ABC – Gottes Nasenspray

„Vanity Kills / You love you / Vanity kills / If the blast don’t get you, then the fallout will / You love you“

(ABC, „Vanity Kills“)

„I’ve got a big problem, Diedrich, very big problem. You know what my problem is? You know what? I’m much too famous.“

(Julian Schnabel, im Gespräch)

Es war der Morgen nach der Nacht, in der ich dies geträumt hatte: Ich bin Andy Warhol, komme zu meiner eigenen Eröffnung und stelle fest, daß Paul Maenz statt meiner allgemein bekannten Werke, die wenig bekannten tschechoslowakischen, naiven Gemälde, die ich als Vierzehnjähriger für die Werbung der Firma „Gitanes“, vor meiner Schuhzeichner-Karriere noch, angefertigt hatte, aufgetrieben und ausgestellt hat. Doch störte mich das nicht so sehr wie die vielen Menschen. Ich war noch kurzsichtiger als in Wirklichkeit und trug einen Badge, mit der Aufschrift: „Don’t Talk To Me! Go Away!“

Das Gefühl, mich nicht mehr um mein Geschwätz von gestern sorgen zu müssen, machte mir gute Laune. Wetter ist interessant, wenn man es von oben sieht. Von oben ist die Welt ein einziges Nasenloch mit Mund-Rachen-Verbindung. Die Wolken sind Schleim, der sich an Gebirgsketten festhängt und die Atmung behindert. Manchmal schnupft die Welt sich aus oder verwendet Otriven-Spray, was vom Flugzeug aus sehr schön ist.

Die kleine Körpersonde schlingerte wie ein geflügelter Lastwagen – es war eine gut 40 Jahre alte Propellermaschine von Virgin Airlines, 29 Pfund im Last-Minute-Tarif, es gab kleine rote New-Wave-Bonbons („Sweets“), während ein Blick durch die viel zu großen Vickers-Viscount-Fenster auf die noch von Montgomery persönlich festgezogenen Schrauben (nicht etwa Schweißnähte!), die die Rolls-Royce-Kriegsökonomie-Propellerturbinen an den schlingernden Tragflächen festhielten, an die Bombennächte von 43 gemahnte, ausnahmsweise aus der Perspektive der Sieger –, schlingerte mühselig durch die erkältete Welt, und ich genoß bei aller Todesangst den Gedanken, daß es eben doch Fronten gibt, nur nicht mehr als richtig und falsch, sondern ausschließlich als Freund und Feind.

Edwyn Collins hatte einmal für den „Melody Maker“ – ’s ist schon Jahre her – die Singles bewertet. Zu einer Phil-Collins-Platte, einer ziemlich originalgetreuen Version von „You Can’t Hurry Love“, sagte er sinngemäß und ganz richtig: „Er kann noch so viele gute Versionen von guten Motown-Songs machen, man darf ihn nicht loben, denn er ist ein BOF, ein Feind. Haben das denn alle vergessen?“

ABC dagegen sind Freunde. Mark White: „Ich fürchte, das Modekarussel hat sich für uns in die falsche Richtung gedreht. Es ist nicht mehr modisch, modisch zu sein. Aber wir können nicht darauf verzichten. Es langweilt uns einfach, uns in Jeans auf die Bühne zu stellen und unsere Songs zu spielen.“ Tragisch, tragisch.

Eine ganz perfide Tragik – und wirkliche Tragik, weil man nämlich aus dieser hier etwas lernen kann, aus dem Average-in-Vergessenheit-Geraten des Average-Pop-Stars dagegen nicht. Weil ABC auf die massivste und ergreifendste Weise alle inneren und äußeren Motive, Dynamiken, Verschlagenheiten und Funktionsweisen von Pop nicht nur dargestellt, sondern auch noch eingearbeitet und instrumentalisiert hatten, mit ihrem ersten Beitrag zur Pop-Geschichte, dem Jahrhundert-Paukenschlag „The Look Of Love“, gab es für sie anschließend auf allen Ebenen, auf allen Bühnen, wo Pop gegeben wird, nur noch ein Zurück von den Charts bis zur Theorie. Es konnte nur schlechter werden.

Das Larger-Than-Life, das Spektakel um des Spektakels willen, das Gemachte, Artifizielle an Pop darstellen und sich dennoch seiner Dynamik hingeben – und all dies auch noch g-e-l-u-n-g-e-n. Aber dann der überflüssige und moralisch hoch einwandfreie Versuch, der den klassischen Intellektuellen auszeichnet und adelt, nach einem großen Erfolg erst mal nicht diesen zu verlängern, zu verdünnen und auszubauen, sondern – mit einem zweiten Album – erst mal den ganzen Rest Mißverständnisse abzubauen, den das erste noch liegengelassen hatte. „Selbstverständlich“, für die Landbevölkerung noch mal zum Mitschreiben, rief uns „Beauty Stab“ zu, „meinen wir das auch alles politisch.“

