Asger Jorn

Die Rezeption des Malers Asger Jorn folgt in aller Welt, aber auch in Deutschland einer Reihe von mythologischen, idealistischen, fälschenden und/oder entmündigenden Logiken. Das hat zum einen mit den Mythen um die Gruppe COBRA zu tun, über die (bzw. über die Leistungen der schlechten anderen Künstler, die an ihr beteiligt waren) Jorn noch heute oft definiert wird. Zum anderen mit all den fetischistischen Ideen von Unmittelbarkeit, Authentizität, Überwindung der Sprache etc., die ein bürgerliches Publikum immer auf die Kunst, besonders gerne aber auf die Malerei, ganz besonders gerne und immer wieder auf sogenannte wilde solche, projiziert. Dazu kommen Lehrerträume von Comics im Unterricht, Kinderzeichnungen als Kunst, sowie Jorn angehängte romantische Ideen von Volkskunst, die seine in Wahrheit amüsant-genauen Vorstellungen von skandinavischer Volkskunst („Wir Skandinavier sind von den unzivilisierbaren Völkern das Kultivierteste.“ Wie wahr: je näher man den Enden der Welt kommt, in desto verschiedenere Richtungen zeigen der Kultur- und der Zivilisationsvektor, vgl. Neuseeland, Spanien, L.A.) verhöhnen. Wie bedrückend vollständig sich diese Vorstellungen im Vokabular der Kritik halten, konnte jetzt die Rezeption der großen Jorn-Ausstellung, Anfang ’87 im Münchener Lenbachhaus, vorführen. Da wurde wieder der Visionär, der Getriebene und natürlich die Gruppe COBRA bemüht (der Jorn gerade drei Jahre angehörte und deren unterschiedliches Niveau ein vor kurzem in Flash Art veröffentlichtes, nur knapp über der Schwachsinngrenze angesiedeltes Interview mit Karel Appel einmal mehr belegte), der übliche Unsinnsreigen, voller denkfeindlicher psychologischer Entmündigungen und Pessimismen, die um so absurder wirken, wenn man durch die Ausstellung geht und als erstes daran erinnert wird, daß Jorn in erster Linie Humor hatte, zugunsten von einem guten Witz gerne auf eine Feinheit verzichtete. Und gewiß nie einen Dämonen persönlich kennengelernt hat. Der seinen, wie man so sagt, dichtesten und kompliziertesten Bildern durchweg die klarsten und kräftigsten – nie poetisch-verschleiernden, noch stumpfsinnig-erklärenden – Titel gab und schon zu Lebzeiten auch mit diesem Mittel versuchte, dem Kitsch der COBRA-Mythologie entgegenzuwirken. Wenn er zum Beispiel einen Kobold „Echter Kobold“ nennt. Wenn er eine kartoffelfarbene Kartoffel mit zwei schwarzen Punkten, die man ebensogut als Nasenlöcher wie als Schnurrbart interpretieren kann, „Guillaume Apollinaire“ nennt (der junge Apollinaire war für den jungen Jorn sehr wichtig). Oder ein anderes „Herr Wiesenpräsident von Edelstoff“ (wozu man wissen muß …). Die Intelligenz eines Künstlers läßt sich ja immer schnell und zuverlässig an seinen Bildtiteln ablesen, auch wenn die Bewertung des Werkes viel länger dauern sollte.

An dieser Stelle will ich versuchen, einige Elemente von Jorns Denken und Kunst herauszustellen und mit der Forderung nach möglichst breiter Zugänglichkeit seiner Texte verbinden (während ich das schreibe, erhört mich der ansonsten sehr verdienstvolle Nautilus-Verlag mit einer Anthologie von Jorn-Texten, die ich noch nicht einsehen und überprüfen kann, die im Verlagsprospekt aber neben Kurt Schwitters gestellt wird, einen Mann, der für die Verschrecktheit und Introvertiertheit seiner Arbeiten bekannt ist, was nicht nur allgemein abzulehnende Eigenschaften sind, sondern insbesondere das Gegenteil der Qualitäten von Asger Jorn).

Asger Jorn ist Vorbild, weil er sich grundsätzlich in Situationen manövrierte, die ihm in gleicher Weise versprachen, widerlegt wie bestätigt zu werden. Dies erklärt, warum sich alle seine Aktivitäten grundsätzlich um Gruppen, Parteien, Organisationen und andere Vorwände und Vorarbeiten für soziale Situationen ansiedeln lassen. Kaum ein Foto, das ihn nicht auf irgendwelchen Gründungsversammlungen, in Kneipen oder bei Parties, von Zirkeln oder Scheininstitutionen zeigt. Auf meiner Lieblingsaufnahme steht er mit einem Stoffpanther um den Hals, Gitarre spielend neben dem Situationisten Pinot Gallizio. In den Protokollen der Situationistischen Internationale lesen wir dazu: „Mit Ansprachen von Pinot Gallizio, Jorn, Constant und Oudejans werden die Arbeiten der Konferenz beendet. Gleich danach wird ein für diese Gelegenheit von Pinot Gallizio hergestellter ‚Experimental-Alkohol‘ gereicht, auf den die klassischen Getränke bis tief in die Nacht hinein folgen.“

