Von dieser Beschaffenheit ist die amerikanische Freiheit. Sie verlangen genau die richtige Menge von Freisinn von einem Menschen, weder mehr noch weniger. Bei Überschreitungen auf einer der beiden Seiten sind sie intolerant wie ein mittelalterlicher Despot. Sie sind zu konservativ, um sich von der Stelle zu bewegen; wo sie vor zweihundert Jahren standen, da stehen sie noch heute; die Zeit hat ihre Form auch nicht um das Geringste verändert. Denn es ist eine durch das Gesetz festgelegte Demokratie. Taucht dort ein Schriftsteller auf, der an das Königtum glaubt, dann ist dieser Autor nicht frei genug, die Amerikaner jagen ihn aus dem Land; erhebt sich in diesem Mob ein Mann, der an die Anarchie als die kommende ideale Gesellschaftsform glaubt, dann ist dieser Mann zu frei, die Amerikaner henken ihn. Was da über oder unter das äußerst einzigartige Gehirn George Washingtons geht, wird mit Landesverweisung oder Verlust des Lebens bestraft.
Knut Hamsun, 1889
There is no doubt at all that if Hitler was alive and kicking and living in the Third World today he would be armed, medalled and welcomed with all honours into the Free World Club – after all, the first people he put into the camps were the Communists.
He can’t have been all bad.
Julie Burchill, 1984
Tom Wolfe, der große Journalist und Schriftsteller aus den USA, der uns so manch ungewöhnliche Einsichten schenkte, aber politisch nie aus dem anti-kommunistischen Grundkonsens befreit werden konnte oder wollte (auch nicht von Günter Grass, der es angeblich einmal versucht hat), auf den sich alle Amerikaner verpflichtet haben, wunderte sich darüber, daß gerade in den 60er Jahren, einem Jahrzehnt ökonomischer Prosperität und großer Mobilität – also „Freiheit“ –, eine neue Linke entstehen konnte. Für deren perfidesten Denktrick hielt er die Marcuse-Idee von der repressiven Toleranz. In der Vorstellung, daß gerade in Zeiten der Redefreiheit, daß im Pluralismus ein repressives Moment versteckt sei, witterte er die gemeinste Verschlagenheit jener kommunistischen Vernebelungsstrategie namens „Dialektik“, einer intellektuellen Selbstverständlichkeit, die es in den USA nie gegeben hat und die dort auch von den erwiesenermaßen intelligentesten Köpfen nicht verstanden wird. Denn daß die Dinge immer ein Anderes haben sollen, ein dunkles Gegenüber, einen makabren Schatten – wie sollen die Amis das wissen, wo sie doch als Ganzes nur das Andere Europas sind. Wie könnten sie z. B. Utopie denken, wo sie doch selbst von unseren Utopisten erfunden worden sind, als Welt am Draht: „America is not a country: it is an experiment that has gone terribly terribly wrong“ (Julie Burchill).
Nur in der Musik ahnen wir noch etwas von dem Anderen, von den Gebeinen der Millionen von Indianern, die sich als kollektives schlechtes Gewissen unartikuliert stumpf und böse in den Produkten der Trash-Kultur äußern oder dann, wenn die Cramps singen, wenn Jeffrey Lee Pierce dichtet, wenn die Shangri-Las schmachten. Wenn sich das Monstrum aus verdrängtem Sex und verdrängter Geschichte unartikuliert in den Sümpfen aufbäumt, Captain Beefheart und Dr. John seine Stimme leiht, dann ahnen wir etwas von den unglaublichen, blasphemischen Verdrängungen, Verbrennungen, Vernichtungen. „Alles, was ich weiß, ist, daß das Hotel auf einem alten Indianerfriedhof steht“, erklärt der Manager des Overlook-Hotel seinem Winter-Hausmeister Jack Torrance in Kubrick/Kings „Shining“. Und mehr braucht nicht gegeben zu werden als dieses Stichwort. Nur in der Musik hören wir noch etwas davon.