„Wir waren durch den Erfolg von ‚Look Of Love‘ viel herumgekommen und stark in glamouröse, oberflächliche Zirkel geraten, wo wir merkten, daß wir oft nur auf einer Ebene verstanden worden sind (als Eskapistenvorlage d. Verf.), daß man die verschiedenen Schichten unseres Konzeptes nicht begriffen hatte. Also wollten wir ein Album mit klaren Statements machen. Und wir dachten, was ist besser für klare, harte Statements, als verzerrte Gitarren zu benutzen, auch wenn es das Gegenteil unseres damaligen Sounds war und kommerziell sicher sehr unklug. Wir waren damit unserer Zeit um einiges voraus. Heute sind solche Gitarren in Mode, und die Eurythmics haben Hits mit schmutzigen Gitarrensoli.“

Man merkt Mark White, dem musikalischen Direktor von ABC, an, wie sehr ihm der totale Durchfall, den „Beauty Stab“ bei Publikum und Kritikern (außer mir) erlebt hat, heute noch zu schaffen macht. Da hilft es auch nicht, daß die Single „Be Near Me“ und das dazugehörige neue Album „How To Be A Zillionaire“ in den USA Top Ten war („Unser größter Triumpf. Wir waren in den USA höher als jede Trevor-Horn-Produktion.“), die unglaubliche Euphorie, die ABC einst auszulösen vermochten, den unbekümmerten Gigantismus, der alle Fragen und Einwände wegwischte und zusätzlich wie Pop-Formel, wie Dreh- und Angelpunkt der Epoche aussah, wird es nie wieder geben. Sie können noch so musikalisch, smart, klug, gewitzt, brit-humorig und von Hollywood-B-Filmen im Fernsehen erzogen sein, diese Menschen sind gebrochen. Das leise Grundwimmern, daß man gut als unter jeder Kneipenkonversation liegendes Grundrauschen immer dann erkennen kann, wenn die Musik für Sekunden verstummt, liegt auch unter der Rede Mark Whites.

Sie waren so richtig, und verdammt, das waren sie wirklich, und auch „Beauty Stab“ war ein phantastisch Glam-Rock-Album, wenn auch ohne Unschuld, aber dafür mit Humor, aber keiner hat es verstanden, keiner hat das Richtige an ihnen länger an die große Glocke gehängt. Und heute gibt es drei LPs von ABC, die, sieht man vom stimmlichen Wiedererkennungseffekt bei Martin Fry und gewissen melodieschreiberischen Techniken von Mark White ab, für den konventionellen Konsumenten, und damit für alle Welt, in drei völlig verschiedene Dinge zerfallen. Zufälligerweise können die Amis auf die letzte Platte tanzen. Aber was hat das wieder mit den verdammt richtigen Intentionen von ABC zu tun? Nichts.

Die entscheidenden Erlebnisse des Freundeskreises um Fry und White lassen sich leicht auflisten, unterscheiden sie sich doch wenig von den entscheidenden Erlebnissen des Restes der Welt: 1) Punk, den sie, wie eben gut 50 % der Bewegten, nicht als die Rückerkämpfung der Rockmusik durch die Straße verstanden, sondern als den Beginn der großen Künstlichkeit, den Anfang des Image/Mode/Strategie-Gesamtkunstwerkstils. 2) Trevor Horn, den sie bewundern und für ein musikalisches Genie, den modernsten Menschen der Welt etc. halten (auch wenn Mark White heute glaubt, Trevor würde philosophisch-psychologisch-verzwirbelt an der Arbeit am perfekten Album zugrunde gehen. Ein Sisyphos, der Soundschichten auftürmt und Disketten hortet.) – und 3) Hiphop, der sie als zweite, wie sie meinen, amerikanische Version von Punk eiskalt erwischte, als sie als die totalen Mega-Glamourboys vom großen Erfolg nach New York verschlagen wurden.

Die Idee, ein Hiphop-Album zu machen, war sofort da, aber die Rückkehr nach England, der quälende Gedanke, mißverstanden worden zu sein, zwang sie, dieses Projekt zurückzustellen und erstmal „Beauty Stab“, das politisch korrekte Glam-Lärm-Statement-Album, dazwischenzuschieben. Als dann in Form von „How To Be…“ das Hiphop-Album vorlag und sogar ihre Götter wie Keith LeBlanc („Malcolm X“) und Shannon so lobende Worte sprachen wie, „Ihr hättet gar keine Produzenten gebraucht, ihr könnt doch alles am besten“, war für das Vereinigte Königreich Hiphop nur noch Hop und ABC die outeste Band der Welt, auch wenn sie mit Fiona Russel Powell (Künstlername: Eden) die zweithipste Journalistin der Welt zur Band zählen durften.

„Ich kenne Fiona aus Sheffield seit sie vierzehn ist. Sie war auch kurz Mitglied von Vice Versa (dem ABC-Vorläufer, d. Verf.). Als zwei Leute die Band verlassen hatten, suchten wir zunächst nach einem regulären Schlagzeuger und Bassisten, aber, wenn mal einer kam, der spielen und das Tempo halten konnte, war er meist inhaltlich von der Venus. Also dachten wir uns, daß die Beiträge von Musikern sowieso austauschbar sind und suchten nach Leuten, die dieselben Filme sehen, dieselben Bücher lesen und in dieselben Bars gehen wie wir, und erinnerten uns an Fiona.“

Was war denn ihr Beitrag zur Musik?

