Alan Vega

Rock’n’Roll, R&B, Blues – Während Depeche Mode mit ihrer Beach Boys-mäßigen „See-You“-Single für den musikalischen Höhepunkt der kindlichen Synthie-Pop-Welle sorgten (nach dem grandiosen „Don’t You Want Me?“, versteht sich), erlebt die alte Musik ihre besten Tage. Meine Lieblingsplatten sind zur Zeit: Tav Falco’s Panther Bums, The Gun Club, The Fleshtones und Alan Vega’s zwei Solo-LPs.

Intro

Alte Musik? Rock-Musik ist steintot, und was wir heute von Tav Falco, Gun Club oder Alan Vega zu hören bekommen, ist keine alte Musik. Dieses elende und aufregende Jahrhundert laboriert nun schon gute achtzig Jahre an dieser Avantgarde-Idee herum, die einen immer weiteren „Fortschritt“ mittels „Grenzen überschreiten“, „Gewohnheiten brechen“, „neue Formen finden“ wünscht, postuliert oder erträumt. Da wird immer noch das freie, selbstverantwortliche Individuum gehätschelt, das sich möglichst grenzenlos und genialisch austobt. Diese progressive Paralyse des Avantgardismus führte schließlich zur Selbstaufhebung der Künste. In der Konzept-Art zählte nur noch das unsichtbare Konzept, nicht die Realisierung, Beckett schrieb das Drama „Atem“, das nur einen im abgedunkelten Bühnenraum Atmenden vorführt und John Cage schrieb „4’33“ für schweigendes Piano (bezeichnend, daß die Pop-Variante dieser Idee ganz explizit „Two Minutes Silence“ hieß auf der John Lennon/Yoko-Ono-LP UNFINISHED MUSIC NO 2, Komponisten des Schweigens sind laut Credit Lennon/Ono.). Pop Musik hatte mit diesem Dilemma nie viel zu tun, nur ein paar verirrte Geister meinen, daß die Beatles unsere Miniatur-Schönbergs seien oder huldigen dem trägen Götzen Zeitlosigkeit. Pop entwickelt sich nicht nach vorne. Es geht nicht voran. Es geht zur Seite, daneben. Stilblöcke, Spielweisen stehen allen zur Verfügung. Du stürzt dich mit allem Enthusiasmus auf sie, du landest neben deinen Vorbildern, und diese Differenz erzählt von der Wahrheit, Aktualität und Tiefe deiner Musik. Diese Differenz ist Stil, ist der neue Stil neben dem Vorbild-Stil. Im Vergleich mit Vega und den anderen Genannten ist Dave Edmunds wirklich nur stumpf. Und Velvet Underground war neben Beatnik-Big-City R&B und Mittagspause war neben Beat, und Fall neben Velvet und John Lee Hooker, und Klassenfeind neben den Cramps und Vanilla Fudge, die ihrerseits …

Kunst

Alan Vega ist tough. Er stammt aus den härteren Bereichen Brooklyns, schaffte irgendwann den Sprung nach Manhattan und ein leidliches Überleben in der Kunst-Parasiten-Szene. Er sah Zeiten der Obdachlosigkeit, der erzwungenen Kriminalität, und er redet den mit tausend „man’s“ und anderen Kürzeln durchsetzten New Yorker tough-kid-slang. Er kommt nach Manhattan und wird Künstler. Er bastelt seit den frühen Siebzigern Neon-Skulpturen. „Ich mache Kruzifixe“, sagt er. Die Materialien klaut er oder findet sie auf Baustellen.

Suicide

Ebenfalls Anfang der Siebziger lernt Alan den Musiker Martin Rev kennen. Der Rest ist Legende. Suicide wird gegründet: Das erste Daf-Soft-Cell-Ein Sänger/Ein Synthie-Duo der Geschichte. Ein Jahrzehnt des Kampfes gegen amerikanischen Rock’n’Roll beginnt. Keine Auftritte für Suicide. Ein paar Künstlertreffs haben vielleicht ein Herz, aber bis 77 läuft fast nichts. Dann die erste LP bei Marty Thau’s Red Star-Label. Jenes unsterbliche (ja das ist zeitlos, was superaktuell war!) Meisterwerk, die Verschmelzung aus herzerweichender Romantik, ungefilterter Toughness und Drogenwahnsinn mit den strengen Ideen des Synthi-Minimalismus. Die Plattenindustrie verschafft Suicide Auftritte, und die nehmen alles, was sie kriegen können. Die Desaster, die ihnen als Vorgruppe von den Clash, Elvis Costello und den Cars zustoßen, sind schon Bestandteil der Suicide-Legende. Blutige Nächte in Europa, Bierflaschenhagel in den USA: „Man hat uns einfach nicht verstanden. Wir waren unserer Zeit voraus.“

