In so einem vertrockneten kleinen Mann haben X verlorene Dekaden Musikgeschichte Platz wie nix. Chilton, der als junger Mensch dank des Erfolgs der Box Tops („The Letter“) ein paar Kohlen auf sein Konto schaufelte, verbrachte den verbleibenden Teil seines Lebens damit, unentwegt weitere Klassiker von sich und in die Gegend zu streuen, sie – weil es seine eigenen waren – mit jedem Recht, nach Gutdünken zu zerhacken und nebenbei einige Bands/Platten zu produzieren, die wir alle (jemand was zu bemerken?) mehr lieben als die meisten anderen Bands/Platten. Und die wiederum ihn mehr lieben und in mehr Interviews erwähnen, als die meisten anderen Produzenten von sich sagen können. Viele seiner Weggefährten wurden irre, religiös oder Programmierer – er blieb. (Seufz)
Als die Replacements im vergangenen Jahr einen ihrer schönsten Songs „Alex Chilton“ nannten, holten sie damit eine längst überfällige Würdigung nach, die Alex Chilton so verdient hat, wie sie in der gesamten, von mir überblickten Geschichte der Pop-Musik außer ihm vielleicht nur noch Lou Reed, John Lennon, David Bowie, Frank Zappa, Bob Dylan, Captain Beefheart und Marc Bolan verdient hätten (und an die muß man ja keinen Menschen erinnern; Bowies Dylan-Würdigung verdankt ihren Reiz der Umgebung, in der sie ausgesprochen wird: aus dem Zentrum des Dandyismus eine Hommage an einen, der gerade aufs Land gegangen ist, außerdem spiegelt sie Dylans „Song To Woody“ wider).
Ich rede hier nicht von notwendig großen Charakteren, großen Einzelnen oder Helden, obwohl Chilton zuweilen auch das ist/war, ich rede von den Leuten, die tragfähige, haltbare neue Modelle in die Welt gesetzt haben, Unerhörtes möglich machten.
Es gab eine Zeit, als in der Pop-Musik nichts ohne ideologische Rechtfertigung geschah, ein Zustand, der in den späten 70ern (bis 82) noch einmal in verschärfter Form auflebte, um dann für eine immer noch andauernde Weile dem (oft durchaus richtigen) Urteil eines in der Geschichte der Musik immer ausgebildeteren Geschmacks zu weichen. Rückschlüsse über Zustandekommen und Richtigkeit (im Sinne eines wie auch immer gearteten und noch zu bestimmenden Projekts der Pop-Musik bzw. der Kunst im Allgemeinen) dieses Geschmacks und seiner Urteile sind nur noch möglich, wenn man die Musiker untersucht, die selber Vorbild geworden sind, deren Werke oder Werkteile Modell wurden, in dem Sinne, daß andere tatsächlich von ihnen gelernt haben, nicht die Ermutigung dazu, die Sau rauszulassen, wie man das von Jim Morrison oder Big Black lernen kann, sondern wie man mit der Sau umgeht, sie veredelt, in die Welt trägt, wie man das immer Wilde, Eigene, Neue widerstandsfähig und lebensfähig macht, wie man eigene Regeln aufstellt, was einem eher Lou Reed oder Sonic Youth erklären können, oder auch Henry Rollins. Die Figur aber, auf die sich zeitgenössische Musiker von Bedeutung ebenso oft, ausgesprochen oder unausgesprochen, beziehen, wie in den Jahren 75 bis 82 auf Bowie und Roxy Music, ist Alex Chilton.
Oft stelle ich mir vor, nach einem längeren Aufenthalt in der Wüste oder Buenos Aires oder Obervolta oder studierend am Mozarteum zu Salzburg zum ersten Mal wieder Rockmusik zu hören, und wie schön es dann wäre, wenn es ein Auftritt des Alex-Chilton-Trios wäre, der gute trockene Geschmack, die Lektion, die überall auf der Welt diejenigen Besten, die die Velvet-Underground-Lektion jetzt durch haben, sich zu erarbeiten beginnen. Von seinen Musterschülern spreche ich vielleicht noch später. Soeben ist mir der dünne, kleine und etwas ausgetrocknet-reptilienhaft wirkende Mann vorgestellt worden. Wir sind in ein Auto gestiegen, um während einer Highway-Fahrt von Hamburg nach Köln alles Wesentliche zu besprechen. Er hat sich eine neue Kamera gekauft, einen chinesischen Rollei-Nachbau. Wir blättern in einem Hamburger Stadt-Magazin, in dem die neue Bobby-Womack-Platte beworben wird.