Der norwegische Nobelpreisträger, dem im hohen Alter sogar wegen angeblicher Nazi-Sympathien der Prozeß gemacht wurde, und die britische Wunderkind-Pop-Schreiberin haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Aber nicht nur der Zufall, der mich Hamsuns „Amerika“ aus dem Jahre 1889 und Burchills „Best Of“-Sammlung von 85 („Love It Or Shove It“) direkt hintereinander lesen ließ, verbindet beide Autoren: Als gute Leute verbindet sie naturgemäß viel mehr. Da wäre Hamsuns Motto: „Wahrhaftigkeit ist weder Zweiseitigkeit noch Objektivität, Wahrhaftigkeit ist einfach die uneigennützige Subjektivität“, das sich so auch über Burchills Essay-Sammlung schreiben ließe. Da ist der selbstgemachte Intellektualismus, der keine Leitbilder, keine konventionelle akademische Erziehung, keine Zugehörigkeit zu Denkschulen und Bewegungen erkennen läßt, um um so heftiger nach Verbindlichkeiten zu hungern. Die skeptischen Selfmade-Intellektuellen aller Epochen, die aus den Bauernkaten (Hamsun) und Arbeiterfamilien (Burchill), aber auch die aus evangelischen Pfarrhäusern und katholischen Internaten, die Schreckensmänner, wie Arno Schmidt sie nennt, sie suchen sich immer, wider alle Vernunft, ihre Götter, ihr Reich des Friedens, ihr Absolutes, sei es die Sowjetunion (Burchill) oder das unwirtliche Landleben in Nordnorwegen, das zu verklären ein Knut Hamsun alle schriftstellerische Kraft brauchte.
Sie verbindet weiter eine Art von Skepsis, die mit der kritischen Nörgelei, der Unfähigkeit, sich zu begeistern, die den modernen, liberalen Intellektuellen ausmacht, nichts zu tun hat, eine Skepsis vor der Kulisse eines willkürlich gesetzten Absoluten. Dazu kommt die intuitive, aber richtige Erkenntnis, daß die allgemeinverbreitete Meinung, die Sicht der Dinge in allen pluralistischen Schattierungen grundsätzlich falsch ist. Die Brisanz wie die Richtigkeit dieser Haltung ist nicht auf Anhieb zu verstehen. Es will zunächst nicht in ein mitteleuropäisch gebildetes Gehirn, daß nicht die Untersuchung einer Sache uns zur Wahrheit über die Sache führt, sondern die Untersuchung der öffentlichen Meinung über die Sache; zumal wir uns so ja zum Sklaven dieser Meinung zu machen scheinen, wenn wir uns derart negativ auf sie fixieren. Aber gerade die in einem Abstand von knapp hundert Jahren geschriebenen Anmerkungen über die USA können helfen, die Richtigkeit dieser Vorgehensweise zu belegen.
Oft sind es die Rechten, isolierte Spinner, auf die keiner was gibt, deren hilflose, unmaterialistische Ausfälle, auf falschen Prämissen aufgebaut und unter falschen Absichten geäußert, einen Weg zur Wahrheit weisen. Von Marinetti über Celine, Benn, Pound, Hamsun bis hin zu Borges und Mishima haben dissidierende, oft massiv irrende rechte Intellektuelle Generationen dissidierender linker Intelligenz geholfen, den Wald statt der Bäume zu sehen. Julie Burchill leitet ihr anti-amerikanisches Hauptwerk „A Christmas Wish: End Of America“ mit einem Zitat des rechten, aber sowjetfreundlichen und US-feindlichen Abgeordneten Enoch Powell ein. Was ihr der Powell ist, ist mir Johannes Gross: „Die alten Imperien wußten sich halbwegs erträglich zu machen, indem sie Tradition und Kultur der einverleibten Landschaft einigermaßen respektierten und die Empfindlichkeit fremder Führungseliten schonten. Jeder gebildete Römer sprach Griechisch, die Engländer ließen in Indien und anderswo alles unangetastet, was der Ausübung ihrer Herrschaft nicht unmittelbar im Wege stand. Die Amerikaner hingegen mögen sich nichts anderes als ihren eigenen Way of life vorstellen, Englisch als allgemein verbindlich erklären und alles Fremde so zurechtbiegen, daß es noch dem Fernsehgehirn einsichtig wird. Selbst die Bereitschaft, fremde Staatsnamen zu achten, geht verloren. Die Volksrepublik China ist Red China, wir sind West-Germany, während noch die kommunistischen Machthaber Anstand und Verstand aufbringen, unserem Staat den Namen zu belassen, den er sich gegeben hat, und in Deutschland deutsch zu reden.“ (Johannes Gross)
Imperialismus als Geschmacksfrage. Aber der dissidierende, nirgendwo richtig ernstgenommene Gross kommt bei der Analyse der Tischsitten der Imperialisten zu der, für die Zeitung, in der sein Sermon erschienen ist (FAZ), ungewöhnlichen Erkenntnis, daß der vermeintliche Imperialismus der Sowjetunion kulturellen Eigenarten, wie der der Landessprache, offensichtlich mit mehr Respekt gegenübertritt als der amerikanische. In derselben Ausgabe dieses Blattes regt sich ein anderer Mitarbeiter darüber auf, daß es in Nicaragua nichts zu essen, wohl aber Farbe für revolutionäre Parolen gäbe.
