Der zweite Wandervogel. Die Komponistin, deren Musik niemand spielen kann, die mit einer Danksagung für den Klavierstimmer so gut auskommt, wie mit Glam-Rock-Größen. Und den Namen ihrer Band kann man nicht abkürzen: I Belong To A World That Destroys Itself.
„Bitte macht die Tür zu! Ich kann diese Musik nicht ertragen. Wer ist das überhaupt?“ – „Keith Jarret, würde ich sagen.“ – „Genau, ‚Cologne Concerto‘.“ – „Na, der hat auch so seit gut zehn Jahren nichts Gutes mehr gemacht. Früher war er mal sehr von Paul beeinflußt.“
Eröffnungssequenz einer Unterhaltung zwischen Annette Peacock, ihrer Tochter, Michael Ruff und mir. Vorher hatten wir uns schon im Vorbeigehen auf Gil Evans geeinigt (als den größten alten Mann des Jazz), den ich seit Jahrzehnten verehre, den Annette Peacock aber natürlich aus ihrer Neigbourhood kennt.
Ich starre jetzt auf ein Foto auf der Coverrückseite der Schallplatte „Ballads“ des Paul-Bley-Trios. Paul Bley ist jener Paul, der Keith Jarret beeinflußt haben soll. 1967 haben Paul Bley, Piano, Gary Peacock, Bass, und Barry Altschul, Schlagzeug, New Yorks kühlste, freie Jazzer der Epoche, eine LP aufgenommen, die ausschließlich aus komponierter, festgelegter Musik bestand. Geschrieben von einer jungen Komponistin namens Annette Peacock, einst Garys Ehefrau, dann Pauls Freundin, der vorher mit der anderen Komponistin New Yorks verheiratet war, mit Carla Bley. In beiden Fällen haben die Ex-Frauen die Nachnamen der Männer bekannter gemacht. Gary Peacock ging eines Tages in Japan verschütt. Und von Paul Bley hat man seit den Tagen der Bley-Peacock-Synthesizer-Show, Anfang der 70er, auch nichts mehr gehört.
„Ich bin eine Komponistin“, sagt Annette Peacock: „Zufällig singe ich und spiele Klavier, aber eigentlich nur, weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß andere Leute meine Musik nicht richtig spielen können.“
„Ballads“ erwarb ich um 1972 aus dem Nachlaß eines zum Albanien-Hard-Core-Maoismus konvertierten jungen E-Musikers, neben einigen exzellenten Platten von Albert Ayler und Frank Zappa. In dieser reinen, von keinem erkennbaren Temperament beeinflußten Form mußten Annettes Kompositionen für den jungen Diedrich eine Irritation ersten Grades darstellen. Der Wahnsinn eben. Der Wahnsinn der Geduld. Auch wenn das Jazzer-Feeling, der Zwang zum Swing in der Spielweise des Bley-Trios nicht zu überhören war, stehen die Peacock-Kompositionen doch wie völlig fremdartige Kristalle in der Gegend herum, ein erfrorener Blues, von dieser entsetzlich frühweisen Geduld im Fluß angehalten, die allerlangsamsten Melodien, aber keine seriellen Endlosigkeiten, sondern in ständiger Schlußakkord-Panik, die Gesänge dreier Jungfern im Feuerofen eben, die bemerkenswerteste Musik und durch keinen Code der Wildheit oder der Expressivität zu entschärfen. Nur zu naheliegend hier etwas spezifisch Weibliches zu ahnen, was ich mir aber in Anbetracht der ewigen Unverständlichkeit der enigmatischen weiblichen Seele für heute untersagen will.
Ein Stück hieß „Ending“ und dauerte 17 Minuten, und man könnte sehr grob sagen, daß es genau das 17 Minuten lang tat: aufhören, verenden. Später hat Carla Bleys zweiter Mann, Michael Mantler, versucht Beckett zu vertonen, was ihm nicht annähernd so gut gelang wie Annette Peacock, die es nie versucht hatte.
