Zur deutschen Veröffentlichung von Mille Plateaux von Gilles Deleuze und Félix Guattari
Die amerikanische Sängerin Patti Smith singt das Evangelium des amerikanischen Zahnarztes: sucht keine Wurzeln, folgt dem Kanal …
Deleuze/Guattari
Ende der Siebziger riefen Gilles Deleuze und Félix Guattari die Jugend der Welt auf: „Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! (…) Macht Karten, keine Fotos oder Zeichnungen! Seid der rosarote Panther! Und mögen eure Lieben sein wie die Wespe und die Orchidee, wie die Katze und der Pavian!“1 Damit trafen sie die Stimmung in den Metropolen auf den Punkt. Pavian und Katze waren schon dabei, sich zu paaren, Karten waren im Begriff, an die Stelle von Masterplänen zu treten, und rosarote Panther standen in den Kneipen und rieben ihre „Konsistenzflächen“ aneinander (wie die Erdschichten in dem Mille Plateaux-Kapitel zur „Geologie der Moral“, das die Frage stellt: „Für was hält sich die Erde?“ Damals wollten wir von allem möglichen wissen – Steine, Ideen, Robert Mitchums Gesicht: „Wie fühlt sich das von innen an?“2 Das war fast dasselbe; denn wie sich etwas von innen anfühlt oder für was sich etwas hält, ist eng verwandt und das Gesicht Robert Mitchums eher ein Fall für die Geologie als für die Anthropologie).
Von den Subkulturen (seitdem im Plural, bis dahin im Singular) griff der Impuls auf den Mainstream über. Nicht nur Jugendliche und neue städtische Stämme träumten von den postapokalyptischen Nomaden aus Mad Max 3. Und Tina Turners Hymne zum Film, „We Don’t Need Another Hero“ (= General), schaffte in kürzester Zeit den Weg von der Nomadologie über ein Barbara-Kruger-Poster zum Dancefloor-Smash auf dem Ball der einsamen Herzen (Damenwahl).
Um 1990 kann man die Nomadologie- und Tribalismus-Dekade fast schon wieder Revue passieren lassen. Der „Steirische Herbst“ untertitelt sein Periodikum „eine Nomadologie der Neunziger“, und der amerikanische Verlag „Semiotext(e)/Autonomedia“, Zentralorgan der amerikanischen Deleuze/Guattari-Rezeption, bietet eine Reihe von Anthologien an, für die er mit beeindruckenden Vielheiten wirbt: „Studies of lost American history and the cultures of disappearance, including ‚tri-racial isolate‘ communities, the buccaneers, ‚white indians‘, black Islamic movements, the Maroons of the Great Dismal Swamp, scandalous eugenics theories, rural ‚hippie‘ communes, and many other aspects of …“ oder „the turbulent mosaic of artists, ethnics, poets, junkies, barflies, radicals, mystics, street people, con men, flower children, losers, screwballs and professional eccentrics“ oder ganz besonders „anarchists, unidentified flying leftists, neo-pagans, secessionists, the lunatic fringe of survivalism, cults, foreign agents, mad bombers, ban-the-bombers, nudists, monarchists, children’s liberationists, zero-workers, tax resisters, mimeo poets, vampires, xerox pirates, pataphysicians, witches, unrepentant faggots, hardcore youths, poetic terrorists …“3 und was der selbstverliehenen dissidenten Ehrentitel mehr sind, mit denen sich die Leute schmückten, die man in den achtziger Jahren in der Kneipe traf. Was Deleuze/Guattari via Anti-Ödipus und diverse kleine Schriften und fleißiges Interviewsgeben verbreiteten, entsprach der Zeitgeist-Idee einer fraktal zerfransten Subkultur, einem „Patchwork der Minderheiten“, das nichts und niemanden ausschließen wollte und durfte, solange er/sie/es nur irgend etwas vorweisen oder erfinden konnte, das ihn/sie/es als „minoritär“ qualifizierte.
Während der ganzen Zeit hat es das „Hauptwerk“ von Deleuze/Guattari, Mille Plateaux, in deutscher Übersetzung nicht gegeben. Man könnte es sich also einfach machen und die Oberflächlichkeit der Kongruenz von ein paar Begriffen bei D/G mit den Modeströmungen der Achtziger bemängeln und als Indiz dafür nehmen, daß D/G eigentlich in Deutschland nicht wirklich rezipiert, nicht wirklich verstanden worden seien.
Zum einen stimmt das auch. Die Universitäten haben sich mit „den Franzosen“ schwer getan, die dafür zuständigen Spezialisten sind zwar alle einigermaßen prominent geworden, aber an einer Hand abzuzählen. Und unter den Franzosen gelten D/G bzw. der „Anti-Ödipus“, als besonders dunkel, besonders wild, verwirrend und unverständlich. So konnte dann auch Manfred Frank bei Erscheinen von Mille Plateaux in der Zeit, wie es in den Bürgerblättern so üblich ist, mit etwas abrechnen, etwas zu Ende bringen, was dort zu seinen angeblichen Lebzeiten nie stattgefunden hat. (Nach dem selben Muster begrub man dann ja auch eine Jugendkultur, die zu Lebzeiten dort nie stattgefunden hat.)