Warum es in Nicaragua nichts zu essen gibt, kann in Deutschland nur eine unattraktive, sprachlose, zur Marginalie zusammengeschrumpfte 3. Welt-Laden-Grünlinke richtig beantworten. Ich habe auch lange gebraucht, um es zu glauben, aber man muß einer Leserschaft, die, wenn man dumme Witze abzieht und den Poll-Antworten ansonsten glaubt, zu 10 – 15 % aus Neuen Rechten besteht, wohl erst noch erklären, daß die Vereinigten Staaten von Amerika seit Jahrhunderten eine menschenfeindliche, imperialistische Politik betreiben, im Interesse einer grausamen, sozialdarwinistischen Privatwirtschaft, die sich schon jetzt – der Zahl der von ihr verschuldeten Toten nach – mit den mörderischsten und räuberischsten Imperien, die die Welt je gesehen hat, messen kann.
Hamsun ist in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zweimal für je zwei Jahre drüben gewesen, um noch deduktiv zu beweisen, daß in jedem Punkt das Gegenteil von dem richtig ist, was in Europa zu seiner Zeit als öffentliche Meinung über die USA verbreitet ist. Julie Burchill, Kind einer Medienepoche, kann vom Schreibtisch aus sicher sein, daß ihre Analysen zutreffen. Warum ist das so? Nur weil alles zwei Seiten hat und mehr und man, wenn man das Andere ausspricht, also nicht das, was permanent wiederholt wird und dessen Kritik auch permanent wiederholt wird, wenn man also dem Ding, das so traurig zwischen Übereinkunft und Kritik der Übereinkunft oszilliert, sein ganz und gar schwarzes Gegenteil vorhält … aber gibt es das? Jenseits von Kritik?
Jenseits von Kritik, wie sie in unseren Breiten verstanden wird, nämlich als Verbesserungsvorschlag, der in dem Glauben gemacht wird (Demokratie!), daß er beherzigt werde, gibt es die kluge Vernichtung, die uneigennützig subjektive Streichung, das unermüdliche Abtragen von falschen, weil das Gewaltregime der USA stützenden Ideen (wie z. B. der, daß dort drüben die Freiheit verwirklicht sei).
„Die Freiheit ist zum anderen nicht immer eine freiwillige, sondern oft eine erzwungene, eine vom Gesetz befohlene Freiheit. Der Kongreß hält seine Sitzungen und macht Gesetze dafür, wie man zu sein verpflichtet ist, statt lediglich zu verbieten, wie man nicht sein darf. (…) Zu der vom Gesetz befohlenen Freiheit kommt ferner die Art erzwungener Freiheit, die sich das patriotische Volk selbst befohlen hat. (…) Ein Fremder spürt, daß er mitten in Amerika nicht unbedingt frei ist (…) er steht dem Despotismus der Freiheit gegenüber.“ (Knut Hamsun)
Der Despotismus der Freiheit, vielleicht bei Hamsun nicht viel mehr als eine ästhetische Abneigung gegen die „dummfeiste“, plumpe Einigkeit, mit der sich der junge Staat, der auf Kunstimporte aus Europa 35 % Schutzzoll legt, ständig selbst feiert (ohne daß da viel zu feiern wäre), ist der früheste, den Zusammenhang betreffende Slogan, der Gewinner der Herbert-Marcuse-Medaille und der Beweis, daß marxistische Erkenntnisse immer dann am schönsten klingen, wenn sie ein waschechter Nicht- oder Anti-Marxist gemacht hat. Hier ist es, das heute noch gültige Statement zu den bürgerlichen Freiheiten, die richtige, weil in der Logik der bürgerlichen Gesellschaft nicht vorgesehene, in ihrem Lexikon nicht verzeichnete andere und daher richtige Seite dieses Dinges! Und dennoch muß man heute weitergehen. Julie Burchill freut sich auf die sowjetische Invasion in Großbritannien: „Best of all, goodbye to the alcoholic, lower-middle-class, morally incontinent, Tory yokels who pass for journalists at the moment and hello to nice, neat, well-behaved little Party-hacks, who do not pretend for a minute to be independent thinkers …“