Rock me, Baby
„Ach, guck mal der, der hat auch bei den Box Tops gespielt.“
Als Sechzehnjähriger hatte Alex Chilton die Schule verlassen, um als Sänger der Kinderbeatband Box Tops durch die USA zu touren; der Welterfolg der Single „The Letter“, noch heute in Chiltons Repertoire, veranlaßte seine Plattenfirma Bell die Gruppe drei Jahre am Leben zu halten, vier LPs rauszutun, die nahezu alle von anderen Leuten als den fünf Knaben, die als Box Tops auf der Bühne standen, eingespielt wurden und von teilweise so wichtigen Produzenten/Songwritern wie Dan Penn angeleitet, geführt und als Spielwiese und Testground für den Teen-Erfolg benutzt wurden. Als man schließlich die Hoffnung auf eine Wiederholung von „The Letter“ aufgegeben hatte, ließ man auf der vierten Platte, Dimensions – die übrigens eine andere Südstaaten-Soul und Country-Legende, Chips Moman, mitproduzierte –, die Band zum ersten Mal in weiten Teilen eine Platte selber einspielen. Alex Chilton hat einen Haufen Songs dafür geschrieben …
„Sie ließen uns schließlich so einen Blues-Rock-Jam aufnehmen, zehn Minuten lang, wie das damals in Mode kam, ‚Rock Me, Baby‘, aber das war schon ein Zeichen des nahenden Endes … Ich habe lange nichts von den Jungs mehr gesehen. Neulich traf ich zum ersten Mal nach fast zwanzig Jahren einen, er ging in einer Raststätte an mir vorbei, drehte sich um, ‚Dich kenne ich doch, Mensch Chilton‘, ja wir waren mal in einer Band, ich mache immer noch Musik, er ist Programmierer geworden … Auch Dan Penn habe ich seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen, man hört, er sei religiös geworden …“
Free Again
Doch Chilton hatte in den Box-Tops-Jahren eine Menge Geld verdient und sich als einziges musikalisches Talent von Rang aus der nach dem Monkees-Prinzip zusammengewürfelten Band herausgestellt (wie dort Mike Nesmith). Von seinem bei den Box Tops Ersparten lebte er bis in die späten 70er, trotz exzessiven Konsums aller möglichen Kostspieligkeiten: Eine ideale Situation, das junge Talent ist vor ersten Selbstverwirklichungsversuchen zunächst gründlich durch alle Zentrifugen der Unterhaltungsindustrie geschleudert worden. Er war jetzt zwanzig und wollte seine „Teenager-Gefühle“ nachträglich als Songwriter ausleben, was zu einer weiteren interessanten Brechung in Chiltons Songwriting geführt haben mag – eine erschreckende Naivität, einem freigelegten Herz konkurrierende Coolness und Abgebrühtheit –, was sich auch in jenen beiden selten zusammen auftretenden Songwriter-Gaben widerspiegelt, einerseits Standards vom Trockensten aus der gelangweilten Griffhand schütteln zu können und andererseits diese Standards aus Langweile und/oder übervollem Herzen nicht durchspielen zu können, sich immer wieder in wilde Experimente stürzen zu müssen (die allerdings nichts von Verzweiflung oder Beliebigkeit haben, sondern sich selbst in Momenten größter Inkohärenz auf diesen Memphis-Soul und diesen britischen Beat beziehen, dessen eigenartige Verbindung das Songwriting Chiltons geprägt haben). Mit anderen Worten: 69/70 plant und arbeitet er an einer Solo-Karriere.
Vier Aufnahmen sind davon veröffentlicht worden und zwar auf dem Lost Decade-Doppelalbum, das New Rose/Fan Club ’85 ’rausgebracht haben, darunter „Free Again“, einer der besagten Standards, die einem schon beim ersten Anhören bekannt vorkommen, weil sie eben zwingend geschrieben sind. Chilton hat dieses Stück, mit seinem unnötig und wunderschön lakonisch dramatisierenden Akkordwechsel in der dritten Strophe und dem abrupten Schluß, immer wieder aufgenommen und live gespielt, damals als Country-Nummer, wie sie in Hippie-Kreisen Mode war, aber als deutlich von Beatles und Stones geprägter Country.
I Can Dig It
„Ich bin eigentlich immer ein Country-Fan gewesen, damals eigentlich viel mehr als ein Soul-Fan, bzw. es hat viel länger gedauert bis mich die Soul-Sachen direkt beeinflußt haben, ich habe sie schon immer geliebt, im Gegensatz zu den meisten weißen Musikern in Memphis zu dieser Zeit, die ziemlich auf die schwarzen Musiker herabgesehen haben.“
„I Can Dig It“ von den selben Sessions klingt wie weißer britischer R’n’B, wenn auch cooler und weniger hysterisch. Wie noch so oft, konnte Chilton die Aufnahmen nicht loswerden. Er schloß sich der Band seines Jugendfreundes Chris Bell an.
„Chris hatte Big Star schon gegründet, bevor ich dazu kam; am Anfang war das nicht meine Band, und wir schrieben alle Songs zusammen …“ Mitten im tiefsten 1972 hatten die beiden sich über der Idee gefunden, eine Teen-Country-Pop-Band in die Welt zu setzen; wieder treffen sich große, noch ungezügelte Begabung und eine irre, natürlich fehlschlagende Medienstrategie, die sich in dem programmatischen Bandnamen und dem Titel ihres ersten Albums nicht versteckt: Big Star, #1 Record.
Nicht wenige haben zurecht gesagt, daß sich diese Platte anhört wie die Beatles, wenn sie sich nicht aufgelöst hätten, aber die Beatles haben sich ja auch nicht ohne Grund aufgelöst, erst sollten die 70er zu ihrem Recht kommen, Interesse an einer Fortführung ihrer Projekte würde man vielleicht viel später haben, dann, wenn man sich plötzlich auch für Big Star begeistern wird. Melancholischer Kopfstimmen-Irrsinn, größer als der Chart-Pop, der es sein wollte, aber absolut nicht als progressiv zu erkennen für irgendeinen Zeitgenossen.
Der inzwischen verstorbene Chris Bell verläßt seine Band Big Star nach diversen Streitereien, besonders mit Alex Chilton, der ebenfalls keine besondere Lust hat, die Band am Leben zu halten; ein Auftritt, bei einem Rockschreiber-Kongreß, dem wahren Publikum für Big Star, die sich bis dahin als reine Studio-Band (Beatles eben) gesehen hat, mit Alex und den verbliebenen Andy Hummel und Jody Stephens, veranlaßt das extra für Big Star gegründete Label des Ardent-Studios zu Memphis, auf eine zweite Platte zu drängen. Jetzt ist 1974.