Hits

„Suicide hat ein zerstörerisches Image. Wir galten als aggressiv, schräg und unverkäuflich. Bei unserer zweiten LP hatten wir versucht, durch Namensänderung das Image abzubauen. Wir nannten uns Vega/Rev statt Suicide. Ric Ocasek von den Cars hatte unseren Sound ziemlich geglättet, aber es hat nichts genützt.“ Meinst du nicht, daß in der Zukunft eins der romantischen Suicide-Lieder nochmal ein Hit werden könnte? (Ich denke etwa an die göttlich-liebeskranke Maxi-Single „Dream, Baby, Dream!“ oder an „Sweetheart“ von der zweiten LP). „Höchstens im Jahre 2023. Suicide-Songs werden nie Hits, das habe ich gelernt. Ich dachte zunächst auch, wir hätten Hit-Potential. Ich würde sogar sagen, wir haben eine Menge Hits geschrieben, aber es gibt da etwas, was uns daran hindert, in die Charts zu kommen“.

Soft Cell

„Ich bin übrigens froh, daß du mir nicht auch die Frage stellst, die mir hier in Europa noch jeder Interviewer gestellt hat. Ob ich nicht sauer sei, daß Soft Cell mit unserer Musik Erfolg hätte. Ob ich nicht sauer sei, daß sie bei uns geklaut hätten usw. Ich habe Richard Grabel vom NME erzählt, daß ich sie blöd fände, und dann waren sie in New York und kamen bei mir angeschissen: ‚Wäh, wäh, warum sagst du sowas Gemeines über uns. Wir haben immer so viel Gutes über Suicide gesagt, und du ziehst so über uns her, wäh, wäh!‘, – absolut lächerlich. Ich habe gar nichts dagegen, wenn man klaut. Wir haben auch geklaut, bei Velvet Underground und was weiß ich wo. Aber wir hatten eben auch das richtige Gefühl dafür. Wenn Martin ein Riff aus drei Tönen spielt, klingt es absolut anders, als wenn jemand anders dasselbe Riff spielen würde. Das ist das Problem mit Soft Cell. Sie sind nicht gut. Andererseits … so schlimm sind sie auch nicht, und ich habe keine Lust, immer gegen sie zu hetzen.“

Solo

„Suicides Vertrag bei ZE war ausgelaufen. Aber ich hatte noch einen kleinen Zeh in der Tür. Den nützte ich für meine erste Solo-LP, ein superbilliges Produkt. Es war gar nicht so sehr meine Absicht, Rock’n’Roll zu machen. Ich machte die minimalistischen Sachen weiter, die ich auch bei Suicide gemacht hätte, nur daß Martin diesen Stil langsam satt hatte. Phil Hawk war der richtige Mann, mich zu begleiten“.

Drogen

Die zweite Seite der göttlichen Alan Vega-Solo-LP beginnt mit dem Song „Speedway“: „Speedway / oh speedway / gasoline / oh cocaine.“ Alan knüllt eine Dollar-Note: „Die meisten Musiker haben keinen Arbeits-Ethos, keine Disziplin. Mir ging es sehr schlecht, und ich habe sehr viel durchgemacht, aber ich wußte immer, wer ich bin und was ich zu tun habe. Ich bin ein Künstler und habe daran zu arbeiten. Du darfst nicht in Begriffen wie Karriere denken, du mußt wissen, was du zu tun hast. Deswegen gehen so viele Musiker zu Grunde. Sie verlieren den Boden unter den Füßen. Kommen mit den Drogen nicht zurecht. Sie wissen nicht mehr selber, was ihre Stärke ist, sondern müssen es sich von anderen sagen lassen.“ Später: „Wir waren diese ganze Suicide-Tour, die ganzen dreißig Tage über auf Trip. Es war irrsinnig. Mann, das waren Zeiten!“