Um 1970 erschien in „Sounds“ ein Interview, das eine völlig veränderte Annette zeigt. Sie schwärmt von ihrer wunderschönen Tochter, mit der sie dann über ein Jahrzehnt unter Entbehrungen durch die Straßen ziehen sollte (die heute in ihrer Band singt und nebenbei komponiert, u. a. für – of all people – Chaz Jankel drei Titel für dessen neue LP) und spricht euphorisch von der Rückbesinnung auf die Wurzeln bei gleichzeitiger Auslotung neuer technischer Errungenschaften. In ihrer Küche in Manhattan stolpert der Interviewer über die Drähte ihres frühen unhandlichen Moog-Synthesizers, und bei Konzerten pflegte sie damals eben ohne aufzutreten. Das alles heißt natürlich nichts anderes als: Blues.
Zusammen mit Paul entsteht die Bley-Peacock-Synthesizer-Show. Auf vage erkennbarer, aber dynamisierter, bei aller Esoterik aufgeladener Blues-Basis, also um die schwarzen Tasten herum, entsteht eine Musik, die vom Sound her an manches zwischen „Bitches Brew“ und „Soft Machine 3“ erinnern mag, aber vor allem bei allen Stücken, bei denen sich Annette durchsetzt und ihren dreckig-impressionistischen Gesang zum Einsatz bringt (oder ihre Kompositionen), ungleich unbändiger, sexueller, auf anziehende Weise verwahrloster als der beste Jazz-Rock dieser Zeit, andererseits auch in schwächeren Stellen konturenloser, ideenärmer. Die Spielereien mit Stimmverfremdungen und anderen frühen Synthesizer-Errungenschaften klingen heute nicht weniger rührend und charmant als eine Vox-Orgel. Neu waren die Texte, ein Song hieß: „I Belong To A World That Destroys Itself“.
Heute nennt Annette ihre Band, bestehend aus Baß, Schlagzeug und ihrer Tochter als zweiter Sängerin, nach diesem fünfzehn Jahre alten Song: „Es ist das entscheidende politische Statement von mir. Ich habe so viele politische Texte geschrieben, aber eigentlich sagt dieser Satz alles, was zu sagen ist. Als Bandname eignet er sich so gut, weil man ihn nicht abkürzen kann.“ Nicht nur ihre Kompositionen und Texte, auch der Mensch Annette Peacock ist in zwanzig Jahren keinen Tag gealtert. Nur, daß neben ihrer resolut-ätherischen Schönheit jetzt die weich-verbindliche ihrer Tochter steht.
Der Weg weg von den reinen Kompositionen führte über immer engere Kontakte mit dem zeitgenössischen Rock. Auf den z. Z. wieder erhältlichen 70er Alben „I’m The One“ und vor allem „X-Dreams“ wird Annettes Stimme cooler und dreckiger, und sie gestattet ihren immer zahlreicheren und bekannteren Begleitmusikern immer ausgiebigere Ausflüge in deren eigener musikalischer Sprache. Zwar bleiben ihre in all den Jahren kaum veränderten Vorstellungen von Akkordwechselverzögerungen erhalten, liegt der unverwechselbare Geist ihrer Musik über dem vielstimmigen Gespiele der Sessioncracks, aber sie gibt sich verträglicher den Erscheinungen der Zeit gegenüber:
„Es waren alles Musiker, und Musiker sind eine andere Rasse“, so einerseits Annette über die Tatsache, daß sie sich mit Musikern immer besser verstanden hat als mit anderen Sterblichen. Andererseits: „Es gibt keinen guten Pianisten im Jazz, außer vielleicht Cecil Taylor. Wer sonst sollte es sein? Bill Evans ist tot. Was soll ich sagen: I’m the one.“ Nicht das letzte Mal, daß sie sich an diesem Abend über einen ihrer Songtitel erklärt. Und: „Die Pop-Musik hat absolut nichts geleistet in den letzten Jahren. Sie hat absolut keine Erneuerungen und Veränderungen geschaffen, nichts. Niemand hat das getan, außer mir. Das einzig Positive, was man über einen Pop-Komponisten sagen kann, ist, daß er sich in seinem Gebiet auskennt und eine gewisse Feinheit erreicht hat, aber nie, daß er darüber hinausgegangen ist.“ Und jemand wie John Cale (seine Versuche mit E-Musik, klassischen Arrangement-Methoden etc.)? „Das Beste, was er gemacht hat, war ‚Heartbreak Hotel‘.“
Womit wir bei dem einzigen Pop-Star wären, den Annette Peacock verehrt, Elvis Presley, dessen Songs sie immer wieder gecovert hat. An diesem Abend trug sie einen Gürtel, dessen Schnalle die Buchstaben E-L-V-I-S bilden.
