Es ist 2 Uhr 30. Wir sitzen seit zwei Stunden in einer sinistren Hamburger Subkultur-Kaschemme. Der Rauch findet keinen Abzug, die Alkoholika sind zu narkotisierenden Nebelschwaden verdunstet. Mein Gesprächspartner, der an diesem Abend nur Milch und Mineralwasser getrunken hat, verabschiedet sich. Ich bleibe noch einen Moment sitzen. Hinter mir liegen sechs Stunden, in denen ich versuchte, einem der faszinierendsten Phänomene zeitgenössischer Musik auf die Spur zu kommen: XTC. Und der sich da draußen ein Taxi winkt, ist zumindest 60 % dafür verantwortlich: Andy Partridge.
Vor dem Konzert war ich in der Garderobe. Alle waren geschäftig und lachten. Aus dem Bordcase eines Musikers oder Roadies sah das Titelmädchen des neuesten amerikanischen Playboys heraus. Dave Gregory kommt auf mich zu und fragt, ob ich ihn interviewen wolle.
Gerne.
Dave Gregory spielt Gitarre. Er ist erst seit Anfang 79 bei XTC, er hat Barry Andrews ersetzt. Hört man sich alte XTC-Platten (WHITE MUSIC, GO2) an, glaubt man, Barry Andrews’ unorthodoxes Keyboardspiel sei zu einem großen Teil für die Originalität des XTC-Sounds verantwortlich. XTC-Musik ist Anders-Sein in vertrauten Formen. Durch Barry Andrew auffällige Spielweise lokalisiert man Anders-Sein im Kontrast von scheinbar Unvereinbaren, also im Arrangement (Keyboard paßt nicht zur Restmusik).
Dieser Eindruck reduziert die Musik von XTC auf einen Gimmick, einen Kunstgriff, und lenkt von den Kompositionen ab. Durch DRUMS AND WIRES stellt man fest, daß das verfremdende Barry Andrews-Spiel in Wirklichkeit auf Schwierigkeiten beruht. Die drei anderen sind schon lange zusammen, Andrews mußte als vierter Mann etwas eigenes beisteuern oder sich anpassen, schließlich stellte er sich neben die Musik, betrieb Selbstdarstellung. Auf DRUMS AND WIRES ist er nicht mehr dabei und hier hört man einen vierten Mann, der nicht aus dem Kollektiv ausbricht, aber trotzdem die ihm eingeräumten Spielräume zu nutzen weiß. Seine Soli und Fill-Ins auf der Gitarre haben nichts clowneskes und demonstratives, betonen nicht das Exaltierte, das der Band ja ohnehin anhaftet, sondern verbinden, verdichten, bringen der Musik die Präszision, die ihr fehlte, als sie sich im Klassischen Rock und Jazz-Nebeneinander der Solisten und Individuen zu verlieren drohte. Im Vordergrund steht wieder die Komposition, und damit das Kollektiv.
Dave Gregory wirkt auch, fast folgerichtig, bescheiden und ruhig. Er ist kein Selbstdarsteller, würde sich nicht mit zum Gruß erhobener Bierdose fotografieren lassen. Er erklärt, daß auch für ihn das Arbeiten in einem Kollektiv wichtig ist. Die Imagelosigkeit der Band liege eben auch daran, daß sie nur eine Band sein will, die bestimmte Musik und bestimmte Texte macht, aber völlig auf ein nichtmusikalisches Styling verzichtet, was sie von den Ramones oder Devo oder anderen Anti-Ego-Bands unterscheidet. Dave Gregory möchte auch nicht unbedingt komponieren, um sich selbst zu verwirklichen geht er in instrumentalen Aufgaben auf, in ihm lebt noch der vom Jazz geprägte Musiker-Geist. Das mag zwar etwas altmodisch sein, paßt aber ausgezeichnet zu XTC.
Und die erste Frage, die ich Andy Partridge nach dem Konzert (das übrigens toll war) in der Lobby des Atlantik-Hotels stelle, ist die nach der Basis, den Roots.
Woher er kommt, wohin er will?
Er zieht die Augenbraue hoch und stochert lustlos in seinen Roastbeef, „Pop-Songs!“
Was ist das?
„Wir mögen immer noch die Small Faces, die Kinks, die Monkees, die Beatles, wir mögen Songs“.
