Rasende Kopfschmerzen hämmern gegen die Schädeldecke. In dem mäßig erleuchteten „Moonlightclub“ in London spielen In Kamera. Vier hochaufgeschossene, düstere junge Männer. Vorne steht einer, der stammelnd zu schleppenden Akkorden seinen Weltschmerz erbricht. Diese militante Innerlichkeit ist nach einem Nachmittag mit 999 wirklich der radikalste Kulturschock, den man sich vorstellen kann.
Man merkt in London wirklich immer deutlicher, daß Rationalismus und Auseinandersetzung mit den Dingen dieser Welt unter den neuen Gruppen mehr und mehr außer Mode gerät; und auch wenn In Kamera eine passable Single gemacht haben und ihr Drummer wie ein junger Gott spielt, packte meinen dröhnenden Schädel in diesem Moment eine massive Sehnsucht nach den klaren und präzisen Auskünften, die mir noch kurz vorher Nick Cash gegeben hat, der väterliche Sänger von 999. Stundenlang hätte ich mit dem rundlichen gemütlichen Mann plaudern können.
Eigentlich ist mir ja dieses Lob des einfachen Mannes ein Greuel, diese Griechenlandfahrer-ldeologie, daß ein alter Schäfer, der in seinem Leben nur zwei Worte gesprochen hat und ansonsten seinen Mund von seinem weißen Bart hat zuwachsen lassen, viel weiser sei als wir kopflastigen Zivilisationsmenschen. Aber Nick Cash ist wirklich weise. Kommt mir jedenfalls so vor, wenn er mit gewinnendem Lächeln breit über den Tisch lehnt, während seine Jungs wie Tick, Trick und Track im Zimmer rumalbem, nicht still sitzen können und sich Wodka/Orangensaft in mitgebrachte Plastikbecher schütten.
Wahrscheinlich geht er mit ihnen genauso um wie mit seinem ewig jugendlichen Publikum, das seit den frühen Punk-Tagen zu dieser Gruppe hält, obwohl zumindest die englische Rock-Presse mit ihren Literati und Philosophen nie so recht was mit 999 anzufangen wußte. 999 haben Jahre lang, unauffällig und unbeobachtet, einen Stamm von Kid-Fans der verschiedensten Arten geschaffen, vor allem Punks, aber auch den einen oder anderen Skin und Leute wie mich, die die absolute unprätentiöse Stilsicherheit 999s auf dem Terrain der Pop-Komposition und Interpretation zu schätzen wissen. Blues-Klischees und R&B-Harmonien meistens vermeidend, aber sonst ziemlich souverän mit den möglichen Ton-Kombinationen im Genre Pop/Beat hantierend, haben sie es geschafft, auf drei LPs und diversen B-Seiten in vier Jahren nicht einen peinlichen Song zu veröffentlichen, dafür einen Haufen kleiner Meisterwerke, vorläufig zeitlos, die man sich auflegen kann, wann immer man will, besonders wenn man sich die Jacke anzieht und ausgehen will.
999 erinnern an gar nichts. Nicht musikalisch meine ich, sondern sie lösen nichts Zusätzliches aus, nichts Außermusikalisches. Man wird sich 1987 nicht bei einem 77er 999-Stück an 77 erinnern, sondern vage an die Vergangenheit. 999-Songs bedeuten nämlich nichts. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos. Und das ist toll.
999 liefern erstklassige Gebrauchswerte, Material für den Alltag. Was kann man alles mit so einem bedeutungslosen Song anstellen. Hast du dir mal überlegt, für was so ein 999-Song nütze sein kann? Es gibt tausend Möglichkeiten. Bedingung für solche Songs ist natürlich, daß sie anregend sind, und das sind sie bei 999, weil sie ein totales Stil- und Formbewußtsein ausstrahlen. Sie wissen stets genau, was sie tun.
Ende der Mutmaßungen und Analysen über Nutzwert und Gebrauchswert, ein paar Worte von 999: „Wir bauen unsere Songs meist um ein Wort, eine Phrase oder ein Wortspiel herum auf. Das ist dann ein Zentrum, drum herum machen wir den Text – und die Musik.“
Wachstum
„Wir sehen uns langsam genötigt, auch vor größerem Publikum zu spielen, obwohl wir eigentlich skeptisch waren. Wir sind jetzt bei einem Festival als Headliner aufgetreten und wir fanden das gar nicht so schlimm. Es ist nun mal die logische Konsequenz, wenn unsere Fans immer mehr werden.“ 999 sind mit ihren drei Alben kontinuierlich gewachsen, obwohl sie nach eigener Auskunft in den drei Jahren nur eine Sache gelernt hätten („The use of the bass drum“), merkt man doch eine Entwicklung, wenn man die auf einem unlängst aus vertraglichen Gründen, aber mit Billigung von 999 veröffentlichten Single-Sampler der Jahre 77/78 mit der letzten LP (THE BIGGEST PRICE IN SPORT) vergleicht. Irgendwie schien es die Band früher noch wichtiger zu finden, ihre Alkoholiker-Rauhheit, ihren Kid-Appeal zu artikulieren („Feeling Alright With The Crew“). Auf SEPARATES, der zweiten LP, beginnt die Phase, in der die Musik straffer, etwas simpler und formaler wird. Und lustiger. Auf SEPARATES ist auch „Homicide“, bis heute der größte Hit von 999 und ein wirklich rundum gelungenes Werk, das Spaß macht, nachgesungen zu werden. Ich habe zwar keine Ahnung, wovon es handelt, kenn nur die Zeile: „I believe in Homicide“ – Ich glaube an Mord –, aber man kann sich eine Menge tolle Sachen dazu vorstellen. Der ganze Song ist ein Aphorismus.
In Deutschland haben 999 meines Wissens erst zweimal gespielt. Jetzt sind sie wieder auf Tournee, zusammen mit den Fehlfarben, die ja eigentlich viel wichtiger sind als 999, zumindest für uns Deutsche, aber sie passen gut zusammen. 999 werden auf der Tour erstmals Stücke aus ihrer neuen LP spielen: „Scandal In The City“, über eine Meldung aus der „Sun“, „Christmas Card“, über das große Geschäft mit Weihnachten – hatten wir in der 7. Klasse als Aufsatzthema – und alle Hits der Vergangenheit, vor allem von THE BIGGEST PRICE IN SPORT. Die neue Platte wird so ähnlich sein: „Wir verändern uns auch, aber wir sind keine Avantgardisten“, sagt Nick Cash. Nein, 999 haben überhaupt keine Ansprüche. Fast hat man das Gefühl, ihre Musik wäre nichts anderes als die erste völlig pure, ungetrübte Abstraktion von Rock’n’Roll, die so frei ist von persönlichem Mitteilungsbedürfnis und so ausschließlich geprägt ist von der Freude an der Form, daß man in früherer Zeit von l’art pour l’art, Kunst um der Kunst willen, gesprochen hätte. Heute weiß man, daß der Begriff unsinnig ist und auch der scheinbar rein formale Aspekt von Kunstwerken Bedeutungen trägt und umgekehrt.
Aber um den Rock’n’Roller mit Theorie nicht zu überfordern, sei gesagt, daß man 999 auf jeder Ebene genießen kann; als Pogo oder als Essay.

