Die Single ist ja so ein pathetischer Gegenstand. Die Industrie wird ihn über kurz oder lang auslaufen lassen wie den VW-Käfer, dann wird es Singles nur noch als Honduras-Importe geben. Und dann gar nicht mehr.
Die Single ist eigentlich so: Du gehst irgend wohin, irgendwo hinein. Und dann gehst Du zugrunde. Du stirbst. Du liegst da, schweißnaß und tot, um Dich herum der große, große Tod. Dann erklingt aus dem Sarg nebenan, aus irgendeiner anderen Zelle, in die man einen einsamen Menschen gesperrt hat, ein Lied, und Du stehst auf und sagst: ein Wunder ist geschehen und lebst wieder. Bis zum nächsten Mal.
Solche Wirkungen schreibt man der Single zu.
Oder so, wirklich geschehen, in den 50er Jahren. Ein schwarzer Gitarrist, vom Leben, von den Frauen, vom Whiskey und von der Musik enttäuscht, hört zu allem Überfluß an einem Depressions-Sonntag im Radio die Selbstmörder-Hymne „Gloomy Sunday“ und beschließt, sich die Todespillen zu besorgen. Er tritt auf die Straße, da fallen ein paar warme Sommerregentropfen auf seinen Überdruß. Er beschließt zu leben und schreibt einen Song: „There Is Always Hope (Even On A Sunday)“
So hat man sich die Single vorzustellen. Wer glaubt noch an Märchen? Einer muß es ja tun.
Age Of Chance: Crush Collision
Virgin
Die tun’s. Sie beschwören den Fake-Pathos des ewigen Teenbeat. Den, den keiner verstehen kann, der zu alt ist, der ihn nicht fühlt. Aber genauso wie sie ihn fühlen, verstehen sie ihn, sie könnten Lexika und Manifeste schreiben und tun’s auch. Age Of Chance verkörpern alle Widersprüche des Pop (vgl. Green-Interview vor ca. 2 Jahren) und gehen darauflos. Sie machen es richtig. Hier ist nochmal „Kiss“ drauf. Und „Disco Inferno“ von den Trammps; hier wird der Versuch unternommen, das alte „Burn, Baby, Burn“ vom inneren Brennen wieder zum Problem der Feuerwehr zurückzusemantisieren. Vier hervorragende eigene Stücke außerdem. Mein erster Tanz seit vielen Jahren.
The Godfathers: Love Is Dead
Red Rhino
Diese Single der gefeierten Hälfte der gefeierten Sid-Presley-Experience erinnert mich an eines meiner absoluten Lieblingslieder, „She’s Going Underground“, von den Bizarros, der heldenhafte Versuch, das weggelaufene Mädchen nicht zu bejammern, sondern ihr Weglaufen bis an die Grenzen des Erträglichen uneigennützig, als heldenhafte, explosive Revolte zu feiern. Mit ebensolcher Musik, die man früher Power-Pop genannt hätte, die besten Momente der Boys. Erkennungszeichen: kleine pathetische Gitarrenexplosion, ein Sänger, der an das Leben glaubt.
The Cult: Love Removal Machine
Virgin/Beggar’s Banquet
Meine dritte Lieblingssingle ist ein echter Drecksrenner. Primitiv wie Menschen wie Leben wie Robert Plant (den Astbury hier so gnadenlos und unverblümt raushängen läßt wie noch nie). Der Charme gewisser Van-Halen-Stücke trifft auf „Allright Now“ (vor dem Hintergrund des Stones-Riffs von „Start Me Up“. Ausgerechnet! Klasse!). Auf der B-Seite dann ein Fake-„You Shook Me, You Shook Me All Night Long“-Blues, der Dir die Zähne zieht, ja Dir, Du bist gemeint, Du Freund guter, langweiliger Musik.