1979 erscheint bei Aura, wo schon „X-Dreams“, Platten von Nico und Alex Chilton erschienen, ihr letztes Album auf einem fremden Label, „The Perfect Release“. Darauf das fast eine Seite umfassende „Survival“, ein Endlos-Rap über ihre Lieblingsthemen: Politik als persönliche Angelegenheit, persönliche als politische Angelegenheiten und das Überleben der Menschheit, fast tonlos gesprochen zu einem entspannten Jazz-Rock-Gedaddel, das über eine Viertelstunde den Akkord nicht wechselt: „Meine Musik ist sehr einfach.“ Auf dieser Platte duldet sie oder zwingt sich zur Zusammenarbeit mit den bislang gesichtslosesten Musikern ihrer Karriere. Waren früher Helden wie Mick Ronson und Chris Spedding, königliche Geschmacklosigkeiten wie Bill Bruford unter ihren Unterstützern, hat man hier den Eindruck eines geistesabwesenden Jazz-Rock-Kabaretts, das nur dazu dient, die soziopolitischen Romanzen, nun nicht mehr angedreckt, sondern wieder ätherisch gesprochen, nur noch völlig spacey und weise und weit weg wirken zu lassen, die Jazz-Grundierung.
In den 80ern hat sie plötzlich eine eigene Plattenfirma, „ironic records“, und bringt zunächst Platten heraus, die große Bögen schlagen, konzentriert fast zwei Jahrzehnte Annette Peacock Kompositionen, in Ausgewählte-Werke-Ausgaben zusammenfassend. „Sky Skating“ enthält Kompositionen von 72 bis 78, neu und ganz allein eingespielt, einen Credit gibt es lediglich für den Klavierstimmer. Der reinen Form (die kreisenden, angehaltenen, hingehaltenen Melodien auf Flügel und Synthesizer, der abwechselnd gesprochene oder virtuos, aber unaufdringlich durch die Oktaven gleitende Gesang) entspricht eine Textauswahl vom Grundsätzlichsten: die Unmöglichkeit der Nähe („So Close Is Still Too Far“), die Dialektik zwischen ihrer Neigung zu ätherischen Träumen und den objektiven Erkenntnissen eines materialistischen Bewußtseins. Die Mischung, die ihre Quasi-Rock-Platten der 70er anrührten, mal kratzbürstig, mal gelegenheitsphilosophisch, ist der totalen Rein- und Klarheit gewichen, wunderschön und, obwohl sie jetzt schon lange in England lebt, wieder amerikanischer und eigentlich näher an dem Blues einer intellektuellen Avantgarde-Komponistin, als es der Fast-Glam-Rock ihrer RCA Aura-Periode war.
Aber sie ist ja eine Komponistin, und sie rennt nicht wie ein offenes Messer durch die Gegend, an dem man sich schneidet. Sie hat all dies in den 70ern geschrieben. Je mehr man sich mit ihr beschäftigt, desto näher kommt man diesem Kern, daß das Genre Karrierenbeschreibung, das für Lebenschroniken von auf das äußere Auf und Ab fixierten, reagierend sich entwickelnden Pop-Personen entwickelt wurde, bei ihr nicht greift, höchstens für die Begleitumstände ihrer Musik. Als Komponistin war sie immer die gleiche, und ihre Arbeit in den 80ern war es, dies klarzustellen.
