Age Of Chance

Die Geschichte der Rockmusik muß neu geschrieben werden. Warum? Wieso? Was soll’s? Schon geschehen: „Kiss“ hat neue Zeilen und George Clinton tanzt mit dem Kopf zuerst. Eins bleibt – das Süßer-als-Süße, gekostet von Zuckerzahn Diederichsen. Nach Diktat zum Zahnarzt.

Es ist durchaus wahr, daß dies ein Zeitalter der Chancen ist. Es kann z. B. Gorbatschow nichts anhaben, daß sich reihenweise Arschlöcher für ihn begeistern. Es kann Hammer und Sichel nichts anhaben, daß sie in den Boutiquen das Krokodil abgelöst haben. So was erlebt man nicht alle Tage. Es sind gute Zeiten für gute Zeichen, und alles Mögliche ist möglich. Und alles mögliche wird passieren. Und vieles davon wird gut sein. Auf der Höhe von Südnorwegen, mitten über der kalten, kalten Nordsee, biegt die kleine brasilianische Embraer-Maschine, die für die Lufthansa-Subfirma DLT die kleinen Routen bedient, nach links, also Westen ab und schwebt über Schottland ein. Nur fair und logisch, daß ich Age Of Chance in Glasgow treffe, da, wo auch für sie Norden ist, wo sie doch für mich sowieso schon Norden sind. Leeds eben. Eine dieser englischen Städte, von denen ich immer denke, daß man sie erklimmen muß, statt sie einfach besuchen zu können. Noch kurz vor der Landung ist die Maschine so hoch, daß man die beiden Schottland begrenzenden Meere sehen kann. Schöne Zeiten, wo Propellermaschinen so hoch und so leise und so schnell sind. Und aus Brasilien kommen. Statt von irgendeinem Strauß-Konzern.

Age Of Chance hängen in den Konferenzräumen einer Schule mit internatsmäßigen Zügen ab, wo sie am Abend spielen werden. Der Gitarrist erzählt mir und dem Vertreter ihrer neuen Plattenfirma Virgin wortreich so ziemlich alles, was man über sie wissen muß. Die Schlagzeugerin assistiert ihm charmant. Das könnte ein Problem sein. Age Of Chance sind die aufregendste Band Englands, aber sie wissen so genau, daß sie genau das, aufregend nämlich, sein wollen, daß ihre Kleidung, diese emphatisch getragenen Sportswear-Sachen, ihre Plattenhüllengestaltung, ihre lustigen Manifeste und nun auch noch sie selbst immerzu beteuern, wie aufregend sie sind. Aber eigentlich macht das auch nichts.

Ich muß innehalten und von dem Konzert sprechen. Erst spielte eine Band namens The Cretins, die sich als hundertprozentig-originalgetreue Ramones-Revival-Band entpuppte. Nur, daß die schottischen Jungs noch ausgemergelter und schlaksiger waren als ihre Vorbilder und noch weniger Geduld hatten und nicht mal eineinhalbminütige Ramones-Klassiker ausspielen konnten, ohne vor lauter Langeweile schon mit dem nächsten beginnen zu müssen. Alle Jungs im Publikum waren hackevoll, und ihren Freundinnen war das furchtbar peinlich. Ein starkes, warmherziges schwarzes Mädchen tanzte von einem älteren Sting-Typ zu einem jungen Age-Of-Chance-Käppi-Träger und tragischerweise wieder zurück.

Age Of Chance bekamen auf der Bühne immerzu elektrische Schläge, aber auch das war nicht schlimm. Stattdessen war es so gut. Der Sänger ist dünn und fängt immer irgendwo an zu singen, seine Melodien macht er sich beim Singen selber, sie haben nichts mit dem Rest der Songs zu tun, aber viel mit seinem Stimmumfang. Wie schafft es nur einer, mit einem Volumen von drei Tönen wirklich sweet zu klingen?