Und wer will bestreiten, daß dies die Wahrheit über Lech Walesa ist (die man nirgendwo anders lesen kann und in Deutschland nur in SPEX): „La Walesa – who was actually a major eastern bloc cultural artefact in that he gave the impression of having listened to far too many smuggled Bruce Springsteen records before going out and creating himself as his own masterpiece, a monument to be proud of, throbbing, untamed peasant manhood, and about as relevant to contemporary realpolitik as a Flat Earther (jemand, der glaubt, daß die Erde flach ist).“
Zu diesen Wahrheiten kommt nur, wer als Sklave der Medien gelernt hat, die geeignete, aufmerksame Haßliebe zu entwickeln. Der moderne Eremit, eingeigelt in die Selbstgefälligkeit der Subkultur und ohne Fernsehgerät, wird etwas Wichtiges zu der wichtigen westlichen Erfindung Walesa nie sagen können, der kritisch Aufmerksame, der Kunde der verbreiteten Diskussionen, der Eingreifer und Mithelfer ebensowenig; mit anderen Worten: diese Erkenntnissuche schließt den Amerikaner nicht aus.
Denn was kann der Amerikaner? In die wahre Opposition kann er nicht gehen; außerhalb einer an Issues herumdokternden, systemimmanenten Kritik ist es ihm nicht möglich, sein Land in Frage zu stellen oder dessen Verbrechen zu erkennen. Nein, das andere Amerika bleibt Eigentum der Blues- und Soul-Musik („Bad Amerika“ – Jeffrey Lee Pierce), eingekapselt in die Metapher der unglücklichen, ausweglosen Liebe. Blues und Soul handeln von dem Schmerz, den Lebewesen erleiden, die etwas erleiden, das sie nicht verstehen. Also Liebe. Also Unterdrückung und Ermordung durch ein System, das man nicht versteht: „There is nothing I can do / If you leave me shall I cry / but my ghost will follow you / until the day I die“ (Deadric Malone). Blues ist die Musik von Katzen, die man im Auto zum Tierarzt bringt, weil die Besitzer glauben, daß es das beste für sie sei (für die Katzen). Katzengeschrei, Katzenjammer. Liebeskummer. Das ist die einzige Opposition gegen Amerika.
Aber was kann der amerikanische Intellektuelle, der amerikanische Künstler? Wir wollen den Amerikaner nicht ausschließen, was vermögen die Großen, Andy Warhol, Gertrude Stein, John Ford und Howard Hawks?
Dialektik, klar, ohne sie säßen wir heute noch auf irgendwelchen Olivenbäumen, ohne sie hätte die Menschheit keine andere Hoffnung, als dumpf auf den Boden des St. Andreas-Graben zu knallen, aber in Europa ist Dialektik auch zu einer geistigen Zwangsneurose geworden; aus dem Blick auf das Andere, die verborgene Wahrheit, ist neurotische Suche nach dem, „was dahinter steht“, geworden, ein die ganze bürgerliche Publizistik durchziehender Topos, der Verschwörungen wittert, Bedeutungen aufspürt, bevor er überhaupt das Antlitz, die Oberfläche einer Sache gesehen hat, und grundsätzlich den Papierkorb eines Schriftstellers für interessanter hält als dessen veröffentlichte Werke. Aus Dialektik, die in ihrer scharfen Form für die bürgerliche Kultur unerträglich wäre, ist Paranoia geworden. Hier brauchen wir den AMI. Er hilft uns bei der Rückeroberung des Antlitzes, der Oberfläche, des Faktischen, bei der Tatsachenfeststellung.