Microdisney: Town To Town
Virgin
Go-Betweens: Right Here
Beggar’s Banquet
Hüsker Dü: Could You Be The One
WEA
Boy George: Everything I Own
Virgin
Alien Sex Fiend: Hurricane Fighter Plane
Rebel Rec/spv
Und das bin ich natürlich selbst, dieser blöde Freund, bürgerliche Konditionierung, kann man nichts machen, blöde Sache das. Dies sind all die Gruppen, von denen ich Lieblingssingles erwartet hätte, die’s aber aus verschiedenen Gründen nicht ganz bringen. Microdisney ist eine LP-Band, „Town To Town“ ist kein Ausfall auf der sehr guten LP, aber keine Single (im emphatischen Sinne), dafür wird man durch das Sauflied „Little Town Of Ireland“ versöhnt. Bei den Go-Betweens erzählten mir 300 Plattenleute in London, das sei jetzt der Hit. Und das ist „Right Here“, bei den Ansprüchen, die man an die Go-Betweens stellt, eben nicht. Dafür wird man durch insgesamt vier normal gute Songs versöhnt, darunter ein herziges Country-Ditty, bei dem Amanda (oder ist es gar Lindy?) singt, und der echte Tränenzieher, „When People Are Dead“. Bei Hüsker hat man auch nicht den Song von der LP genommen, „nur“ gewohnte Qualität, dafür auf der B-Seite die erste aktenkundige Komposition des stoischen Bassisten. Von Boy George hätte ich mir gewünscht, daß er aufsteht, klagt, schwätzt, den O’Dowd ’rausläßt, stattdessen die gutgemachte Coverversion des allseits akzeptierten Songs. Und vom Treffen der Giganten, Alien Sex Fiend covern Red Crayola, mehr als einfach nur eine weitere Alien-Sex-Fiend-Platte, wie man sie kennt. Ich dachte, sie hätten sich diesmal eine Aufgabe gestellt.
Green On Red: Clarkesville
Phonogramm
Wer könnte pathetischer sein als die hier, immer noch traurig, nicht als Neil Young auf die Welt gekommen zu sein, aber diesmal mit einer James-Luther-Dickinson-Produktion, und es klingt wie CCR mit Selbstmitleid. Protest-Pathos und Schlieren echter, bekennender Dumpfheit. Die neue Härte steht ihnen gut. Amerikanischer Dreck der guten Sorte. Man wird diese Band noch eine Weile ertragen können.
Xmal Deutschland: Sickle Moon
Phonogram
Wer könnte pathetischer sein als die hier? Leider ist das beste Stück auf die B-Seite geraten: „Illusion“, ein schönes deutsches Chanson, up-tempo, unter den Voraussetzungen der 80er auf die gleiche Weise an die frühe Grace Slick erinnernd wie in den späten 60ern die frühen Frumpy. „Sickle Moon“ auf der A-Seite ist dagegen britischer Underground-Rock im Geschmack der Zeit und total durchschnittlich.
Wire: Snakedrill
Mute/Intercord
Die neuen Wire. Wie die alten Wire. Etwas schneller, tanzmäßiger, kantig-monotoner. King Crimson haben ja auch den Sprung in die 80er geschafft. In diesem Sinne.
BMX Bandits: The Day Before Tomorrow
53rd & 3rd
Die großen BMX Bandits. Oder soll ich sagen: die fast großen BMX Bandits. In einer Zeit, wo mir immer wieder gestandene Mitarbeiter gestehen, eigentlich hätten sie noch nie einen Ton von Velvet Underground gehört, soll ich vielleicht darüber hinweggehen, das sich in „The Day …“ wieder einmal der Geist der dritten V.U. mit der britischen Neigung zu abzahlreimmäßigen Metren versöhnt, und mich freuen, wie der Sänger das Wort, das so wichtige Wort, „I“ auf so eine nette, nachdrückliche Art artikuliert, wie sie kitschige Oldies noch weiter verkitschen („What A Wonderful World“).
The Soup Dragons: Head Gone
Rough Trade
Um Legendenbildungen vorzubeugen: Die Soup Dragons sind eine sehr gute schnelle Band, zwei von drei Songs sind sehr gut, aber sie sind nicht die neuen Buzzcocks, nicht die neuen Undertones, es fehlt ihnen an Eigensinn und die Godfathers haben mehr erlebt. Und jetzt: Genießen und Gute Laune!
Dirty Roseanne: Ghost Of Tomorrow etc.