September Gurls
An der einsamen Glühbirne, die von einer rot lackierten Decke hängt, sollt ihr Radio City erkennen. „Dies ist ein Foto von Bill Eggleston, einem der wichtigsten amerikanischen Foto-Künstler und altem Freund von mir. Er hat die Farbfotografie revolutioniert wie kein zweiter.“ Stimmt, ich erinnere mich, einmal durch eine Ausstellung amerikanischer Foto-Highlights des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts gegangen und plötzlich von dem Tomatenpornorot der zweiten Big Star durch den ganzen Raum gesogen worden zu sein. Man hört der Platte nicht nur an, daß die Band inzwischen zur Live-Band geworden ist: Der pure, harmonisierende, späte Lennon plus Gram Parsons, den Chris Bell auf alle Songs gelegt hat, ist einem holprigen Glam-Country gewichen, das eigentlich einzige Mal, daß sich Alex’ komplizierte Lieder wirklich trashig angehört haben, mit unmotivierten Ausbrüchen, Rock-Lärm und Honky-Tonk-Piano-Spinnkram, darunter rumpelt und pumpelt das Schlagzeug, das meistens schon Richard Rosebrough gespielt hat, der auch die ersten Solo-Sessions mit Chilton gemacht und später immer wieder für die Durchlässigkeit, aber auch Brüchigkeit des Chilton-Sounds gesorgt hat, der wesentlich zu diesem Kunststück beitrug, das Chiltons Werk neben sonst nur Aylers stellt, brutalprimitiv und feinstkomplex, wenn nicht gleichzeitig, so doch mindestens in schneller Folge abwechselnd zu spielen. Und niemand soll sagen, das seien dialektische zwei Seiten einer Medaille, wie das bei anderen Künstlern der Fall sein mag, hier bei Chilton ist es die Fähigkeit, sich ungeschützt und auch unbedacht in bestimmte, spielerisch beherrschte Extreme zu stürzen und nicht über die Folgen nachzudenken: Das schönste Beatles-Lied, „You Get What You Deserve“, das die nicht mehr schreiben konnten, ist hier drauf, „I’m In Love With A Girl“, das zarteste Gewimmere, das je zu einer Akustischen abgewimmert wurde, und „September Gurls“, das dann Zeitalter später ein Hit für die Bangles werden sollte, die vielleicht am nettesten und brutalsten durchgesetzt und weltberühmt gemacht haben, was so viele amerikanische und australische Bands der 80er von Alex Chilton gelernt haben.
Wir werfen einen Blick auf die norddeutsche Tiefebene, die Alex irgendwie an bestimmte Ebenen im amerikanischen Süden erinnert: „Es ist so reich und flach und fruchtbar. Ich war aber letzten Sommer zum ersten Mal in meinem Leben in Kanada unterwegs, das hat mir sehr gefallen. Ich glaube, daß das meine Landschaft ist.“
Kangaroo
Wir haben gesagt, daß Alex Chilton von den Beatles beeinflußt war, daß er sie in kindlicher Freude und kinderzynischer Jungstarabgebrühtheit ein- und überholen wollte. Aber das ist nicht alles. Im Gegensatz zu deren verspielten, rauschhaften Umgang mit allen Trümmern und zur freien Verfügung eroberten Möglichkeiten europäischer Melodik (McCartney) und europäischen Bohemismen (Lennon) hatte Chilton die schwere, um alle Fatalitäten wissende innere Stimmung des Südens, hatte Nashville-Großväter und Memphis-Väter. Er ist tieflangsam, in sich ruhend, wenn er von kanadischen Gegenden spricht, seine Ausbrüche haben nichts von Nervosität; das Nervöse und Verspielte des britischen Beats sind für ihn die fremden und exotischen Eigenschaften, die er sich als Gegenüber gesetzt hat (so wie gewisse Engländer den Blues und die Crossroads).
„Ich habe damals immer experimentieren wollen, ich wollte immer irgendetwas Anderes, aber ich wußte nie genau, wie das geht, ich hatte keine richtige Methode. Als ich kurz nach Sister Lovers aufnahm, arbeitete ich mit Jim Dickinson zusammen, und das hat vieles verändert.“
Dickinson verhielt sich zu Chilton möglicherweise wie Bowie zu Pop. Einer, der eigentlich alles weiß, aber schon zu abgeklärt ist, um seine eigene Person für die Verbreitung des Wissens noch einsetzen zu können. Auch zu müde.
„Dickinson war sogar noch Sun-Künstler. Eine Single seiner Band war, so um 61 glaube ich, die letzte Sun-Platte, die Sam Phillips veröffentlicht hat. Er hat dann in den 60er Jahren verschiedene Sachen gemacht und war unter anderem Journalist. Ich habe ihn kennengelernt, als er mich als Leader der Box Tops interviewt hat. Er kannte immer eine Menge Leute und hat ja auch bei den Stones mitgespielt. Wir haben zu seinen Bands eigentlich immer aufgeschaut. Er hatte diese Band Dixie Flyer und auch eine sehr gute Solo-LP in den frühen 70ern gemacht Und jetzt spielt er seit über zehn Jahren bei Mud Boy & The Neutrons, die so zwei Mal im Jahr in Memphis auftreten, hat aber sonst nicht viel tun. Er ist immer ein gefragter Produzent gewesen. Eines Nachts hatte ich im Studio gesessen und einen für meine damaligen Begriffe total eigenartigen Song geschrieben, ‚Kangaroo‘. Am nächsten Tag habe ich Jim die Gitarrenspur und meinen Gesang vorgespielt, in der Annahme, er würde sich ein konventionelles Arrangement einfallen lassen. Er hat dann aber noch seltsamere Geräusche dazugemischt, Feedbackeffekte, aber ganz leise und komische Echo- und Percussionsachen. Er hat das Seltsame an dem Lied noch vorangetrieben und mir damit die entscheidende Lektion erteilt, die Dinge nicht zurückzuhalten, sondern voranzutreiben. Im Grunde war das die Grundlage für meine ganze spätere Arbeit.“
Holocaust
In der Tat enthalten Sister Lovers oder Third, wie sie zuerst hieß, und die spätere LP Like Flies On Sherbert das Modell, von dem ich spreche, die Proto-Musik der 80er Jahre, des Pop-Songs nach seiner möglicherweise postmodern zu nennenden Phase unter Roxy- und Bowie-Einfluß, wo seine höchste melodische und technische Kultur, sowie sein immer schon inhärentes Second Hand quasi organisch sich seinen experimentellen, sprengenden Kräften stellt, das Gegenteil von allen Versuchen, diese beiden Dynamiken zu konfrontieren oder einander gegenüberzustellen oder sie als feindlich zu empfinden, eine Form, ein Modell, das die Verlängerung des Guten Songs in den Lärm als logisch und notwendig versteht, weder als dialektisch noch als konfrontistisch, die Überwindung der Ideen von Pop und Jazz, ohne beide zu vermischen. Ein Modell auch, das viele angezogen hat, den ehrenwerten, aber zu englischen Maitre Ivo, dessen This Mortal Coil nicht aus Versehen „Kangaroo“ coverten, aber auch Sudden/Howard, wobei man sagen muß, daß die zweite, ganz von Rowland S. Howard geschriebene Seite der Door, Door-LP der Prä-Birthday-Party-Band Boys Next Door für mich die überzeugendste Arbeit im Geiste von Sister Lovers darstellt.
