Ich habe noch nie viel von der weitverbreiteten Ansicht gehalten, man müsse sich beim Musikhören fürchterlich konzentrieren.
Oft ergänzen Nebenbeschäftigungen wie eine anspruchslose Lektüre oder ein Fernsehprogramm ohne Ton das Gehörte, und seltene Sensationen ergreifen Herz und Sinne. Zu den LPs der Raincoats sollte man die Kontaktanzeigen der alternativen Stadtzeitungen lesen. Da entfaltet sich das ganze Menschenleben voller Hoffnung und Elend: wenn Vicky Aspinalls Violine an einem zerrt oder mit Pizzicato-Tönen lockt, wenn eine schrummelige E-Gitarre sich beschwert oder die Zerbrechlichkeit der für die Anzeige zusammenformulierten Identität genauso ergreifend wackelt wie der rhythmische Hintergrund der Raincoats.
Bei keiner Gruppe wird das Entstehen von Musik aus Leidenschaften, die notgedrungen zu zusammenhängenden Klängen organisiert werden müssen, so ergreifend klar wie bei den Raincoats. Immer rebelliert die Leidenschaft gegen die Organisation, bis sich wieder Intelligenz gegen ausuferndes Ausleben von Einzelempfindungen durchsetzt. Wie beim Reggae gibt es auch bei den Raincoats nicht die in der Rock-Musik geläufige Unterteilung in Vorne/Hinten. Vorne: Gesang, Melodieinstrumente, Melodieführung. Hinten: Baß, Schlagzeug, Rhythmusarbeit. Vorne: Freiheit. Hinten: Regelmäßigkeit, Pflicht. Bei den Raincoats kann schon mal ein Chor-Gesang im Vordergrund den Ordnungsfaktor markieren, während Baß und Drums sich im Illustrativen verzetteln. Zu den Raincoats gehört, daß das in der Rock-Musik so wichtige Wechselverhältnis von Zwang und Ausbruch von Song zu Song neu definiert wird.
Drei Frauen gestalten die Raincoats-Musik seit 1978: Vicky Aspinall (vorwiegend Violine, aber auch Gitarren und afrikanisches Daumen-Piano), Gina Birch (Gitarre und Baß) und die Portugiesin Ana Da Silva (Baß und Gitarre). Alle singen, Ana und Gina schreiben die meisten Songs. Gina die eher realistischen, empirischen Stories, Ana mehr allgemeine Erörterungen. Die Rhythmus-Arbeit, sprich: Schlagzeug wechselte des öfteren. Erste Single und erste LP – beide gehören zur Grundausrüstung des zeitgenössischen Musikliebhabers – wurden mit Palm Olive eingespielt. Palm Olive war ein Gründungsmitglied der Slits, stieg aus, um die Raincoats mitzubegründen und gehört für mich zu den genialsten Erscheinungen am Schlagzeug seit, sagen wir mal, Maureen Tucker. Man hat bei jedem Song das Gefühl, sie würde die Grundbegriffe von Beat, Takt, Metrum, Betonung etc. aufs Neue ergründen, verwerfen und wieder neu entwerfen. Mal trommelt sie neben dem Metrum, mal pirscht sie sich von hinten an. All die Leute, die sich für kreative Dilettanten halten (namentlich in einer gewissen geteilten Stadt), sollten hier mal studieren, wie man via technisches Unvermögen wirklich neue Spielweisen ausbaldowern kann. Nach der ersten LP wurde Palm Olive von Ingrid Weiss ersetzt, Palm Olive war nach Indien gegangen oder Nepal oder so. Mit Ingrid wurde lange getourt, wenn auch immer wieder bürgerliche Verpflichtungen wie Uni dazwischenkamen. Vicky spielte ihre Geige, die sie schon lange beherrscht, bei diversen Sessions, unter anderem mit Tuxedomoon, und Gina Birch nahm mit Red Crayola die Kangaroo?-LP auf, fehlte dann jedoch wieder bei deren Tourneen wegen ihres Examens in Kunstgeschichte (das Malevitch-Cover von Odyshape scheint eine Frucht dieses Studiums). Die zweite LP, Odyshape, wurde für Deutschland auf Carmen Knoebels Pure-Freude-Label veröffentlicht und kam zuerst bei niemandem so recht an, auch nicht bei mir oder dem zuständigen Sounds-Rezensenten Braunsteiner, der damals allerdings prophetisch formulierte, mit der LP könne es irgendetwas auf sich haben, das man so schnell nicht begreife. Dem ist so.
