Solo-Single der Fred-Banana-Combo-Drummerin, eingespielt und geschrieben von ihr und der Fred Banana Combo (ein guter Zug, den blöden Namen endlich zu streichen) ist für die Fred Banana Combo das, was „Every Breath“ für die Police ist, ein zurückhaltender, bezaubernder bester Song aller Zeiten, was hier schon was heißt. Irgendwo zwischen Lio und Psychedelic Furs.

T-Ski-Valley: „Cut It Up“ (Grand Groove)

Der sympathischste Rapper aller Zeiten („Catch The Beat“, „Sexual Rapping“) enttäuscht auf ganzer Linie. Erst das modische „Für eine Handvoll Dollar mehr“-Zitat, das alle anderen vor ihm schon gebracht hatten, dann ein Rap, der sich in der Lobpreisung seines DJ erschöpft, dazu langweilige Elektro-Disco-Sequenzer-Musik, für einen Newcomer nicht weiter schlimm, aber für denjenigen, der weiß „how to treat a woman right“, für den Mann mit dem sympathischen Lachen, ein böser Ausrutscher.