Die Schlagzeugerin schlägt den Beat immerzu auf eine Trommel, auf der ein Tambourin liegt. Später erklärt man mir, daß das der Motown-Einfluß sei: nie ohne Tambourin! Natürlich ist das kein Motown-Einfluß, wie wir Rockkritiker das Wort sonst benutzen, sondern es ist ein Motown-Fetisch. Denn Kids haben immer Fetische. Ich muß an Dylans „She Belongs To Me“ denken, das letzte Wort zu Frauen am Schlagzeug: „For Halloween buy her a trumpet / for Christmas give her a drum.“

Der redselige Manifesteschreiber-Gitarrist und der Bassist tragen irgendwie das Song-Bauwerk. Akkordwechsel sind unbekannt, nur ’rumrutschen auf dem Griffbrett, Drama ist auch unbekannt, es ist eben Funk. Aber das kann man keinem erzählen, der sich unter diesem Wort etwas vorstellen kann. Funk ist normalerweise die Bewegung eines potentiell in seinem Becken ruhenden Menschen. Funk ist im Grunde unendlich langsam, auch wenn’s mal schneller geht. Funk ist Bewegung im Stillstand. Funk ist niemals nervös. Aber dies ist der Funk des nervösen Nordmenschen. Wenn sie „Kiss“ spielen und sagen: „Get down with the Age Of Chance“, dann ist der Beat schon wieder hundert Jahre und Meter weiter, bevor irgend jemand wirklich downgetten könnte.

Überhaupt „Kiss“: Sie sagen, daß es eine instinktive Entscheidung war, den Hit, zwei Monate nach seinem Erscheinen, zu covern. Aber man kann bei Age Of Chance instinktive Entscheidungen und strategische Meisterleistungen eh nicht auseinanderhalten (ein echtes Künstlerkriterium). Eine Welt, wo alle den geschmackvollen Sixties-Song hervorkramen, sich einfach vor dem besten Hit der jeweils letzten Zeit verbeugen, hat was von echtem Zeitalter der Chance. Beat-Bands machten es auch immer so. Motown-Künstler machten es auch immer so. Jazzer machten es auch immer so.

Den Text von „Kiss“ haben sie bis auf zwei Zeilen neugeschrieben. Als sie zu der Zeile kommen: „I don’t sing about fantasy / the real world suits me fine“, entwerfe ich in Gedanken ein Telegramm: Hallo! Befinde mich in der englischen Pop-Kultur! Muß sagen: alles bestens!

Die Plattenhüllen von Age Of Chance quellen über von Parolen und Bekenntnissen. Zum neuen Lärm! Zum neuen gewaltigen Teen-Krach! Sie rufen: Be fast, be clean, be cheap! Und man denkt, daß man das doch schon mal gehört hat, dieses fast verzweifelte im Sound futuristischer Manifeste Rumschreien. Und ist es überhaupt eine gute Idee, zu rufen: Laßt uns alle zu Waren werden, schnell, sauber und billig?

Aber dann sieht man sie und weiß: so ist es. So muß es sein. Diese Gruppe ist aufregend, gewaltig und Lärm-Teen-Krach. Warum sollte man ihnen verbieten, alle anderen Beispiele von Teen-Lärm-Krach zu kennen? Warum sich die Aufzählung Motown, Suicide, Velvet Underground, Stooges, MC5, Swans, Beastie Boys, Hi-NRG und alle guten schwarzen Platten der letzten 20 Jahre nicht anhören?

Und dann wieder: Be fast, be clean, be cheap! Na, klar. Machen wir doch. Die Ware schafft es ja doch nie, wirklich schnell, wirklich sauber und wirklich billig zu sein. Das schaffen nur die echten Menschen. Die Welt hat 1987, und ich meine 1987, genau vier Eckpfeiler: Speedmetal/Hip-Hop, Prince, Felt, und der vierte ist Age Of Chance.

Das geht so. Speedmetal/Hip-Hop: Die bösen Jungs. Die bösen Jungs machen den besten Krach. Neidlos anerkannt. Aber wer ist schon ein böser Junge? Ich jedenfalls nicht. Also wende ich mich dem Wimp-Rock zu. Versuche Lawrences Augen unter der Hutkrempe zu finden. Stiefele mit Morrissey durch die Nebelschwaden sozialistischer Friedhöfe und knie’ vor toten Dandies. Aber am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne. Die Vögel zwitschern. In den Küchen der gut funktionierenden Paare machen sich Brix, Mark E., Lux und Ivy gerade ihren Frühstückskaffee. Das Wetter sagt: Prince. Prince mit seiner neuen großartigen Zappa-Platte. Ja. Echte, große, ozeanische Wirkung. Unbeschränkt gute Laune. Aber wer ist schon ein Paradiesvogel? Ich jedenfalls nicht. Möchte auch keinen aus der Nähe kennen lernen. Daraus folgern wir logisch: Get down with the Age Of Chance.