Die relative Kurzlebigkeit der Jornschen Gruppen bzw. die Kürze seiner Zugehörigkeit, das zeitweilige Mitarbeiten und Mitfinanzieren verschiedener, teilweise konkurrierender Bewegungen erklärt sich daraus, daß nach berechenbar kurzer Zeit jeder Gruppenzusammenschluß zu einer Stütz- und Bestätigungsorganisation degeneriert, und die Funktion als Widerlegungsinstitution unweigerlich an die gemeinsam genossenen Freuden des Experimentalalkohol verliert. Hier nimmt die Freundschaft mit Guy Debord, der mit seinen vielfältigen Versuchen, Kunst zu widerlegen, Jorn am weitsten entgegenkam, eine Sonderstellung ein. Jorn gehörte nacheinander den Gruppen Høst, COBRA, Bewegung für ein imaginistisches Bauhaus und der Situationistischen Internationalen an. Er gründete unter anderem „Ein Institut für vergleichenden Vandalismus“, richtete eine „Situationistische Bibliothek“ ein (indem er kurzerhand seine eigene dazu erklärte) etc.

Ein Irrtum zu glauben, die Ziele COBRAs, wie sie heute kolportiert werden („Einheit von Tat und Traum“, Dotremont), hätten irgendetwas mit denen Jorns zu tun. Wenn man berücksichtigt, daß Jorn im zweiten Weltkrieg zum kommunistischen Widerstand in Dänemark gehörte, bei Leger, einem der immer noch wenigen und ausgesprochen frühen Künstler, der sich um eine anti-individualistische und anti-kapitalistische Ästhetik kümmerte, daß er Mitglied der Vorläufer-Gruppe „Høst“ war und schon damals viel schrieb, weiterhin berücksichtigt, daß Kindergekritzel als strategisches Mittel in der Blütezeit COBRAs eine andere Einschätzung verdiente als heute, und vor allem bei denjenigen die über Jahrzehnte an ihr als ästhetischem Mittel festhielten, wenn man schließlich nicht vergißt, was COBRA hieß, nämlich die Anfangsbuchstaben der Städte Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam und somit den nicht integrierten Rand der europäischen Großnationalkulturen meinte, und weiß daß Jorn ein umfangreiches Werk zur Sonderstellung der nordischen Kultur veröffentlicht hat (im Laufe der Jahre) und sowieso extrem kulturgeographisch dachte … dann kann man seine Rolle auch in dieser Vereinigung würdigen. Alles andere führt in die Irre.

Malerisch erweist sich die COBRA-Phase bei Jorn als Verzögerung. Wie so oft in seiner Biographie, läßt sich auch hier beobachten, daß die sozialen Aktivitäten ihr erwünschtes Ergebnis hervorbringen und die gefährliche Vervollkommnung und Vervollständigung eines bild-künstlerischen Stils unterbrechen, unterwandern, zerlegen und auf verschiedene Paralleluniversen verteilen. So entstehen z. B. unmittelbar nach 1951, dem Zusammenbruch der Gruppe COBRA also, die Bilder, die ich seine „Drogenbilder“ nenne, und die von der Unsicherheit, die die vielfältigen Widersprüche der Gruppe auslösten, profitieren. (Man kann davon ausgehen, daß die beabsichtigten Konflikte und Verunsicherungen durch die Gruppe COBRA in der allgemeinen Verwirrtheit und auch Unfähigkeit der übrigen Mitglieder ihre Ursache haben, während sie bei der Situationistischen Internationale eher in der Jugend und Schnelligkeit der übrigen Mitglieder und in der Ebenbürtigkeit Guy Debords zu suchen sind. Denn so soll es sein: Am Anfang erhebt man sich und wächst aus einem Kreis von Gleichgesinnten heraus, ist man dann wer, hat man sich den permanenten Verunsicherungen durch die Besten der Nachwachsenen auszusetzen.) Die Gruppe COBRA hatte Jorn darüberhinaus in jedem Sinne krank gemacht, er mußte ins Sanatorium. Den einfachen Verformungen seiner Drogenbilder, die sich von allen Kubismen und Legerismen nachdrücklich freigemacht haben, haftet denn auch etwas von freimütig eingestandener Schwäche und charmanter Hinfälligkeit an. Das „Wheel of Life“ etwa, das wie ein impressionistischer Blake aussieht. Viele freundliche Männchen, Tiere, Zwerge – eine bekiffte Welt, die aber bereits erkennen ließ, daß es in Jorns Malerei immer darum ging, etwas nicht zu machen (und dennoch etwas zu machen). Daß also die Negativität als Radikalitätsdispositiv, wie wir sie bei Guy Debord sehen und schätzen, bei Jorn im sinnvoll begrenzten Mikrokosmos der Malerei mit seinen Chancen der exemplarischen Entscheidungsfindung bereits vorformuliert war (und bis zu seinem Tod erhalten blieb).

Sehr gute Bilder kommen ab 1955: „Brief an meinen Sohn“, „Fest der Fische“, „Das Porträt Balzacs“ sind Marksteine dessen, was Jorn wollte, keinen Tachismus, keine Romantik (wozu er z. B. Wols rechnete, den er zwar schätzte, aber immer wieder rücksichtsvoll und freundlich auseinandernahm), kein Abstract Expressionism, kein Informel. Und er konnte, wenn er wollte, all diesen Kunstrichtungen ihre Fehler nachweisen. Es fällt allerdings auf, daß er in seinen Schriften zu einzelnen Künstlern sich vorwiegend auf die Würdigung von Freunden oder vergessenen großen Skandinaviern beschränkte, seine Polemik dagegen für Philosophen, Politiker und Naturwissenschaftler aufsparte.