Von dem Soul in „O Dana“, der harten Melancholie von „Big Black Car“, der feinsten mir von Schallplatte bekannten Formverletzung am Anfang von „Jesus Christ“, über die Streicher in „Stroke It Noel“, bis zu dem entsetzlichen „Holocaust“ ist dies wohl die zarteste, bedauerndste Ansammlung dennoch genauest formulierter Ahnungen von den Schrecken des Lebens, die ein Kind je ausgesprochen hatte, ein Kind dazu, das gerne rumholzte. Seine Stimme reicht hier von schwarzen Tränen über unblasierter Dylan zu Bolan und frühem Michael Jackson. Die wichtigsten Instrumente haben Dickinson und Chilton alleine eingespielt, Andy Hummel war nicht mehr dabei, und Jody Stephens hat etwas Schlagzeug gespielt, im Wesentlichen war das aber wieder Richard Rosebrough, dazu kamen Berühmtheiten wie Steve Cropper.
Singer Not The Song
„Ich wollte damals sowieso eine Solo-Platte machen. Die Leute im Studio gingen ein und aus und wurden von Jim und mir je nach Bedarf eingesetzt. Daß das Ganze später als Big-Star-LP erschienen ist, lag daran, daß die Leute, die die Platte, drei Jahre nachdem sie aufgenommen wurde, veröffentlichten, schon an einen Big-Star-Mythos glaubten, der sich so in den frühen Punk-Tagen herumgesprochen hatte. Als die Platte damals niemand haben wollte, kam ein Typ namens Jon Tiven zu mir, der mit mir zusammenarbeiten wollte, das war noch ’75, immer noch in Memphis. Ich wollte ausprobieren, ob ich auch alleine nach der Dickinson-Methode würde arbeiten können. Wir gingen ins Studio und machten eine wilde Session, die diesem Tiven aber nicht gefiel; später überredete er mich noch, in seinem Sinne geglättetere Stücke bzw. Versionen aufzunehmen. Das war scheußlich, und wir zerstritten uns. Von diesen ersten Sessions hat er zwar Cassetten gezogen, die Masters hatte er aber in seiner Blödheit gelöscht. Eine Weile hörte ich nichts von dem Typ, dann kam diese Singer Not The Song-EP raus. Das war Material vom ersten Tag, also von seinen Cassetten. Der Typ war nämlich ohne mein Wissen von Firma zu Firma gezogen und hatte ihnen seinen Dreck angeboten, erst als er merkte, daß er damit nicht durchkam, suchte er meine Version wieder heraus. Drei Jahre später hat er dann das komplette Material vom ersten Session-Tag an Line Records in Deutschland verkauft, alles natürlich ohne mein Wissen.“
Als die Singer Not The Song-EP auf dem New Yorker Indie-Label Ork Records erschien, 1977, das auch frühe Television und Richard-Hell-Singles rausbrachte, war Alex Chilton schon nach New York gegangen. Das Box-Tops-Geld war endgültig ausgegangen. Dieses ’75, zuletzt noch in Memphis mit seinen üblichen Kumpels aufgenommene Material war der letzte Versuch vor Punk und dem damit verbundenen ersten schüchternen Kult-Status von Chilton, die Welt mit dieser ganz neuen Art Musik zu machen zu erschüttern, die Alex sich zurecht geahnt hatte. Stilistisch knüpft die Platte eher an Radio City an, an polternde Drums, in der Mitte erschöpft zusammenbrechende Songs – „besonders meine Coverversionen von ‚Summertime Blues‘ und ‚I’m So Tired‘ von den Beatles konnte dieser Tiven nicht leiden, dabei war ich darauf besonders stolz“ –; trotz aller technischer Unzulänglichkeiten und bewußt nicht gelöschter Studioatmosphäre, kommt eine Batterie von Stimmen und Gitarren, ihrerseits verschieden verfremdet, zum Einsatz (das Material hat Chilton aus Coverversionen und anderswo bereits aufgenommenen, aber damals noch nicht erschienenen eigenen Songs offensichtlich eilig zusammengesucht); und obwohl alle Chilton-Platten irgendwie a mess sind, ist diese ein besonderer mess, gleichwohl gut. In Deutschland hieß sie Bach’s Bottom.
Bangkok
Chilton konnte in New York einigermaßen leben. Er freundete sich mit den dB’s an und half ihnen hier und da im Studio und spielte seine eigene einzige richtige Punk-Single ein, „Bangkok“, wieder reichen die Takte nicht aus, um die Melodieteilchen und Gefühlsteilchen aufzunehmen, wieder diese auch in der Höchstgeschwindigkeit leicht schlappe Unkoordiniertheit des Südens, diese grundsätzlichen Probleme mit Geschwindigkeit (aus denen irgendwann einmal das entstanden ist, was man Swing nennt): „Here’s a little song that’s gonna please ya / about a town down in Indonesia“.
