Ewige Fragen. Muß Politik von Herzen kommen? Und wenn, wo führt das hin? Wehmütige Betrachtung von Diedrich Diederichsen.
Die Geschichte sei verschwunden, heißt es allenthalben, bei Philosophen, Historikern, Hysterikern; Geschichte als perspektivischer Ablauf soll nicht mehr gedacht werden können, weder die Perspektiven des Fortschritts, der Revolution, noch die des großen Untergangs lassen sich aufrechterhalten. An ihre Stelle ist die Realpolitik (ohne Anfang und Ende) getreten mit dem Monopol auf die Praxis und die Emotionalisierung von Nebenkriegsschauplätzen an Stelle von Opposition. Diese Nebenkriege werden mit aufgeregter Intensität ausgetragen, vor dem Horizont großer verunsichernder Katastrophen, die ihrer Struktur nach alle Merkmale antipolitischen Kitsches tragen. Tschernobyl! – purer Kitsch, der allerschlimmsten Sorte, bestenfalls ein US-Trash-Film der 50er. Das Gemüse vergiftet! Von fremdartigen Strahlen! Invasion Of The Body Snatchers! Der Rhein vergiftet von … ja, was eigentlich. „Von der Chemie!“ lautet die Antwort von Millionen Bürgern, was mich immer an einen alten Helga-Feddersen-Auftritt erinnert, wo sie sagt, früher sei es uns ja noch gut gegangen, da hätten wir die Umwelt noch nicht gehabt. Bei „Challenger“ erleben wir die Katastrophe als Triumpf, wieder einmal wird die amerikanische Bevölkerung kathartisch an ein Symbol der US-Expansion gefesselt. Wie das Geschoß millionenfach im Fernsehen gezeigt, dekorativ zerbirst, in die schöne blaue Unendlichkeit über Florida hinein. Florida, und dahinter die Unendlichkeit.
Der Kapitalismus und die von ihm profitierende Klasse fühlt sich inzwischen selber wie ein nicht mehr historisches Phänomen. Die letzten Symbole der Arbeiterbewegung, die SPD und die Gewerkschaften, sterben langsam ab, amerikanische Verhältnisse stehen vor der Tür; an die Stelle des Klassenbewußtseins, das in Deutschland eh nie verbreitet war, tritt die Nation als Werbeagentur: Jeder kämpft gegen jeden, um etwas zu verkaufen, was man nicht kaufen kann: Ununterscheidbarkeit, Individualität. Freilich weiß jeder, daß die Gesellschaft der 60 Millionen Individualisten die fadeste, nivellierteste ist, die man sich vorstellen kann, sie wird noch einmal hysterisch aufschreien, bevor sie mit einem Seufzer zugrunde geht. Dann wird sich vielleicht der Blick auf die Gesellschaften richten, deren Problem noch die Gerechtigkeit ist und die dabei noch soviel greifbare, fühlbare Ungerechtigkeit produzieren: die, die sich sozialistisch nennen und diesen Titel vielleicht auch verdienen.
Bei uns ist das Problem der Gerechtigkeit verschüttet unter den letzten Wehwehchen des Individuums und seinem halluzinierten Gegenüber in einer ahistorischen Welt, der Natur, daß man sich nur noch dem Namen nach daran erinnert, daß der Mensch einst ein soziales Wesen war, bevor er zum Privatpatienten degenerierte …
Oder sich entwickelte. Denn natürlich produziert der Reichtum der Ersten Welt an seinen Enden und Spitzen genau die Neurosen, die ihrerseits die Feinheiten hervorbringen, die eine ungerechte Welt transzendieren, die sozusagen den Stoff liefern, aus dem man eine bessere machen kann: Kunst. Und wo die Neurosen und Zustände die Voraussetzung dafür sind, immer weiter in den Mittelstand hereinwuchern, ja sogar das Terrain erobern, wo früher einmal das Proletariat lebte, sich also das bürgerliche Verfeinerungsprivileg mit den realen Ausbeutungs- und Glückverhinderungserfahrungen eines Ohnmächtigen mischt, da kann man wenigstens auf neue Bilder einer anderen Welt hoffen, an denen es uns ja auch so mangelt: gute Bilder und gute Analysen eines Kapitalismus, wo sich das Präfix „Spät“ kraft der real gelungenen Suspension von qualitativem Wandel und damit der Erfahrbarkeit von Geschichte verbittet.