1953 schrieb er seinen berühmten Brief an Max Bill, der ein neues Bauhaus gegründet hatte, und schlug ihm Zusammenarbeit vor, was Bill mit dem Hinweis ablehnte, das neue Bauhaus könne keine Bildkünstler gebrauchen, da es sich von jedem Subjektivismus losgesagt hätte. Im Gegenzug schrieb Jorn „Pour la forme“ (wird Ende des Jahres wahrscheinlich von Van De Loo erstmals in deutscher Sprache vollständig vorgelegt), das unter anderem eine Funktionalismus-Kritik enthält, nach der sich die vielen, traurigen neuen Designer-Künstler noch immer die Finger lecken müßten. Er gründete seine Bewegung für ein imaginistisches Bauhaus, traf Guy Debord, wurde gesund und gründete mit ihm, dem Maler Pinot Gallizio, dem alten COBRA-Kollegen Constant und anderen aus dem Kreis der Pariser Lettristen die Situationistische Internationale.

Ein Aspekt des Situationismus ist sicher, daß er von heute aus gesehen wie die logische Fortsetzung durch Widerspruch von Bauhaus aussieht, als das Bauhaus der Straße und der Situationen. Für Jorn eine ideale Situation: Der Situationismus verhält sich zu den Demonstrationen und Aktionen der späten 60er wie das Bauhaus zur allgemeinen Nachkriegsarchitektur. Er überschritt den eindimensionalen Anti-Subjektivismus des Bauhaus, das aus reaktionären Gründen keinen Platz für die Malerei hatte, um auf einmal aus progressiven Gründen die Abschaffung/Überschreitung der Malerei zu fordern. Das Beste, was einem Maler passieren konnte (vor allem einem, der Gründe hatte, einer bleiben zu wollen).

Es wird oft gesagt, ein Satz sei heute noch so aktuell (oder wieder so aktuell) wie schon einmal. Das ist immer stinkender Unsinn. Denn an Sätzen, die sich überhaupt, aus welchen Gründen auch immer, dem Kriterium aktuell/unaktuell aussetzen, interessiert immer nur ihre spezifische Anwendung und die damit verbundene Absicht oder Beweisführung, nie eine absichtslos oder posthum entstandene Aktualität (Jorn: „Mich interessiert nicht, was Goethe an sich, sondern was er mir aus meiner Perspektive sagt.“). Anläßlich der Lektüre der gesammelten Ausgaben der Situationistischen Internationalen ist diese Formulierung (oder eine ähnliche) erlaubt: Da der Situationismus in erster Linie eine Methode ist, das Neue zu erkennen und zu erkunden, und zwar im Dienste der Revolution und erst in zweiter Linie der Kunst, nahm sie der Kunst alle Schutzräume, die ihr damals auch die fortschrittlichsten (und kritischen) Theorien noch garantierten. So bekämpfte der Situationismus auch eine Ignoranz der besseren Kreise, die als Mode schmähen, was aus den nicht zivilisierbaren Bereichen die Kultur attackieren könnte und nahm damit viel von dem vorweg, was in anglo-amerikanischer Pop-Theorie der späten 70er laut wurde. Er bekämpft die Kunst, insbesondere ihre damals noch relativ unangetastet dominierenden traditionellen Gattungen, auch wegen und durch ihre Langsamkeit. Wenn man ihn auf Huizinga („Homo Ludens“), Marx, Lefebvre zurückführt, hat man vielleicht gerade mal den Zugang zu seinem Vokabular geschaffen. Seine Faszination und Gültigkeit als Modell verdankt sich seiner Dialektik aus doktrinärer Strenge, Verdikten, Ausschließungen und zügellosen Experimenten mit Wissenschaft, Aktionen, Provokationen, Behauptungen. Die Freiheiten, die sich der Situationismus erlaubte bzw. erkämpfte, vertrat er nach außen, gegenüber der pluralistischen Kultur, die ihn umgab mit logischerweise stalinistischen Dogmatismen. Fast alle seine Anhänger waren Künstler, aber sie erkannten bald, daß das gesellschaftspolitische Projekt des Situationismus die Kunst, wie man sie kennt (kannte) nicht brauchen konnte. Am allerschlimmsten galt ihnen der Mißbrauch des Begriffs „situationistisch“ (ein Substantiv „Situationismus“ konnte es im strengen Sinne der Definition nicht geben) für karrieristische Interessen. So wurden unter anderem der deutsche Maler und heute noch aktive Kunstkritiker Platschek, später die Mitglieder der Gruppe „Spur“, darunter der spätere SDS-Aktivist und noch spätere Berliner Senatsabgeordnete Kunzelmann, auch Jorns Bruder, der Dichter Jorgen Nash, der später eine Abspaltung gründen sollte, und viele andere aus der Bewegung ausgeschlossen. Von den 70 Personen, die zwischen 1958 und 1970 Mitglieder waren, sind im Laufe der Zeit 45 ausgeschlossen worden, 19 sind ausgetreten und 2 begründeten Abspaltungen. Man sah schließlich ein, daß Künstler, die situationistisch denken, ihre eigene Kunst, da es sich ja um Kunst handelte, nur als anti-situationistisch begreifen könnten, und so einigte man sich, daß ein Situationist, der als Künstler arbeitet, nicht etwa seinen Beruf aufgäbe, sondern fürderhin seine Kunst als „anti-situationistisch“ zu bezeichnen hätte. Was einem nicht-situationistischen Künstler nicht gestattet war und überdies all die entlarvte, die sich den Titel „situationistisch“ anbiedernd und dem Zugriff pluralistisch-kultureller Entwertungsstrategien ausliefernd, zugelegt hatten.