Ach so. Die sind ja schon wieder bei einem anderen Song. Immerzu ruft der Sänger: Free your mind your ass will follow. Ich frage ihn am nächsten Tag, was er sich denn da wieder ausgedacht hätte, einen alten George-Clinton-Slogan umzuschreiben: „ Wieso Clinton? War das von dem?“ Nein, er hätte das nicht umschreiben wollen, es sei ihm immer so in Erinnerung gewesen. Folgt längere Debatte, wie es wirklich philosophisch richtig ist: Free your mind your ass will follow oder Free your ass your mind will follow. Wir entscheiden uns für die Age-Of-Chance-Version, weil die Freiheit des Geistes, die einem befreiten Arsch folgt, eine geringere Qualität auch für den Arsch hat als die Freiheit des Arsches, die einem befreiten Geist folgt.

Age Of Chance sind vier ziemlich verschiedene Menschen. Die Schlagzeugerin ist klein und bestimmt und entdeckt in Spex jede Menge alte Freunde aus Leeds: „ Guck mal, Cassandra Complex! Die haben wir ewig nicht mehr gesehen.“ Der Gitarrist, der breit, gemütlich und raumfüllend ist und immer noch seine Band mit jeder anerkanntermaßen besten Band der Weltgeschichte vergleicht, sich Manifeste und fiktive Romanciers ausdenkt, denen er die Liner Notes für AOC-Platten in die Schuhe schiebt, hat seinerzeit an Michael Ruff geschrieben und ihm für seinen C’86-Artikel gedankt. Ein Öffentlichkeitsarbeiter mit Enthusiasmus. Zusammen mit dem Bassisten betrieb er früher einen Club in Leeds, wo er für gute Musik sorgte: „DAF, Suicide, gute Disco-Sachen, konnte man damals nirgendwo hören …“ Der Bassist ist natürlich still und total rührend und sagt nur einmal etwas, das die ganze Band in einem Satz zusammenfaßt. Ich habe leider vergessen, was es war.

Wie man einen guten Maler an seinen Titeln erkennen kann, kann man auch eine gute Band fast immer gegen den Wind riechen, wenn ihre Stücke zum Beispiel „Everlasting Yeah“, „Bible Of The Beats“ oder „Morning After The Sixties“ heißen.

Jetzt sind sie bei Virgin und wollen so berühmt werden wie Prince. Aber sie sind welche von uns. Sie wohnen um die Ecke. Und wenn sie nicht in ihren mit Fetisch-Pathos getragenen Sportswear-Kombinationen in den Kultur-Schmelztiegel-Discos von Leeds abhotten, rauchen ihre Köpfe.

„In Leeds hast du genau die Gegensätze, die wir so schätzen. Die Armut des Thatcher-Englands. Leute, die von 15, 20 Pfund die Woche leben müssen. Und dann das ganze Geld in der Disco lassen. In der Disco sind diese Leute am besten angezogen. Und dann gibt es da so Kriegsgewinnler, die gespenstische Einkaufspassagen hochziehen, direkt neben verfallenen Fabriken. Und alle treffen sich in der Disco. Wir sind selber arm, und wir leben in so einer Gegend. Wir kriegen das sehr genau mit.“

Auf den Age-Of-Chance-Pullovern/T-Shirts/Covern etc. steht um den AOC-Stern gruppiert: Leeds – Detroit – New York – Berlin. New York ist logischerweise Hip-Hop, und Berlin steht unkorrekterweise für alles deutsch-elektronische Hi-Tech-mäßige und korrekterweise für die Neubauten. Leeds ist zu Hause. Und Detroit, ein magisches Detroit, ist der eigentliche Mittelpunkt des AOC-Universums. Detroit, wo große, krachende, lärmige Autos in großen, krachigen, lärmenden Fabriken hergestellt werden, wo Motor City brennt und die Stooges herkommen und wo trotzdem so sweet gesungen wurde wie vorher und nachher nirgendwo. Aber es war ein schnelles billiges sauberes sweet, ein industriell produziertes sweet, ein Massen-sweet. Aber trotzdem und/oder gerade deswegen war es das sweeteste sweet, umgeben vom lärmigsten Lärm. Das ist Age Of Chance: kein Futurismus, Feier der Gegenwart. Es ist alles da.