Aber XTC hat das doch weiter entwickelt, XTC ist doch gerade nicht eine dieser Bands, die z. Zt. gedankenlos und ohne Blick Material aus den 60ern kopieren und uns mit schleimiger neuer Langeweile versorgen, XTC ist doch so zeitgenössisch, wie innovatorisch. Wie soll da der klassische Pop-Song eine Grundlage bleiben, wie weit kann man mit Songs gehen?
„Die Songs auf der Residents-LP DUCKSTAB/BUSTER & GLEN sind ein Maßstab, genauso würden die Beatles heute klingen, wenn Lennon/McCartney weiter so hätten zusammenarbeiten können wie in den 60ern“.
Methoden
Was ist mit der Pop Group, die doch unter ekzessiver Verwendung von Dub, atonalen Passagen, elektronischer Verfremdung so etwas wie Song-Strukturen bewahrt haben und sicher nicht umsonst heißen, wie sie heißen (auch wenn es ironisch gemeint ist)!
„Die Pop Group, das sind ernsthafte junge Männer, wie die meisten neuen Bands, sie nehmen sich und ihre Empfindungen so ernst, daß es starr wird“.
XTC haben einmal in einem Songtext beschrieben, was sie unter Pop verstehen: „We come the long way / We come the wrong way / We play our songs much too loud / … / How do you call that noise / … / This is Pop“
Pop Song ist also ein Ausdruck von Vitalität und Humor und überschreitet die Grenzen des Gewohnten, des guten Geschmacks bis hin zum Schrägen (in diesem Punkt sind die Monkees vielleicht wirklich Vorläufer von XTC) aber eben nicht dumm und reproduktiv, das sind nur die Revivals. Erstaunlich, daß eine der wenigen Bands die bei Andy positiv wegkommen Cowboys International sind. Ähnlich wie XTC haben Cowboys International Traditionen, die sie nicht verhehlen, imitieren aber nicht die Errungenschaften ihrer Vorbilder, sondern übernehmen nur deren Methode um sie auf ihre Erfahrungen, ihr Leben, ihre Zeit zu übertragen. Zwangsläufig entsteht dabei eine andere, neue Musik.
Alles Attitüdenhafte, Selbstdarstellerisehe ist Andy ein Greuel. Seine Bühnenpräsenz ist Energie, Entäußerung, aber sie steht für sich, verweist auf keine Mythen und Images, wie sie aus der Pop-Geschichte bekannt sind, er hat tatsächlich den Ehrgeiz Andy Partridge zu sein und sonst nicht. So macht er sich auch über die neue Talking Heads LP lustig, obwohl er die Band früher gemocht hat, mit ihnen getourt ist. Mittlerweile stehe David Byrne völlig im Mittelpunkt und würde nur noch von Einem reden: „This ain’t no party … is this a party … this could be a party … this should be a party … there’s a party in my mind … everybody leaves the party … and so on.“
Inzwischen sind wir ziemlich unsanft aus dem Atlantic vertrieben worden und fahren in eine Kneipe von Hängern, Gescheiterten, Studenten und Künstlern, dem anderen Ende der BRD. Wir fahren mit dem Auto, im Kassetten-Recorder läuft U-Roy, den Andy mag und er fragt wieso hier überall mehrspurige Prachtalleen seien, auf den keine Autos fahren und erinnert sich an seinen Song „Roads Girdle The Globe“ und sagt, daß er Autos haßt.
In der Kneipe angekommen und am letzten Tisch niedergelassen, hacke ich gleich wieder auf der Kollektiv-Frage herum. Ich bitte Andy seine Beziehung zur Restband zu verdeutlichen. Er holt aus. Das Schisma mit Barry habe begonnen, als der anfing zu komponieren. Für GO2 hätten sie fünf Songs von ihm aufgenommen, aber nur zwei verwenden können, und auch die seien für ihn die Schlechtesten auf der Platte. „Damals sah es so aus (er legt einen Zeigefinger an das eine Ende des Tisches): Hier war Barry, (er legt den anderen Zeigefinger ans andere Ende) da war ich, Colin und Terry in der Mitte“.
Über die Gegenwart sagt er nicht so viel: „In Amerika haben sie alle Colin 5 Moulding-Songs auf die erste Seite getan, meine auf die Zweite, damit die Platte mehr Airplay bekommt, „Making Plans For Nigel“ ist von Colin und war unser erster Chartserfolg, er ist McCartney, ich bin Lennon“.