DEA/Italien-Import
Momus: Murderers – The Hope Of Women
Creation
Willkommen im Cabaret: Andi Sex Gang und italienischer Partner (Piero Ballegi) versuchen sich an kleinen, schrägen Songs zwischen Hunky Dory und Marc Bolan, exakter wäre: Harry Nilsson in drag. Aufgeregte kleine Klassiker (die genaue Zahl ist vier). Momus ist dagegen die dunkle, 80er-Ausgabe von Nick Drake, nicht ganz so fragil wie die akustische Gitarre vortäuscht und etwas zu augenzwinkernd, nichts um Tote aufzuwecken, eher um die zu trösten, die die Intensität des Lebens nicht verkraften (was ja immer mehr werden, moderne Eremiten).
Chakk: Timebomb
Ink/Red Flame
Slab: Parallax Avenue
Ink/Red Flame
Ledernacken: Do The Boogaloo
Strike Back
Dancefloor (würg! Dieses Wort), eine Auswahl. Chakk: technokratisch polyrhythmisch, keine Angst vor Zuviel und auch deswegen am besten. Slab: intelligent arrangiert, mit echten Instrumenten und Einflüssen, die Pigbag des fin de décade. Ledernacken, verschmitzt und mit Stöhn-Lauten, etwas zu unaufregend-aufregend diesmal. Besser die B-Seite: „Mogadishu Boogie“, wie ein Thema für eine Hardcore-Miami-Vice-Version.
The Christians: Forgotten Town
Island/Ariola
Die Band, die sich der NME am Telephon ausgedacht hat: pathetischer Soul, ernster und wahrer als alles, was (überwiegend) weiße Engländer in dieser Gattung produzieren, dazu voller sozialer Anklage, die über das Zitieren anderer Leute Mißvergnügen hinausgeht. Mir gefällt’s trotzdem nicht, in seiner ganzen überzeugten Vollmundigkeit.
Whirlpool Guest House: Changing Face
Summerhouse
Eine süße kleine Seven Inch (absolute Ausnahme!), süß und zierlich, mit Sänger und Sängerin, zart an die Go-Betweens erinnernd. Zum Liebhaben.
Membranes: Spikes Milligan’s Tape Recorder
Constrictor
Eine böse kleine Seven Inch. Klasse: Die Slayer des Indie-Pop. Der Schrammel-Overkill.
1000 Violins: Ungrateful Bastard
Constrictor
Schnell und melodiös und ein guter Text, man kann also auch nichts dagegen sagen, außer, daß man im Leben vielleicht schon so den einen oder anderen schnellen, melodiösen Song mit gutem Text gehört hat. Und auch wieder vergessen.
The Wylde Mammoths: All The Birds Are Gone
Mystery Scene
The Shamen: Young Til Yesterday
Soma
Eine schwedische und eine britische Band, jede kompetent in ihrem Segment der Sixties, die Schweden (Beat, Party, Jungsein) in den früheren, die Shamen in den späteren. Beide Bands kann man getrost im Konzert oder zu Hause auf der Party hören und tonnenweise gute Laune abzapfen, aber rezensieren kann ich solche Platten wirklich nicht mehr.
Verschiedene: St. Pauli 1:0
Eigenvertrieb
Authentische Kneipenstimmung vom Kiez (aus dem „Silbersack“), Raps für den Verein, der gerade mühelos Bayern München vom Platz gefegt hat und als Aufsteiger einen unerwarteten 4. Platz in der 2. Liga hält, ein Thomas Schwebel, der seinen Abschied von Düsseldorf mit dem „FC“ begründet, eine Frau, die für den „FC“ auf Männer verzichtet und jedes andere weltliche Vergnügen, junge Hamburger Musiker mischen sich mit alteingesessenem St.-Pauli-Personal (Johnny Blue Trio) und preisen ihren Verein und die herzliche Trinkatmosphäre ihrer Neighbourhood. Gefällt mir logischerweise besser als alles, was über den SV Werder, den 1. FC Köln, Fortuna Düsseldorf, Bayern und 1860 München oder jeden anderen Verein je singend verbreitet wurde (außer „Schön! Du mußt den Reimann sehen“ von der Volkspark-Stadion-Westkurve vor vielen Jahren: Reimann trainiert heute St. Pauli).