Ich war damals ein schwerer Alkoholiker und mußte jeden Abend trinken. Ich ging immer ins CBGBs, nicht wegen der Musik, die mich eigentlich nie interessierte, sondern weil ich da frei saufen durfte. Das CBGBs hat eine lange Theke, die vom Eingang zur Bühne führt. Dann kommt noch eine kleine Tanzfläche, und dann erst die Bühne. Ich stellte mich immer ans andere Ende der Theke, um von der Musik nicht so beim Trinken gestört zu werden. Eines Abends stellte ich fest, daß ich mysteriöserweise mit meinem Glas immer näher zur Bühne rutschte, schließlich war ich am vorderen Ende der Theke angelangt, ging ein paar Schritte Richtung Bühne: Diese Band sah großartig aus. Und dann sagten sie was von einem Memphis-Rock’n’Roll-Medley, das sie spielen wollten, und es war um mich geschehen. Das waren die Cramps. Eine Freundin von mir wohnte in einem Haus, wo sie auch ein Fotoatelier hatte, es gehörte übrigens Andy Warhol, und da übten die Cramps. Ich machte mich mit ihnen bekannt. Wir stellten sofort eine Menge Gemeinsamkeiten fest, und sie beschlossen, mich zum Produzenten haben zu wollen. Schon damals hatten sie die größte Trash- und Rockabilly-Sammlung, die ich je gesehen habe. Wir gingen runter nach Memphis und nahmen erst die Gravest Hits und dann Songs The Lord Taught Us auf. Die Cramps waren damals bei I.R.S., dem Label von Miles Copeland, Du weißt, dem Bruder dieses Police-Kerls. Die Platte ist in der ganzen Welt von zum Teil internationalen Konzernen vertrieben worden: Ich habe aber keinen Pfennig gesehen. Copeland und Tiven, das sind von allen Schweinen, die ich kennengelernt habe, die beiden, die ich gerne langsam zu Tode foltern lassen würde.
Zur selben Zeit, wir schreiben das Jahr ’78, entdeckten die Anhänger des Singer/Songwriter-Punks, also der Musik von Costello bis Vibrators, von Johnny Moped bis Television Leute wie Alex Chilton und die Flamin’ Groovies als Vorläufer; die 75er-Aufnahmen mit Dickinson werden als Big Star – Third veröffentlicht, und plötzlich ist für Alex in Memphis wieder Studiozeit zu haben. Wieder mit James Luther Dickinson nimmt er sein zweites Meisterwerk, eine der zehn besten Platten aller Zeiten, auf: Like Flies On Sherbert. Wieder ist die ganze Crew dabei, die immer in den Ardent-Studios aufläuft, wenn Alex und Jim zu tun haben. Neben Rosebrough sitzt der später etatmäßige Tav-Falco-Schlagzeuger Ross Johnson am Schlagzeug; unter „Titleing“ ist ein gewisser Gustavo Falco gecredited: „Ja, der Titel ist von ihm. Er war im Studio als wir den Song aufnahmen. Hörte sich das an und meinte dann in seiner poetischen Art: ‚Mein Gott, das klebt ja! Wie Fliegen auf Sorbet.‘“
Waltz Across Texas
Ein Titel, der für die sogenannte dritte Big Star vielleicht noch besser gepaßt hätte, zu ihrem reinen, hingegebenen Schwelgen. Auf dieser Platte entfaltet Chilton dagegen alle seine Talente, in mindestens einem Song, jeder ein Klassiker: Mit Billy-Chilton in den beiden oft von mir getesteten und immer angekommenen Dance-Floor-Smashs „Rock Hard“, mit Dickinsons natürlich zufällig entstandener Geschwindigkeitsmanipulation am Anfang, und „Girl After Girl“, den sorglosen Hochstapler-Geständnissen, dem uneinsichtigen, schleppenden „My Rival“, der optimistischen, unwiderstehlichen und unlängst von These Immortal Souls gecoverten Kinderanmache „Hey! Little Child“, Sich-Nichtabschüttelnlassen als Sport, der supersimplen Hauerhymne „I’ve had It“ von Roy Orbison, ohne Stolz darauf zu sein, es gehabt zu haben, schließlich mit zwei Avantgarde-Country-Nummern, dem Titelsong und dem über die Landschaft kriechenden „Waltz Across Texas“. (Eine Komposition des großen Ernest Tubb, 1914–1984, der immer mit der Gitarre von Jimmy Rogers ’rumlief, weil dessen Witwe sie ihm als Zeichen dafür, daß sie ihn für den wahren Nachfolger ihres Mannes halte, übergeben hatte.)
„Ja, das war ein eigenartiges Lied. Es klingt wahrscheinlich etwas betrunken. Jim hat immer darauf geachtet, daß wir solche Sachen so stehen lassen. Ich glaube auch, daß Text und Musik sehr gut zueinander passen.“ Es schleppt sich so dermaßen dahin, so unkontinuierlich und gefährdet, kein Mensch kann sich vorstellen, daß sie’s bis zum Ende schaffen, dazu kippt Alex’ Stimme immer wieder um.
The Ballad Of El Goodo
Man lädt ihn 1980 nach London ein, wo er vier Tage Zeit hat, sich eine Band zusammenzusuchen: „Baß und Schlagzeug waren die Leute von den Soft Boys, die kannten das Repertoire ganz gut, die zweite Gitarre spielte Knox von den Vibrators, dem mußte ich fast alles beibringen.“ Die LP Live In London entsteht. Das Repertoire gleicht, abgesehen von den später hinzugekommenen Stücken, fast dem heutigen Chilton-Trio-Programm.
„Ich wußte damals schon, welche Stücke von mir gut sind und welche nicht. Früher habe ich so um die 30, 35 Songs im Jahr geschrieben, dabei ist auch viel Mist entstanden, heute schreibe ich drei, vier richtig gute, der Rest sind dann Coverversionen.“
Aber Du hast auch gute Songs geschrieben, die Du heute nicht mehr spielst.