Jorn hatte die Herausforderung, die er brauchte. Ein Malverbot lag in der Luft. Constant hatte sich ganz der Architektur zugewandt. Im Juni 1960 trat er aus, weil er die Maßnahme des Ausschlusses von Pinot Gallizio („wegen des Umgangs mit unannehmbaren Kreisen“) nicht weitgehend genug fand. Ihm paßte auch ein anderes in seinem Charme typisches SI-Dogma nicht, demzufolge jeder Architekt, der am Bau von Kirchen mitwirke, unverzüglich ausgeschlossen werden müßte. Bald drauf malte er wieder. Aus der Administration und Exekutive hielt sich Jorn weitgehend heraus. Er verhinderte nicht (oder wirkte sogar daran mit), daß in den vielen kleinen „Situationistischen Nachrichten“ auch mit seiner Vergangenheit und seinen alten COBRA-Freunden abgerechnet wurde („Dotremont weiß, wie sehr wir ihn verachten“) und bereitete sein 66 vollendetes Universalwerk über Physik, Farbenlehre, Perspektive, Wahrnehmung, Politik, Ökonomie – eben alles – in Einzelbeiträgen für die SI vor. Eine Rettung der Malerei durch Überführung auf ein neues Niveau, Integration in ein ausladendes, privatphilosophisches System, das auf lange Sicht für die Malerei leisten kann, was Beuys für die Skulptur getan hat.

Jorn verhindert nicht den Ausschluß der von ihm geförderten Gruppe „Spur“, wohnt sogar der Ausschließungszeremonie bei (unschwer vorzustellen, daß Debord die besseren Argumente hatte und einen guten Griff getan hat, als er kurzerhand Uwe Lausen zum deutschen Vertreter erklärte), und fördert die Gruppe weiter. Er unterstützt die SI finanziell großzügig, aber ebenso die Abspaltung seines Bruders. Er tritt 1962 offiziell aus der SI aus, bleibt aber weiter unter einem Pseudonym Mitglied. Und er blieb wohl der Einzige, dessen Austritt mit persönlichen Gründen erklärt wurde und dem bei seinem Austritt die völlige Übereinstimmung mit den Zielen der SI bestätigt wird.

Jorn schränkt seine sozialen Aktivitäten in seinen letzten Lebensjahren ein, sowohl das Politische wie das Künstlerische werden zugunsten der philosophischen Arbeit zurückgestellt (zumindest was die Ergebnisse betrifft). Er fährt nach Kuba, ohne die pathetischen Hoffnungen der Enzensberger und Sartres und kommt ohne deren pathetische Enttäuschungen zurück. Er malt ein paar Banken und Schulen aus und trifft sich mit seinem Freund Wifredo Lam (das ist der, den George Condo vor circa zwei Jahren kopierte). 68 ist er in Paris und begnügt sich damit, den jungen Leuten ein paar milde Slogans mit auf den Weg zu geben, ein Gebiet, in dem er ebenfalls ähnlich gut war wie Beuys. Dann gönnt er sich die letzten Lebensjahre für ein total großartiges, mildes Alterswerk, das sich dieser Gattung durchaus bewußt zu sein scheint. Seine zweite Phase stilistischer Expansion. Die beiden letzten Bilder in der Münchener Ausstellung heißen „Between Us“ (1972) und „Hors d’age“ (Alterslos, ein Witz auch über L’age d’or, und ein Vermächtnis eines Künstlers, der Gute Laune zu verbreiten wußte) und dürfen unter den besonderen Bedingungen der hier inszenierten Gattung „Alterswerk“ als „Meisterwerke“ (unter den ebenfalls besonderen Bedingungen dieser Gattung) angesehen werden. Auf diesen Bildern leistet sich der Jorn-Stil, der immer in dem Verdacht eines beliebigen Vitalismus geraten war, die Großzügigkeit des Stillstands als angehaltene Bewegung (und nur so ist der Stillstand erlaubt).

