Singles

Was wollen einem Sänger eigentlich erzählen? Soll ich Whitney Husten glauben, wenn sie sagt, daß sie für irgendjemanden ihre Liebe aufspare? Für wen? Wer ist „you“? Sie? Ich? Ich nicht.

Warum singen diese Leute, warum reden sie nicht, oder warum halten sie nicht den Mund und lassen jemanden fiedeln? Vielleicht einen Ungar? Ich kann mich immer weniger des Eindrucks erwehren, daß immer dann, wenn die Menschheit vorsätzlich zu lügen beschlossen hat, ihre Mitglieder zu singen beginnen. Eine ehrliche Haut singt nicht, sie spricht oder schweigt.

Sophia George: Girlie Girlie (Jet Star)

Dieses Mädchen ist absolut glaubwürdig, die Qualitäten von Musical Youth („Pass The Dutchie“), also den Chame unverbildeter, jamaikanischer Kehlen, mit den von Toots & The Maytals „Dilly Dally“-„Chitty Chatty“-Phase (also grundnaivbescheuerter Schunkel-Reggae) und den von Smiley Culture (abgebrüht Londoner Straßenlakonie) verbindend, erzählt sie von dem alten Problem, daß man junge Mädchen, die sich schon älter fühlen, oft zu ungerecht bürokratisch streng nach dem Buchstaben des Geburtsdatums (und des Jugendschutzgesetzes) beurteilt (Eltern, Lehrer, potentielle Boyfriends und Alkoholausschenker)

Eurythmics: „It’s Alright (Baby’s Coming Back)“ (RCA)
Fine Young Cannibals: „Suspicious Minds“ (London)

Böse Menschen haben gute Lieder. Wie ich die Cannibals hasse! Diese Band macht es sich nur einfach: wüst zusammengeklaute Ohrwürmer (von Herbie Mann bis Jethro Tull, also die Ekelflötenschiene und die naturgemäß ekelhaften Melodien, die sich für Querflöten eignen), dann diese Waisenhaus-Mitleids-Visage, dieses Sängers, der nicht nur nicht wie Otis Redding singt, sondern auch nicht wie der junge Smokey Robinson aussieht und überhaupt: Ohrwürmer mit Tiefgang. Was für ein verabscheuungswürdiges Konzept! Aber hier kommt’s: Nicht nur daß „Suspicious Minds“ nicht totzukriegen ist, die ekelhaften Brüder machen es wirklich gut. Ebenso Annie Lennox: dumme Kuh bleibt dumme Kuh und sie bleibt wahrscheinlich der kotzekelhafteste Popstar jenseits von Huey Lewis, aber „It’s Alright …“ mit ihren Maggie-Bell-Frühsiebziger-Brit-Soul-Stone-The-Crowe Zerr-Timbre und Credibility-Stimm-Verrenkungen, seinem bombastischen, zu langen Intro und seinem verlogenen Text (wer soll so was glauben, wer sich davon trösten lassen?): Klasse! Idiotenbauern züchten dickste Kartoffelsingles.

Darauf einen Klaren!

ABC: „Ocean Blue“ (Phonogram)

ABC machen immer noch die besten Maxis, also bei ihnen sind die Remixe, wie schon ganz am Anfang ihrer Laufbahn, wirklich befriedigender als die Alben: Hier eine kleine Nachtmusik, da eine Soulstimme aus der Retorte, dort ein begnadetes synthetisch-schönes Streicherensemble. ABC machen immer noch die beste Nachtclub-Musik.

LLoyd Cole & The Commotions: „Cut Me Down“ (Polydor)

Maxis bieten ohnehin wieder mehr für’s Geld: Marc Almond, Bog-Shed, Lloyd Cole, ABC, Men They … und Doug E. Fresh machen’s nicht mehr unter vier Tracks. Und Cole wie auch die Cannibals füllen B-Seiten mit unveröffentlichten Live-Aufnahmen. Cole ist einer, der sich vorgenommen hat die Wahrheit auch zu singen. Daß er dabei, wie so viele Idioten auch, denkt, die Wahrheit müsse immer eine leise Angelegenheit sein, ist nicht so schlimm. Er ist auf andere Art ausreichend penetrant (für die Wahrheit): weich, warm und willig (aber nicht als Sünder, sondern als Priester), ich glaube Mädchen würden ihn gerne quälen und Wim Wenders würde ihn gern das erwachsen gewordene Kind von Harry Dean Stanton und Nastassja Kinski in „Son Of Paris, Texas“ spielen lassen. Klar, daß er mir gefällt.