„Nicht, daß ich wüßte.“
Z. B. „The Ballad Of El Goodo“?
„Das ist kein guter Song, der Song hat einen guten Teil, der Rest ist konventioneller Mist.“
„Holocaust“?
„Der ist okay, aber nicht gerade ein Lied, mit dem ich ein Live-Publikum unterhalten möchte. Mir lag damals was auf der Seele, das hat dieser Song abgearbeitet, damit ist die Sache erledigt.“
Zu seinem aktuellen Live-Repertoire gehören so: ein Song von der ersten Big Star, drei bis vier von der zweiten und dritten, die Smash-Hits „Bangkok“ und „The Letter“, fast die ganze Like Flies on Sherbert und die knappe Hälfte seiner 80er LPs Feudalist Tarts und High Priest.
Kurz vor den Aufnahmen zu Like Flies On Sherbert, 1979, lernt Alex Chilton den jungen Mann kennen, der der Platte den Namen gab.
„Es war, glaube ich, ein Auftritt von Mud Boy & the Neutrons und als Pausenunterhalter kam dieser junge Mann, der ganz allein eine Version vom ‚Bourgeois Blues‘ darbot. Völlig wild und außer sich, am Ende zerstörte er die Gitarre mit einer Motorsäge. Ich war begeistert und beschloß, mich um den Mann zu kümmern.“
Bourgeois Blues
Kurz darauf ist der zu diesem Zweck sich stets LX nennende Alex Mitglied von Tav Falco’s Panther Burns und spielt auf der ersten Single und LP mit.
„Aus meinen letzten Platten war auch wieder nicht viel geworden, ich hatte nicht viel zu tun, und was Tav Falco machte, erinnerte mich in vielem an das, was Jim und ich immer wollten. Auf eine primitivere Art natürlich, Tav konnte nie besonders gut spielen, die anderen auch nicht, ich nenne ihn gerne ein ‚primitives Rock’n’Roll-Genie‘, das ist genau das, was er ist.“
Ich sah ihn bei seiner Deutschland-Tournee zweimal, einmal mit einem tighten Drummer, sehr kompakt, aber ohne die endlos-explodierenden primitiv-genialen Rock’n’Roll-Improvisationen, ein zweites Mal mit einem Mädchen am Schlagzeug, die den Takt so wenig hielt wie er selbst, fast so frei und zügellos wie auf eurer gemeinsamen ersten LP.
„Ja, dieser Ross Johnson, der gute Drummer, ist Bibliothekar an den Öffentlichen Bücherhallen von Memphis, er hatte sich für die Tour Urlaub genommen, mußte aber dennoch zwischendurch zurück. Bei Tav Falco ist sowas eben möglich, Du hast wahrscheinlich seinen letzten Urlaubstag mitbekommen.“
Diese erste Tav-Falco-LP ist das letzte Lebenszeichen für eine längere Zeit; seit dem Jahr 81 hört man eine Weile nichts mehr von Alex Chilton.
Es war in der Weihnachtswoche, daß sich mein Alkoholismus so verschlimmert hatte, daß ich richtig krank wurde. Ich konnte also nichts mehr trinken. Nach vierzehn Tagen ging es mir etwas besser, und ich stellte fest, daß es länger als ein Jahrzehnt her ist, daß ich vierzehn Tage lang keinen Drink hatte. Ich wollte nüchtern bleiben, aber Memphis war feucht und traurig und grau, hier würde es nicht klappen, also nahm ich die Einladung eines Freundes nach New Orleans an, wo es mir so gut gefiel, daß ich erstmal blieb. Ich nahm verschiedene Jobs an, einmal arbeitete ich im Naturschutz, Bäume pflegen, dann als Tellerwäscher, je nachdem, mit Musik hatte ich nicht viel zu tun. Ich holte meine Sachen aus Memphis und ließ mich nieder. Irgendwann lernte ich diesen Schlagzeuger kennen, Doug Garrison, mit dem ich noch heute zusammenspiele, und wir gründeten so eine kleine Showband, die auf der Bourbon Street spielte. Verschiedene alte Freunde von mir kamen und sahen uns, und es gefiel ihnen. Die dB’s schließlich waren es, die uns ein Engagement in New York vermittelten. Also spielten wir eine Weile in New York. Da interviewte mich eines Abends dieser Journalist aus Frankreich und fragte mich, warum ich eigentlich seit so langer Zeit keine Platte gemacht habe. Nun, ich hatte kein Angebot. Er fiel aus allen Wolken. Er wisse da jemanden, und das war Patrick von New Rose.
Stuff
Eine Flut von New-Rose-Platten wird durch diesen Kontakt eingeleitet, zwei Chilton-LPs und eine Maxi, diverse Platten von Tav Falco, die LP der bereits seit zehn Jahren existierenden Mud Boy & The Neutrons, das von Alex Chilton produzierte Debüt des großartigen Carmaig de Forest. Ein Haufen arbeitsloser, unbekannter oder vergessener amerikanischer Helden wird seit 85 auf diese Weise wieder aktiv. Alex Chiltons Musik hat sich derweil in den nüchternen Jahren in New Orleans ziemlich geändert.
„Zum ersten Mal war ich nicht auf die Gnade der Studios angewiesen, die ich persönlich kannte und denen ich früher irgendwelche Beteiligungen versprechen mußte. Ich hatte ein Budget, und es war nicht groß, aber ich konnte die Musiker und die Mixer bezahlen.“
Abgesehen von seiner immer noch extremen, in alle Richtungen fallenden, stürzenden, sinkenden, steigenden, kletternden und immer bei aller hellen Durchsichtigkeit dominierenden Stimme, ist seine Musik kräftig, straight und gesund geworden, leistet nicht mehr wie in diesen großen, vergangenen Momenten mit Dickinson Unmögliches, dient nicht mehr zwei feindlichen, gleich mächtigen Göttern gleichzeitig, um sie am Ende als ein und denselben zu entlarven, sondern nur noch einem alten Genießer-Gott: dem Süden, dem Soul und neuerdings immer mehr dem Jazz. Auf Feudalist Tarts ist dieses Stück „Stuff“, dieses sich unendlich langsam aufschraubende jazzige Ding, mit grunzenden Bläsern, in dem Chilton immer nur bittet „give me more of that stuff“ und zwar „not the stuff for the tourists, but the stuff for the purists“. Alle Unrast ist von ihm genommen, er weist keine Wege mehr für andere, was natürlich schade ist, er lebt ganz die wohlige, selbstvergessene Natürlichkeit eines schwarzen Blues, der ihm eigentlich alles andere als natürlich ist.