Hardcore-Jornianer wie Hardcore-Beuysianer geben zu, daß die beiden miteinander vergleichbar sind (Ich füge hinzu: die vier entscheidenden und exemplarischen Fälle gelungener Radikalität nach dem zweiten Weltkrieg sind: Beuys, Warhol, Straub/Huillet und Jorn/Debord): Beide stehen für den Typus des Künstlers, der alles will, dem Kunst nicht genügt, womit er den von ihm vorgefundenen Formen der Kunst ja auch den Totenschein ausstellt und Kraft seines Berufs sich verpflichtet, eine neue und bessere Kunst gegen die vorgefundene zu erarbeiten. Beide erklären mit der gleichen Logik den Künstler für alles zuständig, wie sie alle für die Kunst zuständig machen. Die dazugehörigen Slogans sind bekannt. Es gibt nur einen entscheidenden Unterschied. Beuys stand im Düsseldorfer Telefonbuch immer als „Bildhauer“. Das war immer klar. Bei Jorn steht aber „Maler“, im gleichen Sinne dennoch wie bei Beuys. Denn auch Jorn konnte und mußte die Überwindung der Malerei denken, um bei ihr zu bleiben. Das ist schon aus moralischen Gründen klar. Man muß sich nur klar machen, daß in den Kreisen um Debord schon das gewußt wurde, was eine Kunstszene, die heute an den Lippen des Debord-Epigonen Baudrillard hängt (gegen den man gar nicht soviel haben muß, der nicht so blöd ist wie seine Anhänger), zu wissen glaubt.

Nur wurde das nicht so defätistisch-mutlos behandelt, sondern offensiv, in dem Sinne der sehr richtigen Feststellung Debords, daß nichts so lächerlich sei wie Leute, die unter den heutigen Verhältnissen von der Revolution reden, alles andere aber noch lächerlicher.

Die Malerei hätte also eigentlich fallen müssen bzw. wurde von Jorn bewußt ins Fadenkreuz aller berechtigten zeitgenössischen Kritiken gestellt. Daß er dennoch an ihr festhielt, hatte verschiedene z. T. gute Gründe. Zum einen ist es eine Erfahrungstatsache, daß die totale Umwälzung bzw. das Zuendedenken eines radikalen Gedanken nicht möglich ist, wenn man nicht gleichzeitig an einem Tätigkeitsfeld festhält, das in dem von Institutionen und Konventionen vermessenen Gebiet liegt. Eine Radikalität, die diese Dialektik ignoriert, verläuft im Sande, der Innen, Zen, Indien oder Japan heißt. Man darf Solipsismus dazu sagen.

Zum anderen ist der Schritt von der Skulptur zur sozialen Skulptur nur scheinbar naheliegend, stringent und widerspruchsfrei – der Verdienst des Genies, ihn so erscheinen zu lassen – und eine Analogie in der Malerei finden zu wollen, einer der falschesten Gedanken und also gar nicht anders denkbar als in für Vertiefungen jeder Art so untauglichen Beispielen wie den Kinderaktionen des charmanten Yves Klein (ein Pop-Situationist, mit allen Vereinfachungen, Verkitschungen und liebenswerten, ja lehrreichen Nebeneffekten, die dieser Begriff ahnen läßt). Stattdessen ist die Malerei, die auf ihre klassischen Parameter nicht verzichten will, ein zuverlässiger, weil Überprüfbarkeiten einschließender Ort des Experiments. Dies ein Gedanke, den Jorn immer wieder aufgreift und zu beweisen sucht, wofür ihm keine wissenschaftliche oder pseudowissenschaftliche Anstrengung zuviel ist.

Revisionistischer als einige Hardcore-Situationisten dachte er über die Malerei nicht nur grundsätzlich und grundsätzlich politisch nach, sondern auch über ihre realistischen Chancen in vergleichbaren, konkurrierenden oder überwundenen Bewegungen zur Verbesserung der Welt durch Kunst (Bauhaus, COBRA, Surrealismus etc.), und kam zu dem Befund zurück, daß in seiner Epoche besonders die Reaktionäre wie das zweite Bauhaus die Malerei bekämpften (und natürlich hatte seine Radikalität denselben bürgerlichen Fehler, den auch Beuys hatte und der immerzu „dritte Wege“ suchen will). Vor allem aber hat die Malerei ihm seinen ebenfalls erweiterten Kunstbegriff erst denkbar gemacht, der sich zusammenfassen läßt als die realistisch-vernünftige Lösung eines gegebenen Problems, unter völliger Mißachtung der dieses Problem durchziehenden symbolischen Ordnung. Und dies ist mit den Mitteln der nüchternen Überlegung solange nicht möglich, wie die Nüchternheit einer falschen Vernunft folgt, die aber die Malerei angeblich überwinden könne. Deswegen sein Beispiel: Ein betrunkener skandinavischer Seemann steht vor der ewigen Flamme unter dem Denkmal des unbekannten Soldaten in Paris. Wie kann ich diese Flamme auf einmal löschen, fragt er sich in seinem besoffenen Kopf, und er pinkelt sie aus. Am nächsten Tag wird ihn der kleine Skandal, den er verursacht haben wird, schmerzen, aber er hat gehandelt, wie Jorn sich den Künstler wünscht. Denn „Kunst ist das, was wir nicht können. Wenn wir es können würden, wäre es keine Kunst.“ Diese Idee von Kunst hat aber tatsächlich einen geeigneten Ort in der Malerei. Jede die traditionellen Gattungen verlassende Kunst trägt zunächst mal den Einfall, die Idee vor sich her. Wie die Skulptur setzt sie in die Welt, statt ein bereits Gesetztes zu untersuchen. Dies führt im besten Falle zu Beuys, im ungünstigsten zur neuen Documenta und anderen Abenteuer-Spielplätzen mit neuen Abenteuer-Skulpturen aus Düssendorf und Abenteuer-Video-Installationen. Das pluralistische Paradies der Unverbindlichkeit. Die Malerei führt im besten Fall zu Jorn, Immendorff etc., man kennt ja meine Vorlieben …, im schlimmsten Fall zu den Mythen vom Ursprünglichen (Disler u. ä.), die man eben von der Idee des „experimentellen Malens“ (Jorn) genau trennen muß. Ersteres ist Psychologie, das Spiel mit der reaktionären Idee der Tiefe, letzteres im besten Fall ein Teilgebiet der Mathematik. Daher ist heute eben die entscheidende Forderung an den Künstler, keinen Scheiß zu machen und dennoch etwas zu machen. Das ist heute sein unmögliches Problem, das, was man eigentlich nicht kann, aber unter Umständen, wenn man ein Künstler ist, der das Nichtkönnen können muß, wie Jorn sagt, eben doch. Und am überprüfbarsten in der Malerei. Dem Ort der utopischen Nichtscheiße.