Auf „Been In The Streets Too Long“ vereinigt sie unveröffentlichte Einspielungen aus allen Epochen bis 83. Zwei Versionen zum Beispiel von „So Hard It Hurts“, das auch schon das Paul-Bley-Trio spielte und das sie 1967 geschrieben hatte; einmal als langen Instrumental-Rock-Titel mt Bruford, Spedding und Co und einmal dezent und vocal mit einen Text, den es auch schon 67 gab, erschienen ist die LP 1983.
„Erst seit ‚ironic records‘ kann ich von meinen Platten leben. Sie (zeigt auf die Tochter) kann auch ein Lied davon singen: Wir waren buchstäblich zehn Jahre lang auf der Straße. Sind untergekrochen, wo wir gerade konnten, und das war nicht schön. Erst jetzt können wir einigermaßen leben.“
Daß die Plattenfirma „ironic“ heißen mußte, finde ich etwas unglücklich. Annette Peacock ist eben nicht Carla Bley, die ihr Publikum in letzter Zeit nur noch mit gut gemachten musikhistorischen Verweisen und Witzen beglückt, eine Virtuosin des Distanzierten. Neulich las ich in einer Stadtzeitschrift eine Hymne auf Annettes Ironie und daß Frauen sonst nie zur Ironie fähig sind. Ich sage: Lobet die Frauen! Was ist Ironie anderes als Feigheit, als ein Sich-Abfinden mit der Hofnarr-Rolle? Augenzwinkernd! Ekelhaft!
„Als die damals ‚So Hard It Hurts‘ aufgenommen haben, war ich nicht zufrieden. Es war nicht hart genug, tat nicht genügend weh.“ Das ist keine Ironie. Das ist bitterer Ernst. Und was ist das? „My heart is breaking / My body is aching / To be with you again / Don’t you know I’m leaving / And my soul is grieving / To loose my only friend“ („A Song To Separate“). Bitterster Ernst. Sein Name sei Blues. Der Titel ihrer neuesten LP sei Ironie: „I Have No Feelings“. Dazu Annette Peacock: „Eigentlich wollte ich sagen: keine Emotionen. Ich habe keine Emotionen, weil Emotionen so etwas Grobes sind, worüber man, je älter man wird, sich hinwegentwickelt. Aber der Satz ‚I Have No Emotions‘ hätte nicht gut geklungen.“
Emotionen sind die Grundlage von Rock-Musik, Staatswesen, Faschismus und Jugendlichkeit. Alles, was ich heute nachmittag einmal ablehnen will. Kunst ist das Gegenteil. Sie muß immer so tun, als wäre sie nicht von dieser Welt, dann die Welt erkennen, sich von ihr stören lassen, diese Störung verarbeiten, um dann zu sich zurückzufinden, alles enthaltend. Das ist es, wo Annette Peacock heute angekommen zu sein scheint. Denn wenn man sie fragt, wo, in welchem gesellschaftlichen oder kulturellen Terrain sie eigentlich glaubt zu arbeiten, dann ist sie ehrlich genug, am Ende, nach längerer Überlegung, doch zu sagen: „Am äußeren Rand der Pop-Musik.“
Und das ist richtig, denn obwohl sie das in der Pop-Musik seltene Phänomen einer Komponistin darstellt, bei der die gesetzten Töne für das Werk zentraler sind als Arrangement, Text, Präsentation, und obwohl der Grad an Sophistication, den sie und ihre Tochter menschlich wie künstlerisch erreicht haben, im Pop seinesgleichen sucht, ist ihr Idiom der Blues und nicht die europäische E-Musik, ist sie Amerikanerin.
An diesem Abend in der Fabrik arbeitet sich die kleine Besetzung wieder durch Material aus zwanzigjähriger Komponistentätigkeit. Es gibt kein Altern beim Blues. Es gibt nur Durchhalten und Überstehen. Und das klingt dann für manche Ohren ironisch und esoterisch und ätherisch, aber es ist nur der Mensch. Der Mensch als Frau.