„Ich wollte immer wilden Rock’n’Roll spielen, wilden Beat, aber ich komme natürlich vom Jazz, ich hatte immer musiktheoretisches Zeug im Kopf, wenn ich Songs schrieb, deswegen konnte ich nicht einfach ein primitiver Rocker werden, auch wenn das meinen Gefühlen entsprach. Mein Vater war Jazz-Musiker, und ich war in meinem ganzen musikalischen Gefühl immer von einer gewissen Kompliziertheit geprägt, ich wollte immer roh und kompliziert zugleich sein. Wenn ich heute zu einer Art schwarzer Tanzmusik zurückkehre, ist das auch der Erfahrung von New Orleans und den Musikern, mit denen ich da zusammenarbeitete, zu verdanken.“
Make A Little Love
Der Mini-LP Feudalist Tarts aus dem Jahre ’85 folgte vergangenes Jahr im gebotenen Abstand High Priest mit nur vier eigenen Kompositionen, zusätzlich zu seinem Trio spielen die halben Panther Burns mit, natürlich auch Jim Dickinson, ohne daß einer von beiden seinen alten experimentellen Ideen nachhängt. Wenige Monate nach dem Erscheinen ist High Priest schon doppelt so oft verkauft worden wie jede andere Platte, an der Chilton seit den Box Tops als Musiker beteiligt war. In „Make A Little Love“, geschrieben von Jimmy Holiday/Mike Akopoff, spricht ein ehemaliger Tramp und Penner, der es zum frischgewaschenen Star mit Hitsingle und Bankkonto gebracht hat, was laut Chilton durchaus eine self-fulfilling prophecy werden sollte. Mit „Dalai Lama“ habe er seine Serie von seltsamen Liedern über seltsame asiatische Länder fortsetzen wollen, „same kinda humour as in ‚Bangkok‘“. Die Straightness der Platte geht bis zu einer Version des italienischen Eisdielen-Klassikers „Volare“, den man sich neulich auch im Repertoire von NRBQ anhören mußte: „Ich bin ein alter Fan der italo-amerikanischen Crooner der frühen 60er. Diese Nummer hatten wir im Programm, als wir in New Orleans Touristen unterhielten, sie ist mir ans Herz gewachsen.“
Am Ende kommen dann noch zwei schlapp-cool swingende Eigenkompositionen im Stil von „Stuff“ oder der „No Sex“/„Underclass“-Single, die mit der zuweilen zu satten Freundlichkeit der LP versöhnen. Ohne so weit zu gehen wie Nikki Sudden, der Chilton dringend Rückfälle in Alkoholismus und Drogensucht wünscht, vermißt man das, was in den 70ern in den Ardent Studios möglich wurde, der Entwurf eines neuen Popsongs als Beweis, daß angeborene Zitierwut und Experimentalmusik in ihrem höchst-entwickelten Stadium dasselbe sind.
I Can’t Control Myself
Kurz zuvor war die großartige, archäologische Memphis-Platte The World We Knew von Tav Falco unter Alex Chiltons Regie entstanden, er hat sie nicht nur produziert, sondern auch diverse Instrumentalparts gespielt. Was macht ihn als Produzenten eigentlich aus?
„Ich lege Wert darauf, daß ich die Band kenne, sie mir möglichst selber aussuche, wie die Cramps, oder lange kenne, wie Panther Burns. Ich gehöre nicht zu den Produzenten, die das Repertoire groß beeinflussen, ich sorge zunächst für gute Laune, das Wichtigste ist eine gute Stimmung im Studio. Aber außerdem bin ich ein Produzent, der selber mischt, das ist mir sehr wichtig, daß ich selbst an den Reglern sitze.“
Das obskure Zustandekommen diverser Big-Star- und Chilton-Veröffentlichungen, die oft semi-gebootlegte Überspielungen von Bändern dritter Generation sind, die immer wieder gereissued werden, ohne das Originalmaster – soweit es nicht sowieso von Jon Tiven gelöscht wurde – heranzuziehen, führte dazu, daß viele dieser am Regler entstandenen Feinheiten auf den heute zugänglichen Platten nicht mehr erhalten sind, weder die geplanten, noch die, die sich der Studioanarchie verdanken. Die CD-Veröffentlichungen von Like Flies On Sherbert und zweier Big-Star-Platten (weitere sind geplant) können da erste Abhilfe leisten. Uwe Tessnow von Line ist es gelungen, die Master in diesen Fällen entweder wieder aufzutreiben oder Kopien der ersten Generation zu verwenden.
Für den New-Rose-Coverversionen-Sampler nahm Alex Chilton den Troggs-Klassiker „I Can’t Control Myself“ auf; seine seinerzeit als B-Seite von „Bangkok“ aufgenommene Fassung vom Seeds-Hit „Can’t Seem To Make You Mine“ ist ebenfalls noch heute im Live-Repertoire. Wie sind heute seine Kontakte zu den Schatten und Figuren seiner Vergangenheit, wie sein Verhältnis zu seinem legendären Status, dem die Replacements mit ihrer Hommage letzten Schliff beigebracht haben?