1966 erscheint Jorns Werk Die Ordnung der Natur – de divisione naturae. Ausgehend von einer eigenwilligen Revision von Niels Bohrs berühmter „Kopenhagener Interpretation“, die er die „Silkeborger Interpretation“ nennt, fordert Jorn eine Neuordnung des theoretischen Denkens. An die Stelle der Dialektik, in dem bis dahin auch für Jorn weitgehend verbindlichen dialektischen Materialismus, tritt die Triolektik, die verkürzt gesagt, das, was in der herkömmlichen Auffassung von Dialektik die Synthese darstellt, als quasi drittes Glied ins dialektische Denken einführen will. Er erklärt die Triolektik am Beispiel eines Fußballspiels mit drei Mannschaften auf drei Tore: es kann dann nicht mehr die Zahl der geschossenen Tore für eine Mannschaft gezählt werden, sondern die durchgelassenen gegen eine Mannschaft. Der Blick richtet sich auf die Defensive. Davon ausgehend löst Jorn alle Probleme durch dreigliedrige Schemata. Dabei entsteht eine neue Farbtheorie, eine neue Grammatik, die sich auf die, in bekannten Theorien der Bedeutung ebenfalls ungebräuchlichen Begriffe Symbol / Symptom / Signal stützt. Dies wieder erklärt das triolektische Verhältnis der drei grundsätzlichen Kunstauffassungen (Jorn nennt sie Expressionismus, Symbolismus und Formalismus, wobei der Expressionismus, der „nur durch eine triolektische Analyse … bestimmt werden kann“, die höchste Stufe darstellt), daraus folgt wiederum, in dem Kapitel „Die Lüge, ein Elementarfaktor im menschlichen Geistesleben“, eine dreigliedrige Theorie der Wahrheit und eine – innerhalb dieses immer schönen und manchmal irrsinnigen und sich selten der Gefahr der Überprüfbarkeit aussetzenden Systems von Behauptungen – plötzlich sensationell einleuchtende Definition von Zukunft: „Die Zukunft ist unwahrscheinlich“.

Dieses äußerst vielgestalte, keine Frage auslassenden Erweiterungsdelirium mündet schließlich in ein Systematisierungsdelirium, das das Unmögliche zu schaffen versucht, nämlich das Abweichende, Anormale, das Jorn jeder Schöpfung per definitionem zuschreibt, das Unsystematisierbare mithin, zu systematisieren. Etwas, das ebenso unmöglich ist, wie das Können des Nichtkönnen, das er für die bildkünstlerische Praxis fordert:

„Sie wollen eine antisystematische Auseinandersetzung auf systematische Weise“, fragt Gerburg Treusch-Dieter Jorn in ihrem fiktiven Interview und läßt ihn antworten: „Ich will ein begriffsloses Denken mit Begriffen. Ein Denken ohne Werkzeug, das dennoch eingreift. Das Fragen stellt, die nicht zu beantworten sind, außer um den Preis, daß die Torheit mit in die Weisheit eingeht. Denn wenn Fragen Unwissenheit heißt, dann kann die Wissenschaft sie weder stellen, noch beantworten.“

Ein typischer Jorn, auch wenn er vielleicht nicht wörtlich von ihm stammt. Immer gern bereit, ein logisches Dilemma zu konstruieren, auch auf Kosten genauer Begriffsuntersuchungen (Fragen heißt nicht unbedingt Unwissenheit), um Freiheiten für neue Systematiken zu finden. Die Triolektik und ihre politisch-wissenschaftlichen Konsequenzen – darunter ein oft betonter berechtigt-paranoider Staatsbegriff – erinnern in vielem wieder an das Denken von Joseph Beuys. Auch bei ihm finden wir immer wieder die Suche nach dritten Wegen, hier in ihrem positiven Sinn, Applikationen von Systemen auf fremde Bereiche, ständige Berufung auf im konventionellen Sinne „inkompetente“ Zeugen, die man aus ihren Spezialgebieten herausnimmt und für andere einsetzt: Physik erklärt Ästhetik. Mathematik erklärt Ökonomie erklärt Philosophie. Botanik erklärt Politik. Aber das alles ergibt keine reaktionären Ganzheitlichkeiten, sondern treibt die unterschiedenen, spezialisierten Denkmodelle nur in einen immer stärker zu beschleunigenden Austausch.