Marc Almond: „The House Is Haunted“ (Virgin)

Der Value-For-Money-Sieger, eine „Super-Sound-Single“ (Ariola Bezeichnung) mit LP-Länge und sieben Songs (drei davon als Medley). Neben den bekannten Vorzügen des komischen Clublife-Kranichs bleibt zu erwähnen, daß sein Spanien endlich einmal die Grenzen eines von Engländern ausgedachten Andalusien überschreiten sollte (wo bleibt der Asturien-Wahn, der Galizien-Glamour, die Katalonien-Kakophonie) und daß ausgerechnet das von Annie Hogan entlehnte „Burning Boats“ am besten gefällt. Diese Platte enthält garantiert keine Informationen, die einem helfen die Krise im Südjemen oder andere wichtige Probleme zu verstehen.

Bog-Shed: „Let Them Eat Bog-Shed“ (Vinyl Drip)

Die sympathische Indie-Gruppe aus England mit branchenüblich abstoßenden Comic-Cover, Musik zwischen Fall und Punk mit einem auffällig individualistischen Bassisten und dem garantiert sauberen Unterhaltungswert mutig-humorvoller Andersartigkeit, also der originellen Exzentrik die noch in jedem kleinen Indie-Schreihals steckt.

The Leather Nun: „506“ (Wire)

Wenn es in harten Zeiten so etwas gäbe, wäre dies die Single des Monats: die perfekte Maskerade. Der Schwede als der beste, große Einsame der westlichen Welt. Allein in Zimmer 506: Klaustrophobie nochmal mit den unsterblichen Stilmitteln großer amerikanischer Ratten der vorletzten Jahrzehntwende besungen.

Ledernacken: „Shimmy And Shake“ (Strike Back)

Dieses Projekt galt mal kurz als Hamburgs Antwort auf Frankie Goes To Hollywood. Produzent Drewling kenne ich noch als den schnellsten Gitarristen von Nordhamburg und besten Johnny-Winter-Imitator so um 72. Dies hier ist, sagen wir, kompetente, internationale Tanzmusik im Stil der Zeit, aber von der harten, gemütlosen Seite, so als wären die 81er-Factory-Tanzbands mit ihren Trompeten und Afro-Sehnsüchten irgendwann professionell geworden.

Spectrum: „All Or Nothing“ (Stiff)

Zu gleichen Teilen nach Äthiopien und an Ronnie Lane’s Multiple-Sklerose-Aid gehen die Einnahmen dieser Mod-Benefiz-Platte (was ein unseren Lesern ähnliches Problembewußtsein verrät) und in je einer „Contemporary“ und einer „Traditional“-Version wird der Small-Faces-Klassiker von alten (Steve Marriot, Chris Farlowe und P.P. Arnold) und neuen Mods (Mitglieder von The Times, Direct Hits, Lambrettas, Purple Hearts etc.) zelebriert. Keine Offenbarung, aber warme Herzen im Sonderangebot.

The Associates: „Waiting For The Loveboat“ (WEA)

Die Veröffentlichung dieser Platte hat vor allem die Funktion, uns an die Existenz von Billy MacKenzie zu erinnern (wir bedürfen dieser Hilfe gelegentlich). Außerdem stellt sie ein weiteres Dokument des Zusammenhangs zwischen schottischer Bodenständigkeit und ungezügelten Glam-Sehnsüchten dar. Aber Billy, der große, rührende Lyriker, hat schon bessere Songs geschrieben. Andererseits lügen Schotten nie, sie singen immer.

Doug E. Fresh: „Just Having Fun“ (Streetwave)

Doug E. Fresh konnte mit seiner letzten Single kurz die Illusion erwecken, daß Rap/Hiphop doch nicht tot sind, gerettet durch Humor. Daß jetzt neben einer durchschnittlichen, neuen Nummer mal wieder die gute alte Idee der „Human Beat Box“ bemüht wird, hilft, trotz vorhandener Qualitäten dieses Künstlers, den Schleier der Illusion zu lüften, um dahinter zu sehen: Hiphop als die zähe Dauermode, als Heavy Metal der amerikanischen Schwarzen. Aber wer sagt was gegen Heavy Metal? Ich bestimmt nicht.

The Men They Couldn’t Hang: „Greenback Dollar“ (Demon)

Und wieder eine Band, die sich das 19. Jahrhundert zurückwünscht. Der Soundtrack für den schlesischen Weberaufstand, stellenweise für die Bauernkriege (Thomas Münzer on Lead Vocals), nicht so schleimig wie The Alarm, aber, um bei vielbemühten Vergleichen zu bleiben, ’s verhält sich zu den Pogues wie Gerhart Hauptmann zu Georg Büchner.

Freiwillige Selbstkontrolle: „Last Orders“ (Zickzack)

Die vier, die als einzige in Europa Cool Jazz und Country verschmelzen lassen würden, wenn es ihnen in den Sinn käme (und denen kommt so einiges in den Sinn) haben für John Peel vier Trinklieder aufgenommen, zwei eigene, zwei alte, die alle nicht zum Trinken animieren, aber am Morgen danach ungemein gute Einsichten verbreiten. Alkoholismus a posteriori.