Can’t Seem To Make You Mine
„Ich wache nicht auf und denke: hallo, alte Legende! Aber ich habe den Song sehr gerne, obwohl der Text wenig Sinn ergibt und ich nicht genau weiß, was ich darin zu suchen habe, aber die Replacements sind eine gute Gruppe. Die Troggs waren immer alte Favoriten von mir. Ich bin neulich gefragt worden, ob ich bei so einer Beat-Veteranen-Tournee mitmachen wollte, was okay war. Ich bin dann in einer Show aufgetreten, wo auch Engländer dabei waren, u. a. Billy J. Kramer von Billy J. Kramer und den Dakotas. Mit ihm habe ich mich lange über die Troggs unterhalten. Ich kann die britischen Verhältnisse nicht so genau durchschauen, aber Billy hält sich jedenfalls trotz aller Wildheit seines Lebens für einen kultivierten britischen Gentleman, die Troggs seien aber … ich weiß nicht, wie man in England sagen würde, wir würden sagen: echte Hillybillies gewesen, wilde, rohe Kerle. Und Reg Presley ist es wohl noch heute, er ist ja noch immer unterwegs. Mit Sky Saxon sind wir auch neulich aufgetreten, es war eigentlich ganz nett, und wir haben zusammen ‚Can’t Seem To Make You Mine‘ gesungen, aber leider ist der arme Sky ja völlig durchgedreht und nicht mehr zurechnungsfähig … durch das Engagement von New Rose sind viele Leute, die zur selben Zeit wie ich angefangen haben, heute wieder da, aber ich habe nicht viel mehr damit zu tun als mit heutiger Musik.“
Was denkst Du zu Hüsker Dü?
„Ich kenn sie kaum, aber alle sagen mir, daß ich sie mir anhören sollte und daß sie viel mit mir gemeinsam haben. Genauso war das damals auch mit den Cramps, bevor ich sie durch Zufall im CBGBs entdeckte. So muß es mit Hüsker Dü auch kommen. Ich werde sie durch Zufall entdecken und dann vielleicht eine Platte produzieren.“
Und was haben wir für eine Tournee zu erwarten?
„Ich habe einen neuen Bassisten, durch den das Trio noch besser geworden ist als damals, als Du es gehört hast, im Frühjahr ’86. Im Wesentlichen werde ich alle Gigs als Trio machen. Wir haben neulich mal in New York mit Bläsern gearbeitet, das war ganz gut, aber zu aufwendig und teuer für eine Europa-Tour.“
Stattdessen wieder etwas Bach zur Solo-Gitarre?
„Das kann durchaus sein, ich habe mich in den letzten Jahren wieder verstärkt mit der klassischen Gitarrenliteratur beschäftigt und denke, daß ich das weitermachen werde.“
Alex Chilton, der sagt, daß er von allen Dingen auf der Welt am wenigsten gerne in einer Werbeagentur arbeiten würde, ist ein begeisterter Anhänger der Zeitschrift New Yorker. Seine Filminformationen bezieht er von der tatsächlich hervorragenden New Yorker-Kritikerin Pauline Kael. In der Nummer, die er heute im Gepäck hat, gefällt ihm ein Artikel über einen unabhängigen Kunstmakler, der Christie’s und Sotheby’s den Kampf angesagt hat, und eine Geschichte über unserer aller portugiesischen Lieblingsrevolutionär Otelo de Carvalho, über den wir uns noch recht lange unterhalten. Otelo, der seit der Revolution schon 55 mal wegen Verschwörung verurteilt war, ist jetzt für längere Zeit hinter Gitter gelandet. „Ich habe mir durch meinen unsteten Lebenswandel das Lesen von Büchern abgewöhnt, aber jeder, der des Lesens und der englischen Sprache mächtig ist, sollte diese Zeitschrift lesen.“
Wenn es noch Leute gibt, die meinen, daß die politischen Ansichten eines solchen Musikers etwas mit seinen sonstigen Leistungen zu tun haben, so sei ihnen gesagt, daß man ihn nach allen Äußerungen zu einer libertären Linken rechnen kann, wie sie überall in der Welt aus Leuten entstanden ist, die über zwanzig Jahre als Künstler ihre Erfahrungen mit Kapital und Industrie gemacht haben. Alex Chilton ist 1950 geboren und glaubt seinem chinesischen Horoskop eher als seinem astrologischen. Morgen fliegt er nach Birmingham/Alabama, er wird dort spielen.
DISCOGRAPHIE
Box Tops: Box Tops/The Letter
Box Tops: Cry Like A Baby
Box Tops: Non-Stop
Box Tops: Dimensions (alle Bell Records)
Big Star: #1 Record, Ardent/Letztes Re-Issue: Line
Big Star: Radio City, Ardent/Stax/Line
Big Star: Third (auch: Sister Lovers), PVC Records/Line
Alex Chilton: Singer Not The Song EP, Ork Records
Alex Chilton: Bach’s Bottom (enthält obige EP plus mehr), Line
Alex Chilton: Like Flies On Sherbert, Aura/Metronome/Line
Alex Chilton: Bangkok/Can’t Seem To Make You Mine, Single/Ork Records, neben diversen anderen Raritäten enthalten auf:
Alex Chilton: The Lost Decade, Doppelalbum/Fan Club, New Rose
Tav Falco’s Panther Burns: Behind The Magnolia Curtain/Rough Trade (mit LX Chilton)
Tav Falco’s Panther Burns: Train Kept A Rollin’/Single, Rough Trade
Alex Chilton: Feudalist Tarts, New Rose, Mini-LP
Alex Chilton: No Sex/Underclass, Single, New Rose
Alex Chilton: High Priest/New Rose
als Produzent (Auswahl):
The Cramps: Gravest Hits / I.R.S.
The Cramps: Songs The Lord Taught Us / I.R.S. / CBS
Chris Stamey: Death Garage / Single / Privatpressung
Tav Falco’s Panther Burns: The World We Knew
Carmaig de Forest: Same