Ingrid Weiss ist auf der Platte kaum noch vertreten. Das Schlagzeug teilen sich Raincoats-Managerin Shirley O’Loughlin, Richard Dudanski, Robert Wyatt und Charles Hayward von This Heat, letzterer in wahrhaft genialer Manier. Für die Tour verpflichtete man zunächst Anton Fier von den Feelies, Lounge Lizards, Pedestrians u. a. In Hamburg hatte man dann wieder Charles Hayward von This Heat hinter einem voluminösen, die halbe Bühne füllenden Schlagzeug, das er brillant bewältigte. Spezialist für Nuancen, der er ist, wirbelte er seine Sticks über kleine und noch kleinere Percussion-Utensilien und baute einen Detailreichtum auf, der die genial-dilettantischen Vorgängerinnen direkt vergessen machte. Gina, Vicky und Ana tauschten ständig die Instrumente und die Mikros, versangen sich bei ihren Chor-Passagen und bei den komplizierten Einsätzen, was aber nur blöde perfektionistische Musikkritiker störte, die in Live-Musik immer noch und vor allem die Realisation eines Arrangements sehen statt, wie es richtiger wäre, zu begreifen, daß wahre Musik aus dem Wechselspiel von geplanten und planbaren Elementen mit Nuancen des persönlichen Ausdrucks entsteht. „Wir sind mal mehr und mal weniger perfekt“, meint Vicky. „Heute abend waren wir nicht sehr zusammen, dafür haben wir in Düsseldorf sehr viel genauer gespielt, aber perfekt wollen und werden wir eh nie sein.“ Die Raincoats haben eine charmante Art, immer so kompliziert zu arrangieren und zu komponieren, daß ihre technischen Fähigkeiten immer ein ganz klein wenig und gerade eben überschritten werden. So entsteht nie Routine. Sie arbeiten sich an den Songs ab bis sie sie können, dann suchen sie sich neue. Songs von der ersten LP gibt es kaum noch in ihrem Repertoire.
„Es geht uns um Balance“, sagt Gina Birch. „Eine Balance zwischen Herz und Perfektion. Eine vollkommen rohe Musik kann sehr viel Herz haben, eine perfekte überhaupt keines. Was wir wollen, liegt dazwischen.“ Es ist schön, diese Spannung zu haben. Verspieler sind nur dann schön, wenn ihnen beeindruckende Ordnungen, durchdachte Kompositionen entgegengesetzt werden. „Ja, genau so denken wir uns das. Wir übernehmen uns gerne, gehen gerne Risiken ein.“ Warum habt ihr eigentlich eure Schlagzeuger so oft gewechselt? Ana Da Silva (nach allgemeinem großen Gelächter): „So oft war das gar nicht. Palm Olive wollte nach Indien und ein Kind haben, Ingrid schied nach langer Zeit aus diversen Gründen aus. Danach hatten wir nie wieder eine feste Schlagzeug-Besetzung. Charles spielt jetzt immer dann, wenn This Heat Pause macht, bei uns.“ Da war dieses Gerücht, ihr hättet mit Anton Fier gebrochen weil sein Spiel sexistisch sei?
Ana, nach johlendem Gelächter für eine gute Minute: „Ja, haha, also er ist ein sehr guter Schlagzeuger, aber er hat ein seltsames Ego und …“ Vicky: „Wir könnten eine Menge seltsame Geschichten über ihn erzählen. Eines Tages hatten wir diese Diskussion mit ihm und wir fragten ihn, ob es daran läge, daß wir Frauen seien, daß wir ihn noch nicht richtig kennengelernt hätten, und er drehte durch und schrie: ‚Oh, nein, um Gottes willen.‘ Es funktionierte halt nicht.“ Ana: „Er war nicht realistisch genug.“ Vicky: „Doch!“ Ana: „Ich meine, daß er glaubt, mit uns könne man einfach so spielen, ohne zu reden.“ Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das paßt. Bei seinem Stil sind so viele Kenntnisse und Traditionen wirksam, die in eurer Musik doch eigentlich eher zerstört werden? „Es war der totale Culture Clash, was da zusammenkam.“ Komisch, irgendwo haben doch alle Frauen-Bands Drummer-Probleme, andererseits hatte die beste Rock’n’Roll-Band aller Zeiten … Vicky: „… eine Schlagzeugerin. Ja, richtig. Alle Bands haben Probleme mit Schlagzeugern. Es gibt kaum gute. Und da es allgemein nicht viele Musikerinnen gibt, sind die Schlagzeugerinnen die seltensten.“ Aber wenn Frauen Schlagzeug spielen, sind sie immer sehr interessant. Sie negieren tradierte (männliche?) Rhythmen nicht wie Free Jazzer, aber sie mogeln sich irgendwie dran vorbei. An dem Abend, und auch bei den Slits, hat man das Gefühl, die alte Pop-Tradition, daß Frauen nur als schöne, unbedeutende Back-Up-Sängerinnen in den Hintergrund gestellt werden, sei hier umgekehrt worden. So wie beim Back-Up-Gesang die gesellschaftliche Frauen-Rolle (schön, dumm, unauffällig) in die Musik übernommen wird, wird hier der Mann auf ein funktionales Stereotyp reduziert: das Beherrschen von komplizierten Maschinen mit schwierigen Techniken. „Für Charles gilt das bestimmt nicht. Er ist ein sehr sensibler Drummer, der auch Eigenes zu unserer Musik beisteuert. Er ist absolut kein Handwerker.“ „Er denkt vor allem ähnlich wir wir!“ Später kommt er dazu und hält, von bühnenreifen Grimassen begleitet, brillante langwierige Vorträge über Strategien der Subversion, im großen wie im kleinen. „Wenn du mal nach London kommst, mußt du mal unser This-Heat-Studio besuchen. Natürlich zahlt dir keine Plattenfirma den Flug. Laß dir einfach den Flug für eine andere Gruppe bezahlen, schreib über die irgendeine nichtssagende, unverbindliche Story, und dann schreibst du seitenlang über uns. Das ist auch ein Beispiel für das, was ich meine.“ Er kennt sich aus.