Richenel: „L’esclave endormi“ (Megadisc)

Im Nachtprogramm hat ein Freund mal folgenden Satz aufgeschnappt: „Ah so eine französische Schanulze. Da wird man doch gleich boudterweich.“ Dies ist hiervon die Hip-Variante: schwül, Billy-Mac-Kenzie-rive-gauche-mäßig, unglaublich traurig, so traurig wie nur vollfeiste, durch nichts zu erschütternde Menschen beim Anblick eines Tierfilms werden können.

Bonnie Tyler & Todd Rundgren: „Loving You Is A Dirty Job, But Somebody’s Gotta Do It“ (CBS)

Ein schwerer Brocken. Daß hemmungslos überproduzierter Kitsch ein Gut ist, weiß ich als Vorsitzender des Shadow-Morton-Fan-Club auch, und daß Meatloaf-Songwriter Jim Steinman immer mit dieser Begründung gerechtfertigt wurde, ebenfalls, wie auch, daß sie in seinem Falle nicht greift (weil er einfach nur Scheiße ist!). Daß ein Lied, daß Bonnie Tyler und Todd Rundgren, auch noch unter diesem Titel aufnehmen, gewürdigt gehört, wer müßte es mir sagen? Aber das Lob der Liebe, bei der die Fetzen fliegen, gehört mir zu den widerwärtigsten Verlogenheiten dieser singenden Menschheit. Auch wenn wiederum der Titel dieses Lobes in aller gebotenen Lakonie, das zum Ausdruck bringt, was man über das Problem der Liebe zu Bonnie Tyler sagen kann. (Ob es jemand tun muß? Alles muß irgendeiner tun. An undankbaren Aufgaben kann man nur wachsen!)

The Everly Brothers: „Born Yesterday“ (Phonogram)

Mein Bruder rennt seit Jahren mit einem Everly-Brothers-Badge rum. Warum eigentlich? Muß ihn mal fragen.

International B.K.: „Oh Pretentious Moi“ (Rebel Rec.)

Die Dialektik zwischen bescheuerten Künstlernamen und internationaler, avancierter Tanzmusik (hier die Indie-Variante) Teil II (nach Ledernacken, hier nennen sich die Künstler Jackie Onassis, Castrop Rauxel etc.). Ein Berlin/London-Projekt, das sich seine Verkrachtheiten gönnt.

Inca Babies: „Surfin In Locustland“ (Black Lagoon Rec.)

Die Band, der man nicht mehr sagen darf, daß sie einen an Birthday Party erinnern. Also sagt man Ihnen besser gar nichts. (Höchstens dies: es gibt weiß Gott Schlimmeres als wie Birthday Party zu klingen.)

Tommi Stumpff: „Seltsames Glück“ (What’s So …)

Er ist ein alter Ekstatiker und klingt dabei nicht wie Birthday Party. Aber seine Themenwahl, seine heroische Pose, seine geistige Heimat qualifizieren ihn zu der Auszeichnung rechtsrheinischer Mishima, seine Musik als Yoko Onos legitimer Schwippschwager.

In Embrace: „This Brilliant Evening“ (Rebel Rec.)

Wer danach oder dagegen ein Antidot braucht (ich nicht), nehme sich doch nochmal diese pflegeleicht-sensible, sentimental-zerbrechliche Platte vor, sie ist verlogen, aber vielleicht heilt sie die eine oder andere Wunde.

Tears For Fears: „I Believe“ (Phonogram)
Dire Straits: „Walk Of Life“ (Phonogram)

Und hier noch etwas Grundsätzliches: es gibt immer noch die Dire Straits, ja es gibt sie und wird sie noch lange geben. Sie oder Ähnliches. Und solange das so ist, sind wir alle gottverdammichnochmal dazu verpflichtet, wenigstens ein klein wenig Sympathie für Tears For Fears abzuzapfen (was ich hiermit tue).

Pia Zadora: „Come Rain Or Come Shine“ (CBS)

Er hat ihr schon soviel gekauft, der gute Methusalix, jetzt hat er der ewig 19-jährigen Talentlosen ein komplettes Symphonieorchester, einen Frack und einen kompletten Set Dirigentenstäbe zum Jahrestag (Valentinstag? Geburtstag? Heiligen Dreikönigstreffen der FDP?) geschenkt und als nächstes wird er die CBS kaufen. Als Fußnote zu Donalds und Dagoberts Debatte, ob auch immaterielle Werte (wie Liebe oder das London Symphony Orchestra) käuflich sind, ein überzeugender Beleg für die von Dagobert vertretenen Argumente.