„Attitüde. Haltung. Klingt wie nichts, ist für uns aber sehr wichtig.“

Meiner Treu, das will ich glauben. Den zwergenhaften David, den sie dazu als zweiten Attitüde-Mann engagierten, hatten sie als Kleinkünstler in dem verderbten New Yorker Performance-Nachtclub „Area“ aufgelesen. Beide haben die Gruppe, der sie ihre Attitüden liehen, wieder verlassen.

Warum?

„Das Projekt ist vorbei. Wir machen jetzt wieder was anderes.“

Was?

„Ich weiß nicht. (Pause). Keine Ahnung. Auf Tour gehen.“

Mit wem, mit was?

„Keine Ahnung. Wir werden sicher wieder etwas sehr Theatralisches machen, eine Mischung aus Sly Stone und Banana Split.“

Pause.

„Ich glaube, ich möchte dann auch mal eine Platte machen, die das weiterführt, was wir bisher gemacht haben. Bislang hieß unsere Maxime, und zwar schon zu Zeiten von Vice Versa, als wir uns die Zeit damit vertrieben, kleine Manifeste zu schreiben, die später dann die Philosophie von ABC wurden, ‚Art Is Constant Change‘, aber heute denke ich manchmal, daß das einfach nicht durchzusetzen ist.“

Was wäre, wenn ABC in kritischen Momenten jemanden wie Morley gehabt hätten, der die komplizierten Ideen, die sich um die schmissigen Platten rankten, sloganmäßig aufbereitet und dem Hip-Volk erklärt hätte?

„Ich weiß zufällig, daß Island-Records demoskopisch untersucht hat, wie viele Plattenkäufer sich mit den Statements und überhaupt dem verbalen Teil von ZTT-Produkten beschäftigt haben. Über 80% sind über die ersten Zeilen nie hinausgekommen.“

Und es sind ja auch in Wirklichkeit keine komplizierten Ideen. Die habe höchstens ich, wenn ich an ABC denke, aber durch äußere Umstände gezwungen bin, die Luftschlacht um England oder „Die Reise durch den menschlichen Körper“ nachzuerleben. ABC sind nur logisch-britisch und 24. Also sie sind in Rebellion ebenso verliebt wie in gigantomanen Glamour und hatten zu einem Zeitpunkt das Glück, daß der reine Glamour die erregendste Rebellion war. Diese historische Sekunde des Glücks, daß Neigung und politisch-objektive Notwendigkeit zusammenfielen, war natürlich größer als jeder einzelne und alle zusammen von ABC – wie groß auch immer die sein mögen, solche Sekunden sind auch größer als Trotzki, Lennon, Dutschke und Beckenbauer – und anschließend muß man weitermachen, mußten sie weitermachen und irgendwie die Wirkungen und Reaktionen und Mißverständnisse dieses großen Blitzes ordnen. Wie können sie nur glauben, daß Eitelkeit töte. Nun gut, sie mag töten, aber wie können sie glauben, je eitel gewesen zu sein, wo sie doch nur von den Göttern begünstigt und beschenkt wurden.

Aber heute kommt es darauf an, daß man die Schicht abkratzt und sieht, daß sie Freunde sind, weil sie nicht nur mit Glück und Apollo und Dionysos und Pallas Athene und meinetwegen auch Hephaistos und Aphrodite großartig waren, sondern, weil sie die richtigen Ideen von Pop-Musik hatten, die auch heute noch richtig sind, nur bei ABC nicht zum Zuge kommen, weil die sich nämlich um die Trümmer des Gigantischen kümmern (müssen), statt auf eine Welt zu reagieren, die händeringend nach Eigentlichkeiten Ausschau hält, aber gegen das, was ABC gut können und bewirken, noch immer kein probates Mittel entwickelt hat. Friede der Eitelkeit, Krieg dem Lifestyle! Oder wie Mark White ganz richtig sagte: „Ich liebe Trevor Horn und seine Arbeit, aber jede 72er-Schepper-Single von The Sweet hat mehr Klasse als der ganze Frankie-Katalog.“

Pop-Musik dient dazu, dem Menschen zu erklären, daß er der größte ist. Und wenn sie das richtig gut macht und der Mensch das glaubt und groß und stark und unbesiegbar wird und seine Feinde an den Laternen aufhängt, dann ist das für den, der es gesagt hat, wie Fliegen für Ikarus (so weit weg von der Erde und so nahe an der Sonne, daß er den Schleim nicht mehr erkennen kann), und natürlich stürzt er ab. Auch wenn man heute nicht mehr daran stirbt. Aber man wird krank und liegt lange im Hospital. Dann muß man als Freund kommen und einen Krankenbesuch machen.