Kollisionskurs

„Minimalismus ist nichts Neues. Und schon gar nicht das Eigentum der Kunstszene. Hör dir die Sun-Sessions mit Elvis an! Das ist Minimalismus. Das entspricht vollkommen der Idee, die ich davon haben. Man läßt das Unwesentliche weg und konzentriert sich auf das Wichtige.“ Alan Vegas zweite Solo-LP ist von einer anderen Schönheit als die erste und sämtliche Suicide-Werke. Die weiträumigen, stimmlichen Ausschweifungen, die großen Gefühle, großen Gesten, die bizarr schillernden, drogen-getränkten Flächen weichen der konzentrierten, realistischen Hetze eines modernen 50er-Rock’n’Roll. „Die Rock’n’Roll-Idee nahm Formen an, als ich eine Band zusammen hatte. Natürlich war die erste Platte von mir wieder ein Flop. Dann kam die große Überraschung. Ausgerechnet in Frankreich war ‚Jukebox Baby‘ ein großer Hit geworden. Die dortige ZE-Vertriebsfirma Celluloid nahm mich direkt unter Vertrag und ermöglichte mir die Aufnahmen von COLLISION DRIVE. Ein lustiges Völkchen ist das bei Celluloid. Das gibt’s zum Beispiel diesen Jacno. Ein toller Hit-Komponist, aber noch sehr jung. Er ist der typische, genießerische französische Lebemann. Er nimmt, was er kriegen kann. Eines Tages saß ich mit ihm und seiner Freundin Elli Medeiros, eine tolle Sängerin, in einem Cafe. Da kommt ein Mädchen und will ein Autogramm von ihm. Und was tut er? Er zieht eine riesige Luger und hält sie ihr an die Nase. Mir blieb der Atem stehen. Von ihm hätte ich das am wenigsten erwartet.“

New York

Vegas Musik handelt in Varianten vom Ausbruch, von der individuellen Reise. Die amerikanische Rock-Mythologie zapft er um „Outlaws“, „Ghost Rider“, „Jukeboxes“, „Speedways“ und „Cowboys“ an. Vegas New York-Rockabilly klatscht aber wie ein Flummi an die Häuserfronten, die dem „Motorcycle Hero“ die freie Sicht versperren. Vegas Reisen und Jagden, Kämpfe und „Rock’n’Roll-Rebels in a lonely town“ sind unwirkliche, schattenhafte Ereignisse, auf Hinterhöfe projizierte Fantasien, das pochende Delirium amerikanischer Identitätssuche. Der Moment des Todes, da sich noch einmal die Lebensgeschichte vor dem sterbenden Auge abspielt, ist für die US-Kultur eingetreten.

Und gleichzeitig gibt dieser Sterbensmoment Kraft. Wenn mit dem Tod der US-Kultur all ihre Wesen noch einmal aufleben, dann verwandeln sie sich plötzlich in Waffen, in todsichere Formen, hinter denen man sich verbergen und überleben kann: „Rebe! Rocker“.

„New York und die ganze Musik Szene scheinen mir total am Ende zu sein. Ich sehe eigentlich niemanden, der es jetzt schaffen kann, etwas Wichtiges zu leisten. Wenn einer gut ist, dann ist es James White. Er muß nur endlich von der Droge herunterkommen und er muß mit diesem albernen Funk aufhören. Aber er weiß, was er will. Er ist hart gegen sich selbst und ein besessener Arbeiter. Er kann es schaffen. Aber es ist wie mit meinem besten Freund, Johnny Thunders, er muß sich endlich vom Heroin trennen. Sonst schafft er nichts mehr.“ dBs? Raybeats? Fleshtones? „Die Fleshtones waren ja eigentlich meine Entdeckung. Ich habe sie am Anfang sehr gefördert. Es ist seltsam. Damals waren sie sehr gut. Heute ist es so, daß sie Tage haben, an denen sie noch absolut brilliant sind und andere, wo du einschläfst. Aber selbst, wenn ich sie für ’ne große Gruppe halten würde: Werden die Fleshtones je die Welt verändern?“

Politik

Wird Musik überhaupt je die Welt verändern?