Mit dem habe ich mich als Kind auch immer identifiziert, richtig sympathisch der Andy, ich versuche zu prüfen, ob er Recht hat. Er trägt eine John Lennon-Nickelbrille, leicht getönt, und bei Pointen oder wichtigen Stellen in seiner Rede zieht er die rechte Augenbraue über den Rand der Brille, er ist schmucklos angezogen, brauner Studenten-Parka, undefinierbare englische Hosen, er spricht leise und bestimmt, es könnte stimmen, der gleiche britische Zynismus, aber mit einem John Lennon in der Band gibt es kein Kollektiv.
Dub
Was er mit dem Vergleich sagen will, ist natürlich nichts anderes als daß er A. P., die Avantgarde in der Band ist, Colin Moulding der Gefällige, dessen Songs die Kohlen einbringen. Andy Partridge hat genaue Vorstellungen, wie die Weiterentwicklung der XTC-Musik vor sich gehen soll, welche Stilmittel forciert werden sollen. Auf WHITE MUSIC, der ersten LP, gab es eine Fassung von „All Along The Watchtower“, bei der Andys Gesang abgehackt und verfremdet klang, bis zur Unkenntlichkeit des Textes. Er fand das sehr gut, konnte sich das aber bei Eigenkompositionen nicht leisten, da kein Mensch mehr die Wörter verstanden hätte, die bei „All Along The Watchtower“ jeder kennt. „Complicated Game“ geht in die Richtung, mehr noch die Dub-Fassung von „Meccanik Dancing“: „ Dance With Me, Germany!“ Diese Dub-EP, die einer begrenzten Auflage von G02 beigefügt war und in der Geschichte der Rock-Musik bis heute einzigartige Experimente enthält, war keineswegs ein einmaliger Gag. Partridge, der in gleicher Weise an weißen Avantgardisten (Philipp Glass – alle reden ja zur Zeit von ihm), wie an Reggae interessiert ist, hat jetzt die Bänder von DRUMS AND WIRES neu gemischt und an einigen Stellen neue Gesangstracks drübergemischt. Demnächst erscheint die erste weiße Dub-LP, die mehr sein soll als Dub in Jamaika oft ist: eine instrumentale Variante der Songs, mit ein paar Studio-Effekten angereichert.
TAKE AWAY, wie die Platte vermutlich heißen wird, soll stattdessen neue live nicht realisierbare Wege im Rahmen der XTC-Musik begehen. Die ersten Dub-Experimente haben ja schon auf das „normale“ XTC-Repertoire gewirkt. Wer gesehen hat, wie XTC „Complicated Game“ oder „Battery Brides“ in ihrem aktuellen Set (der übrigens angeblich jede Nacht wechselt) spielen, weiß wie weit sie gehen mit Atonalität, komplizierten Rhythmen. Stimmverfremdungen – und trotzdem bleiben sie die laute Pop-Band und die Punks im Publikum pogoen unverdrossen weiter.
Dub spielt bei XTC auch eine ganz andere Rolle, als bei Bands wie den Slits oder der Pop-Group, wo eben ein Reggae-Produzent bestimmte Effekte eingebracht und z. T. auch sehr gut integriert hat, die aber eindeutig ihre jamaikanische Herkunft verraten. Eine der großen Stärken von XTC ist eben ihre Fähigkeit, Fremdeinflüsse völlig zu transformieren und sich selber anzueignen.
Schließlich geht Andy und hinterläßt bei mir den Eindruck, Kopf der Sache zu sein, ich habe weitgehend seine Schilderung der Barry Andrews-Affaire übernommen und der Eindruck vom etwas gesichtslosen Kollektiv ist dem von der Andy Partridge Band gewichen, obwohl gerade auf der ersten Platte auch Colin ziemlich avantgardistische Sachen geschrieben hat und auf GO2 einige sehr schöne, der Musik zuträgliche Beiträge von Barry Andrews zu finden sind. Ich frage einen Freund von Andy, der die ganze Zeit dabeigesessen hat, was Andy Partridge für ein Mensch sei. Er beginnt seine Antwort mit: „Er ist ein Intellektueller!“