Zumindest die besten Amis helfen uns, sie sind Meister: Meister der Tautologie. Von Walt Whitman bis Andy Warhol. Und ist es ein Zufall, daß der berühmte Satz Gertrude Steins – auch wenn diese große Amerikanerin zeit ihres Lebens in Europa verbrachte – auch die berühmteste Tautologie der Weltgeschichte ist: „A rose is a rose is a rose“?
Knut Hamsun: „Walt Whitmans Naivität ist so unvorstellbar groß, daß sie schon wieder bestechend wirken und hier und da den Leser veranlassen kann, sich selbst darin zu erkennen. Diese wunderbare Naivität ist es, die ihm einige Anhänger auch unter den Men of letters eingebracht hat. Seine Tabellendichtung, dieses unmögliche Herunterleiern von Personen, Staaten, Hausgeräten, Werkzeug, Kleidungsstücken ist wahrhaftig die naivste Dichterei, mit der die Literatur bisher bereichert worden ist, und wäre sie nicht aus einer naiven Brust gesungen, wäre sie ganz gewiß niemals gelesen worden. Denn sie verrät auch nicht einen Funken von dichterischem Talent. Wenn Whitman etwas besingt, sagt er gleich in der ersten Zeile, daß er diesen oder jenen Gegenstand besingt – in der nächsten besingt er bereits einen anderen und in der dritten einen dritten –, und das alles, ohne mehr zu tun, als den Gegenstand zu nennen. Er weiß auch nicht viel mehr von ihm als seinen Namen; aber er weiß viele Namen – daher all die begeisterten Namensaufstellungen.“ Ja, Walt Whitman stellt die Tatsachen fest. Wenn er sich an Ohio, Indiana, Illinois, Iowa, Wisconsin und Minnesota berauscht, heißt die entsprechende Zeile im Gedicht „Gesänge von Ohio, Indiana, Illinois, Iowa, Wisconsin und Minnesota“ (Walt Whitman). Tautologie. Meinetwegen Naivität, aber man muß es uns einmal wieder klarmachen. Iowa ist Iowa. Wirklich, fürwahr das ist es.
Walt Whitman war das Vorbild auch noch der verblasensten Beat-Dichter: herrliche Aufzählungen beim frühen (französische Lyriker-Namen) wie beim späten Ginsberg (Namen indischer Götter), Aufzählungen bei Ted Berrigan (was ihm so im Laufe des Tages passierte), höchste Form der tautologischen Tatsachenfeststellung bei Andy Warhol, dessen neues Buch „America“ ich in meinen Händen halte. Höchste Form der Aufzählung! „Buying things in America today is just unbelievable. Let’s say you’re thirsty. Do you want Coke, Diet Coke, Tab, Caffeine-Free Coke, Caffeine-Free Diet Coke, Caffeine-Free Tab, New Improved Tab, Pepsi, Diet-Pepsi, Pepsi Light, Pepsi Free, Root Beer, Royal Crown Cola, C & C Cola, Diet Royal Crown Cola, Caffeine-Free Pepsi, Caffeine-Free Diet Pepsi, Caffeine-Free Royal Crown Cola, Like, Dr. Pepper, Sugar Free Dr. Pepper, Fresca, Mr. Pibb, Seven-Up, Diet Seven-Up, orange, grape, apple, Orelia, Perrier, Poland, ginger ale, tonic, seltzer, Yoo-Hoo or cream soda?“
Andy und Walt preisen nicht etwa die freie Auswahl in amerikanischen Shops und deren Überlegenheit über polnische Lebensmittelwarteschlangen. Sie sagen, was es gibt, was es zu sehen gibt, und nennen den richtigen Namen. Denn sie kennen viele Namen. So wie ich als kleiner Junge viele Autonamen aufzählen konnte. Und stolz darauf war. Und zu Recht.