Vicky entpuppt sich als sprachgewandte Unterhalterin, redet schnell, wie ich es gerne habe, ohne viele „well’s“ und „quite’s“, wie so viele englische Pop-Figuren, sie ist eindeutig ein Mensch der Sprache und der präzisen Antworten. Verblüffenderweise schreibt sie fast keine Songs, sondern die besten stammen fast alle von Gina. Die drei Raincoats-Mädchen gehören wie etwa auch Lora Logic einer eigentümlichen Menschengattung an, die man vor allem bei Rough-Trade-Künstlern vorfindet. Dieses Rough-Trade-Lebensgefühl, das sich schon in bizarren Mode-Begriffen äußert, jener seltsamen, nie hippiemäßig-wallenden, nie new-wavig-seriösen, nie foolesk-überbunten, nie studentisch-abstoßenden, zwischen obergeschmacklos und schreiend faszinierend pendelnden Kleidung, die man bei fast allen Künstlern dieses Labels findet. Ein Oberbegriff von Anti-Stil-Stil scheint da unbemerkt von denen, die für sowas normalerweise Worte und Begriffe erfinden, sich entfaltet und vervielfältigt zu haben. Dazu kommt meist auf der menschlichen Seite eine besonnene Entschiedenheit, eine freundliche Aggressivität, der goldene Schnitt zwischen frühen, kämpferischen Hippies und aufgeklärtem Punk. Aber eigentlich noch viel besser, neuer: ETWAS ANDERES. Natürlich wittert man dann hin und wieder doch alte Hippie-Schlacken, so daß man sich bezüglich einiger Elaborate eine nähere Auskunft erbittet, so die Zeile mit dem Spirit, der den Körper verläßt. Aber das erweist sich mal wieder als ein Übersetzungsfehler. Unsere Sprache und ihre Konzepte vom Wort „Geist“ unterscheidet sich zu sehr von den vielen Begriffen, die das Englische hat, die auch für sich jeder vieldeutig sind. Spirit meint bei ihr, versichert Gina, nichts Religiöses. Sie wollte in diesem Song nur das Gefühl beschreiben, wenn man sich plötzlich im Raum sitzen sieht und den eigenen Körper wie einen fremden Menschen anschaut.
„My body beats to new rhythms“ war eine interessante Zeile, die für mich die gesamte Raincoats-Musik überschreiben könnte. „Zunächst handelt der Song von dem Gefühl, schwanger zu sein. Aber andererseits stimmt das. Ich habe sehr oft das Problem, eine Melodie zu schreiben, die in einem normalen, bekannten Rhythmus nicht funktioniert, also muß rhythmisch was Neues zusammengesetzt werden. Das geht mir fast immer so. Es sei denn, die Idee des Songs geht vom Rhythmus aus. Wenn der zuerst da ist, ist das einfacher, als wenn ich meine Melodie-Ideen rhythmisieren muß. Aber da es meistens umgekehrt läuft, sind wir wohl rhythmisch so kompliziert.“ Vicky: „Man sagt uns oft nach, wir würden Folk-Musik machen. Das ist nicht richtig, weil das wieder so eine fixierte Kategorie ist. In Wahrheit machen wir natürliche Musik, was aber nicht unbedingt bedeuten muß, das sie gerade und einfach zu sein hat. Sie muß atmen. Sie hat eine Beziehung zu natürlichen Rhythmen.“ Gina: „Aber nicht im Sinne von Dschungel-Trommeln!“ Vicky: „Genau, keine Dschungel-Rhythmen, unsere eigene Natürlichkeit.“ Ähnliche Zielsetzungen wie beim Reggae, nicht wahr? „Nein, Reggae ist meditativ, wir nicht. Beim Reggae gibt es dieses Zurückgelehnte, Coole. Bei uns ist das eine andere Art von Intensität.“ Ana: „Wir leben in unserer Kultur hier. Unser Spielen ist geprägt von der Notwendigkeit, unsere Welt zu verstehen, zu erforschen.“
Und was Odyshape betrifft: Die zerüttete Behaglichkeit, die bedrohte Wärme, die sie ausstrahlt, gehören zu dem seltensten und tiefsten Klängen, die ich in letzter Zeit gehört habe. Sie hört sich immer wieder an, als würde sie live im Nebenzimmer entstehen. Gerade jetzt.