Die marxistische Analyse ist ja nach wie vor richtig, nur läßt sie kein Handeln mehr zu, weil ihr Gegenüber, der pluralistisch-parlamentarische Staat, das höchste Niveau des Regierens erreicht hat: totale Absorption. In einer Welt, wo sogar das Absägen von Strommasten von Lifestyle-Illustrierten als kecke, schräge Designer-Militanz rezipiert werden kann, bleibt einem nichts anderes übrig, als jedem zu raten, in die Gewerkschaften einzutreten, so albern das auch klingen mag.
Gleichwohl ist es nötig, den Kämpfern von Orten wie Wackersdorf Solidarität auszusprechen. Zwar bevölkerten auch sie einen Nebenkriegsschauplatz, insofern, als es ja um ein oberflächlich gesehen nur grünes, also Öko- – also der Welt der unpolitisch-emotionalisierten Gift-Themen zugehöriges – Anliegen ging, aber sie holten es zurück auf den Hauptkriegsschauplatz, indem sie den Staat vorführten, der immer noch andere Mittel zur Durchsetzung menschenfeindlicher Politik hat als Lifestyle-Illustrierte, nämlich Gewalt. Und sie machten klar, daß es hier wirklich gegen den Menschen ging, nicht gegen Fische, nicht gegen die Natur. Aber dieses Handeln war dennoch ein emotionales, geboren aus marginaler Empörung, nicht aus marxistischer Analyse (was nicht heißt, daß die nicht unter Umständen zu den gleichen Ergebnissen gekommen wäre), und daher bleibt das Problem, daß die Philosophie des Marxismus – deren Wesen ja gerade ist, eine Philosophie der Praxis zu sein – praktisches Handeln heute fast immer und immer am überzeugendsten widerlegt, jedenfalls im Rahmen der BRD und ihrer realpolitischen Blödheit.
Weil: was soll man zum Beispiel wählen? Das System legitimieren durch sein blödes Kreuzchen? Oder Mitleid mit dem Untergang der großen Volkspartei empfinden? Oder defätistisch glauben, daß man ein anderes System in dieser Lebenszeit, die ja eine begrenzte ist, eh nicht mehr bekommt und man sich also den Regeln dieses Systems beugen soll und sich mit dem kleinen Glück zufrieden geben, daß man mit dem Kreuz bei den Sozis ein paar Arbeitslose verhindert, und ist nicht jedes kleine Menschenleben so eminent groß und wichtig? Und sind wir nicht alle sozialdemokratische Scheißer geworden und haben auch ein Recht dazu?
Früher sagte man, wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer es mit 30 immer noch ist, hat keinen Verstand, was noch nie stimmte, denn wer einen Verstand hat, hat ihn immer, aber was heute stimmt, ist, daß wer mit 20 kein Kommunist ist, keinen Verstand hat, es aber mit 30 immer noch ist, kein Herz hat. Denn es ist das Herz, das Sentiment, die Erinnerung an eine Kindheit unter der Sozialdemokratie, die einen wider besseres Wissen handeln läßt. Der Verstand weiß immer noch, daß das Kreuz lediglich dazu da ist, den bürgerlichen Staat zu legitimieren, aber das christliche Mitgefühl und das Wissen um den Tod – nichts, worauf man besonders stolz sein kann – wählen SPD. Die Sterblichkeit ist eben der größte Feind der Einsicht. Mensch-Sein macht dumm. Wer es sich leisten kann, versuche sich göttlich zu benehmen. Ich gestatte mir die Schwäche, die Grünen zu wählen, weil sie am rührendsten noch an den Parlamentarismus glauben, sich am meisten abstrampeln, handele also am krassesten wider besseres Wissen. Die Emotionalisierung von Politik ist das größte Übel unserer Zeit. Wer es abschaffen will, kann gleich bei sich selbst anfangen, was ich hiermit zu meinem guten Vorsatz fürs neue Jahr erkläre.