Aber Tatsachenfeststellung ist auch dies: „John F. Kennedy was President. Elvis was the King of Rock and Roll. Elizabeth Taylor was the world’s greatest movie star.“ (Andy Warhol)
Es geht nicht darum, ob Liz Taylor vielleicht nicht wirklich die Größte war, es geht um die philosophische, erkenntnistheoretische Methode, eben um die Tatsachenfeststellung, die eine schöne, notwendige Kunst ist und ein paar Seiten weiter zu sagen erlaubt: „Bette Davis always disliked me, but she’s still the greatest actress in the world.“
Wenn Amerikaner über Gefühle, Lebenseinstellungen oder Politik sprechen, ist ihre einige Verlogenheit, ja unschuldige, weil ernsthaft zurückgebliebene Dummheit, die nur die Vase, der Kelch ist, in dem das System seine Lügen aufbewahrt, unerträglich; wenn sie aber feststellen, was ist, und nur wenige, nur die Größten bringen es zustande, ihre freie, kleine amerikanische Individualität so zurückzunehmen, daß sie zur reinen Tatsachenfeststellung in der Lage sind, dann sind sie die Größten. Howard Hawks machte Filme, die nur davon handelten, wie ein Geschehnis in das andere greift und wie das Leben, das so entsteht, funktioniert, ohne irgendeine materialistische Wahrheit zu unterschlagen und ohne jede psychologische oder dialektische Paranoia (Menschen als Summe ihrer sichtbaren Handlungen); John Ford zeigte unausgesetzt, wie die Landschaften und Männer aussehen, auf die man die Mythen projizieren muß: immer gleich, immer einfach, immer voller Freude am Einfachen; am Reiten, Retten, Durchqueren von Wüsten und am Im-richtigen-Moment-das-Richtige-tun.
Das ist das Amerika, das wir brauchen (zusammen mit dem „Bad America“, dem Katzenkummer und dem Liebesjammer), und sein größter Philosoph, Andy Warhol, hat nach den Meilensteinen der Tatsachenfeststellung „A“, „From A to B and back again“, „Popism“ und „Exposures“, in denen er alle wesentlichen Tatsachen von Leben bis Tod, von Liebe bis Sex, von Geld bis Kunst festgestellt hat, in seinem Alterswerk „America“ nun auch begonnen, soziale Probleme festzustellen. Über „homeless people“: „… the longer they’re out in the street, the crazier and dirtier they get, and the less fit for work they get, so then they really can’t get a place to live. And they get so dirty from not even having a place to take a shower that they start to smell, even if they’ve been spot-washing wherever they could. And when it gets to that point, they start kicking them out of the restrooms where they’ve been going to do that little bit of washing – say, in the good department stores. So then they start going back to the public libraries, but after a few more months they smell too bad for even the libraries (…) This is why I think that the most important thing the government should do for people with no place to live is build huge modern bathhouses where you could go and have both a shower and a washer-dryer to get you and your clothes clean at the same time.“ Oder: „This country is so rich. And I think I see more homeless people on the street every month. How can we let this keep happening?“
Wer sein ganzes Leben der Tatsachenfeststellung gewidmet hat, kommt am Ende, in dem Moment, wo er schon viel zu alt ist für all das Große, das er für sein Projekt getan hat, zu einer zarten, freundlichen, naiven Sozialkritik. Und was für Verbesserungsvorschläge! Das höre ich mir gerne an, meiner Treu! Aber man muß schon ein halbes Jahrhundert Andy Warhol gewesen sein, bevor man so etwas sagen kann, bevor man mit so einem Augenaufschlag plötzlich die „other half“ von America entdecken darf.
Gertrude Stein hat gesagt, daß die Amerikaner und die Spanier die einzigen Völker seien, die keinen Mystizismus bräuchten, um nicht an die Wirklichkeit zu glauben, sie glaubten ohnehin nicht daran, sie seien abstrakt und grausam. Selbstverständlich, das sind sie. Denn sie sind ja kein Volk, sondern eine Idee, ein Experiment, eine hemmungslos wuchernde Wirtschaftsform: abstrakter Handel von abstrakten, ausgedachten Kirchen gebenedeit. Reales Blut fließt, konkretes, reales Blut, das man nicht sieht. Keine Wirklichkeit. Aber es fließt tatsächlich. Der größte amerikanische Revolutionär ist der tautologische Tatsachenfeststeller.
Gertrude Stein ist immer wieder auf ihre berühmte Tautologie angesprochen worden, oft höhnisch und verständnislos. Zu einem studentischen Auditorium hat sie einmal gesagt, in Verteidigung der Zeile „A rose is a rose is a rose“, daß sie keinen anderen englischsprachigen Text der letzten 100 Jahre kenne, in dem eine Rose wirklich rot sei. Tatsachen der Dichtung. Gertrude Stein war in Europa.