Beuys’ Denken ist oft belächelt worden, gerade seine anthroposophischen Wurzeln. Aber wie verpflichtet sich Beuys auch immer Steiner empfunden haben mag, man darf nicht vergessen, daß er ihn in erster Linie benutzt hat, um an völlig anderen Orten und unter anderen strategischen Absichten aufgestellte Behauptungen zu sichern. Die Formulierung „auf systematische Weise antisystematisch“ trifft hier zu.

Umgekehrt hätte Jorn wohl als erster Beuys’ Satz zugestimmt, man sollte sich weniger mit Duchamp und mehr mit Leuten wie Schiller und Nietzsche beschäftigen. Jorn bezog in verblüffend ähnlicher Weise wie der von ihm geschätzte Pound das Material für seine Behauptungen grundsätzlich lieber aus etablierten alten oder aus obskuren Quellen, denn aus den gängigen Äußerungen der Moderne. Und wie Pound liebte er das Zitat, beließ er ein Wissen stets in seiner originalen Gestalt (Originalsprache, Form). Er ist deswegen öfters als Eklektiker, „diebische Elster“ etc. beschimpft worden, ein so dermaßen unsinniger Einwand, daß wir ihn nicht näher erörtern wollen. Nur soviel: Daß die Überlegenheit des vielen Materials über das wenige, das ein Künstler gesichert als sein eigenes bezeichnen kann, wohl außer Frage steht, wie es auch dem, der sich zurecht für alle und alles zuständig hält, ein Gebot sein muß, alle für sich zuständig zu halten.

Am Ende seines Buches schreibt Jorn:

Ich habe ein neues Symbolsystem aufgestellt. Stimmt es mit der wissenschaftlichen Wahrheit überein, so wird es eine uninteressante Selbstverständlichkeit werden, wie Max Weber sagt. Stimmt es nicht mit der wissenschaftlichen Wahrheit überein, wird es als eine wahrscheinliche Unwahrheit hingestellt werden. Auf jeden Fall kann ich es jetzt vergessen und zu meiner Malerei zurückkehren. Oder ist das auch ein Irrtum?

Mehr oder weniger machte er es so (von seinem zweibändigen, wunderschönen Werk über die Darstellung der Dietrich-von-Bern-Sage in der mittelalterlichen dänischen Volkskunst einmal abgesehen). Dabei hat Jorn seine Malerei und seine Schriften immer auseinandergehalten. Sie galten ihm beide als Teile seiner Produktion, von der er für Theorie wie Kunst „Nutzlosigkeit“, keine unmittelbare Anwendbarkeit forderte, denn der Ort der Nutzlosigkeit, des Luxus, war für ihn der Ort, wo erst seine „radikale experimentelle Ästhetik“ beginnen konnte. Kierkegaard wie Sartres Kritik am „Erfinden und Akzeptieren nutzloser Verhaltensweisen“ (= Luxus) nannte er die Philosophie „eines Künstlers, der versagt hat.“

Aber über diese gemeinsame Voraussetzung hinaus legte er großen Wert darauf, daß sich Kunst und Theorie nicht miteinander verzahnen, nicht zur Rechtfertigung des einen durch das andere herangezogen würden, sondern als zwei distinkte Betätigungsfelder eines sich nicht beschränkenden Künstlers, der glaubte, daß Bild und Wort eben gerade nicht konvertibel seien, begriffen würden.

Mit dieser Auffassung war Jorn nicht in der Lage, in der die amerikanische Kunst seiner Zeit war, die philosophische, politische und andere Absichten direkt als Elemente ihrer Kunst ansehen mußte (oder diese Möglichkeit so fanatisch ausschließt wie Ad Reinhardt, was auf dasselbe hinausläuft). Jorn mußte nicht das Tafelbild verlassen, weil es zu eng, zu zweidimensional, zu beschränkend auf bestimmte Materialen wurde, da er alles, was das Tafelbild nicht zu sagen vermochte, in Aufsätzen, Büchern, politischen Aktionen, Filmen, Kompositionen, Gründungen von Museen (in Silkeborg) und eine Fülle anderer Interventionen sagen konnte. Die Malerei bekam so in seinem Werk einen grundsätzlich anderen Status. Einerseits den eines illustrativen Beweismittels, als das er Zeichnungen, Holzschnitte und Bilder in seinen selbstlayouteten Schriften gelegentlich benutzt (und zwar nicht als Beweismittel für seine Thesen, sondern als Beweismittel für deren Nicht-Zusammenhang), auf der anderen Seite sind sie Zeugen des Experimentalismus im Kleinen. Sie bilden eine Kette, häufig unterbrochen von von außen eingeführten systematisch unternommenen Störungen, einer Malerei, die ständig im Kleinen verformt, aber sich im Großen dem System des Tafelbilds unterwirft. Das eben auch Unsystematisierbares systematisiert. Eine Linie läßt sich im Jahrhundertzusammenhang beschreiben: Leger, der das Tafelbild für demokratische Massenszenen, in einem naiven Volksfront-Sinne freimachte, Jorn, der ebenfalls selten Einzelne, aber verformte, betrunkene Massen auffuhr, bis hin zu Penck, der ihnen Schilder in die Hand drückte. Seitenlinie: Immendorff.