„Früher zumindest gab es so ein Phänomen, daß Musik Wirkung auf politische Bewegungen hatte. Heute ist das ein für alle Mal vorbei. Musik wird diese Aufgabe nie wieder übernehmen können. Etwas völlig Neues wird kommen. Ich weiß nicht, was. Vielleicht gibt es ja endlich wieder gute Schreiber, das wäre ja mal an der Zeit. Aber eigentlich glaube ich, daß wir sehr bald mit völlig neuen Künsten konfrontiert werden. Ich sage dir auch, wie unser neuer Präsident heißen wird: John Glenn. John Glenn war der erste Amerikaner im All. Er ist vor kurzem Gouverneur von Ohio geworden, und die Ergebnisse von Ohio haben immer eine gewisse repräsentative Bedeutung. Glenn ist der erste Demokrat, der da seit langem gewählt wurde. Und er ist ein linker Demokrat. Obwohl man eigentlich nicht links sagen kann, denn er hat eigentlich einen völlig neuen Blick auf die Dinge. Eben von oben (ha!ha!)“

Viet Vet

„Viet Vet“, 12:45 (Alan Vega).

„Ja, ich war in Vietnam. Trotzdem handelt das Stück nicht von mir. Bin ich verstümmelt?“

„Von allen Vietnam-Filmen kommt ‚Deer Hunter‘ der Sache noch am nächsten. Kein Vietnam-Film ist gut, aber DeNiro bringt etwas von unserem Lebensgefühl ’rüber. ‚Apocalypse Now‘ ist dagegen der größte Haufen Scheiße, den es überhaupt gibt. Ich hasse diesen Kerl, diesen wie-heißt-er-noch? … ah ja, Coppola. Ein ekelhafter Kerl, voller Scheiße. Und dann hat er sich noch alle Ideen von den Doors geholt. Der Film ist ‚The End‘ von den Doors. Alles, was er darüberhinaus ist, ist Scheiße.“

Iggy Pop

Vegas vehementes Benehmen, seine direkten Äußerungen, seine gedrechselten Slang-Metaphern – das erinnert alles an Iggy Pop. Sein Bühnenauftreten als todesmutiger Märtyrer, totaler Schauspieler wird schon seit Unzeiten mit Iggy verglichen: „Klar, Iggy war der zweite große Einfluß, und ich habe bei ihm reichlich geklaut. Er ist der beste Entertainer. Aber dann, so ab 71, passierte ihm das, was ich vorhin beschrieb. Er verlor sich, die Kontrolle, er verlor den Kontakt zur Erde. Heute spinnt er. Ich meine, er bleibt ein großer Sänger, der vielleicht beste, weiße Blues-Sänger, alles, was er singt, klingt irgendwie gut. Aber was er so verbreitet, sein Pro-Reagan-Engagement zum Beispiel, all diese Kopf-Spielereien, das ist einfach lächerlich. Er spielt irgendwie ’rum und hat die Ergebnisse nicht unter Kontrolle. (mit singender Stimme) Zu viielee Drohgehn!“

Zukunft

„Wir waren jetzt mit den Pretenders auf Tour. Wir sind noch mehr ausgebuht worden als zu Suicide-Zeiten. Trotzdem war es gut. Irgendwo in diesen Stadien sind immer ein paar Kids, die uns mögen, die gern was Neues kennenlernen. Im Mai kommt die Europa-Tour, unter anderem bei euch. Ob es ein neues Suicide Album geben wird, weiß ich nicht. Wenn einer uns ein Angebot macht…“

Wir schrieben mal in unserem Blatt, es solle den Arbeitstitel TRANCE tragen.

„TRANCE? Nie gehört. Ist aber ein guter Titel. Werden wir verwenden.“

Discographie

Suicide (Red Star / Ariola, vergriffen / Alan Vega / Martin Rev – SUICIDE (Island/ Ariola) / Suicide (Red Star, Compilation aus der ersten LP und auf dem LIVE AT MAX’S KANSAS CITY veröffentlichten Aufnahmen) / Suicide HALF ALIVE (Reach Out International-Cassette mit frühen und Live-Aufnahmen. Vega: „Ich mag nur eine Seite: nämlich die, die alle nicht mögen. Die, die alle mögen, hasse ich“)/ Alan Vega & Fleshtones „Rocket U.S.A.“, auf BLAST OFF!, noch ’ne ROIR-Cassette / Alan Vega (Ze/Celluloid/ Ariola) / Alan Vega – COLLISION DRIVE (Celluloid/ Ariola).