Als der Papst unlängst in New York war, fragte man ihn, wie es ihm gefalle, und er antwortete: „Tutti Buoni.“ Andy Warhol darauf: „That’s exactly my philosophy.“
„Everything is good“ lautet seine Übersetzung. Everything ist alles, jedes Ding, alles, was der Fall ist, also die Welt, die Welt aber ist, per definitionem, das Gute, einfach weil sie positiv vorhanden ist, weil sie wirklich ist, weil sie da ist. Dies braucht Warhol nicht zu explizieren. Weil seine Aussageweise die Tautologie ist, weil wir, wenn wir ihn lesen oder hören, uns fallen lassen in die ewige, wunderbare, weltversichernde Litanei der Tautologie und der Aufzählung. Und sie ordnen sich in Täler und Gipfel, in vor- und zurückflutende Wellen, und auf dem höchsten Wellengipfel stehen Warhol und der Papst – der nicht weiß, was er sagt, der vielleicht sogar wissentlich lügt, egal – und Warhol erkennt, daß die Welt zunächst mal gut ist, weil sie da ist.
Und entwirft nebenbei ein Motto für die Zeitschrift SPEX, die bekanntlich keine Honorare zahlt: „I wish somebody great would come along in public life and make it respectable to be poor again. Because you don’t hear about ‚poor but honest‘ any more (…) It should be okay to work on things that they won’t pay you for, because that’s how inventions happen and things progress.“ Er mag die jungen, erfolgreichen Konservativen nicht mehr. Er beklagt, daß die Statistiken und Trendmeldungen eine neue konservative Jugend schon an den Schulen ausgemacht haben wollen. Und tröstet sich, daß man den Statistiken eh nicht trauen kann, denn wenn er ausgehe, seien die Jugendlichen so wild und extrem wie eh und je, und nur der Augenschein zählt: Tatsachenfeststellung.
Trotzdem bleibt noch ein Teil unserer Fragen unbeantwortet: Was soll der Amerikaner machen? Er kann sich nicht vornehmen, zum Philosophiegott zu werden, er muß seine Arbeit anderswo beginnen. Und auch, wenn es inzwischen immer mehr weiße, kleine Schlauberger mit Alkoholproblemen gibt, die etwas vom Blues und vom Katzenjammer verstehen, wie Pierce etwa, kann er sich auch nicht vornehmen, Blues-Sänger zu werden – zu beidem wird man, wenn schon nicht geboren, so doch von den drastischeren Seiten des Lebens gedrängt. Der gute, schlaue, kleine Amerikaner wird Journalist, er kämpft an der Seite der anderen großen, der geschwätzigen Tatsachenfeststeller.
Es ist möglich, bändeweise Tom Wolfe zu lesen, ohne daß seine politische Bescheuertheit auch nur einen Anflug von schlechtem Geschmack hinterläßt. Hat dagegen ein deutscher Journalist nur einen Hauch von keiner Ahnung oder falscher Weltanschauung, kommt uns schon das kalte Kotzen. Warum? Der Amerikaner verliert sich begeistert in die rauschhafte Vielfalt der Tatsachen, auch der Journalist: ein Whitmanianer. Was gibt es nicht alles zu benennen! Wie voll die Welt! Das Leben!
Knut Hamsun, vor hundert Jahren bereits alles wissend, Amerika hassend und dennoch widerstrebend Freund der im Entstehen befindlichen Trash-Kultur, sehr gegen sein patriarchalisch-norwegisches Herz, aber er hatte ja einen Verstand: „… ist die amerikanische Journalistik die eigentümlichste und stärkste Geistesäußerung im amerikanischen Volk; mit ihrer Frechheit, ihrem realistischen Ungestüm ist sie, literarisch betrachtet, zugleich die modernste.“
Und wir verdanken ihr die modernsten Schriftsteller der letzten Jahrzehnte, sei es der erwähnte Tom Wolfe, sei es Ed Sanders, Truman Capote, ja eben auch eine Julie Burchill wäre ohne die Beiseiteräumleistungen der amerikanischen Journalistenschriftsteller nicht denkbar. „In unserem Land“, zitiert Hamsun Nathaniel Hawthorne, einen Amerikaner, „gibt es keinen Schatten, keinen Frieden, keine Mysterien, keinen Idealismus, kein Altern, aber Poesie und Efeu, Mauerpflanzen und Steinrosen brauchen Ruinen, um zu gedeihen.“
Gut, dann gedeihen sie eben nicht, das ist nicht schlimm, dafür gedeiht eben „Caffeine-Free Tab Royal Crown Diet Pepsi“, was ebenso schön ist wie Efeu.