Jorn selber widmete sich in seinen relativ wenigen veröffentlichten Schriften über andere Künstler entweder denen, die er persönlich kannte, und an deren Werk er persönlich stark Anteil nahm, oder skandinavischen Künstlern, denn eines seiner Hauptanliegen war der Versuch, auf eine große skandinavische Kulturlinie im europäischen Zusammenhang aufmerksam zu machen. Die in der skandinavischen Kunst vorhandene Vorstellung von Licht, die Gotik, der sich von Swedenborg bis in die Moderne fortpflanzende „mystische Anarchismus“, „Jackson Pollocks bewußt gotische Bilder“, der in Dänemark geborene Impressionist Pissaro, der Zusammenhang zwischen Relativitätstheorie und den Vorstellungen Swedenborgs, die Tatsache, daß Niels Bohr Däne war, des Dänen Anton Melbyes Einfluß auf Corot und Courbet, der in Kopenhagen ausgebildete Deutsche und Erfinder der Farbkugel Philipp Otto Runge – das alles verdichtete er zu einem Zusammenhang, der seine politisch-künstlerischen Befreiungsvorstellungen an einen genius loci des Nordens knüpft. Nicht nur, daß die Behauptungen für sich in ihrer Fülle von aufeinander bezogenen, an sich fernliegenden Gedanken und Geschehnissen interessant sind; diese Theorie ist typisch für Jorns Vorgehensweise und den Kern seiner Arbeit. Und für etwas derart Vages, schwer zu Fassendes wie eine Kontinuität des Austausches zwischen politischem Anarchismus und religiösem Anarchismus (= Mystik) bei bestimmten Künstlern des Nordens, für etwas, dessen Wesen und Ziel die Sprengung von Begriffen und Begrifflichkeit ist, findet Jorn eine Fülle von theoretisch-begrifflichen Argumenten und historisch-überprüfbaren Fakten, die er in gerechtfertigter Willkür in ein System zwängt, immer ein großartiges, überwältigendes System, um das Nichtsystematische zu systematisieren. Triolektisch: dem dialektischen System das Unsystematische als Drittes gegenüberstellen.

Seine falschen Fans ziehen es vor, eine vermeintlich anti-begriffliche, pro-mystische Aussage aus seinen Schriften als Generallinie herauszudestillieren (wie Beuys entschlüpfte auch Jorn gelegentlich die Bemerkung: „Ich bin ein Schamane“). Wahr ist aber, daß am Ende immer ein System bleibt, eine Objektivierungsmaßnahme, die als das Vorbildliche an Jorns Arbeit stehen bleibt: Künstler sollen sich nicht so benehmen als hätten sie etwas empfunden oder gefunden, sondern als würden sie etwas wissen. Mit letzter Sicherheit.

Ein anderer Künstler, der ähnlich vorgegangen ist, und den Jorn in seinen Schriften wie auch kurz in seinen Bildern zitiert, ist William Blake, dessen Beziehung zu William Goodwin Jorn unter anderem Beleg für die Kontinuität des „mystischen Anarchismus“ ist. Wie Blake seine politischen Thesen als Spektakel mit Dämonen aufführte und seine Dämonologien als politische Karikaturen, hat Jorn immer im großen Stil gegengesteuert gegen alle institionellen Entmündigungsversuche des Künstlers als den, der am freiesten, privilegiert behaupten darf. In dieser Hinsicht muß weitergearbeitet werden, auch wenn man sich in Zukunft nicht mehr auf Schamanen beziehen wird können (dürfen). Jorn war kein Vernunftkritiker, wie einige neue Freunde glauben machen wollen, er wollte die Vernunft bis an ihre Grenzen belasten, um die Kunst freizuhalten: (u. a.) für gute Witze.

Bücher:

1) Asger Jorn in Silkeborg, Bern 1981.

(Schriften zu Kunst/Ästhetik und zu einzelnen Künstlern, mit einem Text von Troels Andersen zu Jorns Rolle als Kurator seines Museums in Silkeborg)

2) Asger Jorn: Gedanken eines Künstlers, München 1966

(Noch erhältliche Zusammenfassung der beiden Bücher Heil und Zufall, 1953 und Die Ordnung der Natur, 1961-66. Vor allem der erste Teil ist von Jorn bemerkenswert gestaltet, mit einer Vielzahl von Motti, Zwischenüberschriften, Zitaten und Zeichnungen versehen. Im Verlag der Galerie Van De Loo.)

3) Asger Jorn: Plädoyer Für die Form; sowie

4) Gerburg Treusch-Dieter: Ich suche nicht, ich erfinde! Der Ausschnitt des ursprünglich französisch geschriebenen Textes Jorns und das fiktive Interview mit Jorn, in: H.M. Bachmayer, Otto Van De Loo, Florian Rötzer (Hrsg.): Bildwelten, Denkbilder – Texte zur Kunst 2, München, 1986

5) Armin Zweite (Hrsg.): Asger Jorn 1914–1973, Katalog, München 1987

6) Situationistische Internationale – Gesammelte Ausgaben des Organs der SI 1958–69, Band I, Hamburg 1976 (wichtigstes Buch, nicht nur wegen Jorn)

7) Roberto Ohrt: „Die Spur von der Kunst zur Situationistischen Internationale“ in Gruppe Spur-Katalog, Regensburg, 1986