Das ist okay mit mir, wie der Amerikaner sagen würde. Was nicht okay ist, daß das reale Blut, das sie nicht sehen können, weiter fließt, daß Millionen sterben unter ihrer kindlichen Grausamkeit und daß dies, hier von Hamsun geschildert, auch heute geschildert werden könnte, durchaus auch von einem amerikanischen Journalisten, der allerdings nicht ein Gramm Schlußfolgerung abzapfen würde (könnte):
„… die amerikanischen Zeitungen fließen jeden Tag über von Berichten über die viehischen Triebe dieses freien Volkes. Die amerikanischen Verbrechen sind noch ohne formale Eleganz, die Sünde hat in diesem Land die Form brutalster Schamlosigkeit; man muß weit in der Geschichte zurückgehen, um ähnliche Beispiele zu finden; sie sind noch ohne jedes Moment von Adel und Idee. Mußte in einem solchen Land nicht ein Verbrechen wie das, dessen die Anarchisten angeklagt wurden, tosendes Aufsehen erregen! Und so geschah es auch. Jeder wohlerzogene Abc-Held rief: ‚Kreuzige!‘ Demokratische Frauenzimmer – beiderlei Geschlechts – kauften Bilder der Anarchisten und ‚henkten‘ sie in ihren Fenstern. Die Krämer annoncierten auf folgende Weise: ‚Da wir dafür sind, daß die Anarchisten gehenkt werden, haben wir eine so große Kundschaft, daß wir unseren bekannten blauen Rio für 9 Cent das Pfund verkaufen können.‘
Und nicht einer von hundert wußte, was Anarchismus war, nicht einer von tausend. Man kann sich also nicht unbedingt darauf verlassen, daß die Amerikaner das aufgeklärte Volk sind, wie wir es uns in Europa vorstellen.“
Man braucht Hamsun nur das optimistische „noch“ zu streichen, denn was er vor hundert Jahren konstatiert hatte, hatte nichts mit Jugend des Staates zu tun, mit kulturgeschichtlicher Frühe, mit Atavismus oder mit geistiger Unreife. Amerika wird nie sein Anderes, es wird nie irgendetwas Anderes als sich selbst verstehen, zeigen, darstellen können, es wird immer ausbluten, henken, ausnehmen, was fremd ist, und ihm ist alles fremd, was nicht es selbst ist. Es kennt keinen anderen Gedanken als „From Texas to the Top“ (Jerry Hall), keinen anderen als „Es ist verdammt hart, aber du kannst es schaffen“. Wer mir nicht glaubt, besorge sich die neue Nummer von „Interview“, er braucht darin gar nicht die Interviews mit Horrorfiguren wie Jerry Falwell oder der Lady, die die Schallplatten mit unzüchtigen Botschaften zensieren will – sie ist übrigens rührend –, zu lesen, es reicht, wenn er das Interview, das Harry Dean Stanton mit der Liebhaberin europäischer Literatur, Madonna, gemacht hat, beschnüffelt, und er findet alle fünfzehn Gedanken, die jeder, jeder, jeder Amerikaner hat (außer Hüsker Dü und Mayo Thompson).
Aber die Existenz dieses vortrefflichen Spiegels von Bewußtseinsinhalten, diese überaus akkurate Dokumentensammlung von Entblößungen der herrschenden Klasse ohne jeden journalistischen oder interpretatorischen Filter, die Zeitschrift „Interview“, verdanken wir keinem anderen als dem großen Feststeller amerikanischer Tatsachen, dem Bezwinger unserer dialektischen Zwangsneurosen: Andy Warhol. Hang him on my wall.
KNUT HAMSUN: Amerika, Langen Müller
JULIE BURCHILL: Love It Or Shove It – The Best Of Julie Burchill, Century Publishing
ANDY WARHOL: America, Texte und Fotos, Harper & Row
WALT WHITMAN: Grashalme, Reclam