Zum anderen sind aber D/G auch ohne Hauptwerk sehr intensiv rezipiert worden, nicht im Zentrum des akademischen Diskurses, sondern an seinem Rand – also so wie sie sich das auch gewünscht haben: von rosaroten Panthern. Allein die Liste der Verlage, die in Deutschland, damals noch BRD, D/G gedruckt haben, liest sich wie ein Führer durch die deutsche Alternativverlagsszene vor allem der späten Siebziger: Das Wunderhorn Freiburg, edition subversion, impuls verlag und natürlich und vor allem: Merve-Verlag.
In einem Reader von 1981, Rudolf Heinz/Georg Christoph Tholen, Schizo-Schleichwege – Beiträge zum Anti-Ödipus4, wird der „seine Leser spaltende Skandal“ Anti-Ödipus in einer sich durch fast alle Texte ziehenden Semantik des Tabubruchs und der Revolte als Ende von und/oder radikaler Neubeginn inszeniert. Seine Autoren, die vor allem gegen das akademische Establishment opponieren (das damals durchaus auch links sein konnte), gefallen sich in der Rolle der neuen Generation, die alle Gewißheiten der letzten zertrümmert. Und recht häufig wird auch darauf hingewiesen, daß nur die Subkulturen noch verstehen dürften, um was es jetzt geht. Heute haben nicht nur die meisten Autoren eine Professur oder einen Job beim Fernsehen, ihre Revolte hat keineswegs, wie sie und auch ich damals dachten, eine „Pop-Philosophie“ (Norbert Bolz) hervorgebracht, sondern eine neue akademische Richtung, etabliert wie alle vorangegangenen, die die revolutionären und später versandeten Projekte der vorhergehenden keineswegs weitergetrieben hat, sondern sich sehr viel schneller in einem Verzicht auf Radikalität und Eingriff eingerichtet hat. Geblieben ist die Radikalität als Geste: Kaum ein Text erscheint seitdem, der nicht vom Ende von irgend etwas handelt oder den Beginn radikal neuer Verhältnisse verkündet, worunter besonders die Medienwissenschaft leidet. Hier ist das Tendenzdenken besonders absurd geworden, das auch mir so vertraut ist, jede gesellschaftliche, intellektuelle oder technologische Novität läutet immer gleich neue Erdzeitalter ein, während der Rest der Welt, Menschen, Verhältnisse viel zu langsam, aber nicht weniger unaufhaltsam zugrunde verelendet. Das kommt davon, wenn man zu einer Zeit Revolten anzettelt, wo die großen politischen Balancen gerade in die falsche Richtung kippen (muß ich da auch selbstkritisch resümieren), eine andere Anwendung des Anti-Ödipus gibt es bei den Revolutionären Zellen, wie dem Nichteingeweihten erst heute zugänglich wird. Lustiger Zufall, daß deren gesammelte Werke fast zum selben Zeitpunkt erscheinen wie Mille Plateaux – die beiden abwesenden Zentraltexte der Epoche.5
D/G haben sich einmal gewünscht, daß man ihre Bücher lese, wie man eine Schallplatte hört.6 Auch dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Es hat sich in den achtziger Jahren an diesen besagten Rändern des intellektuellen Feldes ein anderes Lesen entwickelt. Das „Lesen“ von „Theorie“ ist an die Stelle von Literatur getreten (und nicht mit dem „Studium“ von „Philosophie“ zu verwechseln). Doch wurde diese Theorie nicht, wie es sich für Theorie gehört, „durchgearbeitet“, sondern osmotisch aufgenommen. In einer Mischung aus eiligem Abgleichen mit der eigenen Praxis, mit Stimmungen und deren Widerhall in der Pop- und Underground-Musik, in der Mischung aus warenfetischistisch und existentiell, die so typisch ist für den Umgang mit Pop-Musik. Das neue Merve-Bändchen war für eine gewisse Zeit für gewisse Kreise so etwas wie die neue Indie-Platte (Merve war und ist da sowas wie ein Major-Indie, das Rough Trade unter den Theorie-Verlagen).
Die so entstandene und heute in diversen Zines wie Heaven Sent, Fake, Symptome etc. gepflegte „illegitime“ (wie Bourdieu sagen würde) Theorie-Kultur begründet die Nachfrage, die heute nach halbakademischen Symposien, Debatten etc. in der intellektuellen Jugend- bis Enddreißiger-Kultur besteht, und sie muß sich mittlerweile ob ihrer Ungenauigkeit, Flüchtigkeit etc. auch Angriffe aus ihrem Inneren gefallen lassen, wie etwa den von Mark Terkessidis in Texte zur Kunst, Nummer 5.7 So wie sich Rock-Musik und Underground-Musik von ihren älter und gebildeter werdenden Fans auch immer wieder zyklisch Angriffe aus der Position des zum Jazz oder zur E-Musik Konvertierten gefallen lassen muß. Ja, auch Texte zur Kunst (TzK) ist ein Organ dieser Kultur und könnte sich ohne die Theorie-Begeisterung des „Underground“ kaum so vieler Leser erfreuen. Das Spezifikum von TzK aber, anders als die ersten Zeichen von Theorie-Begeisterung in den frühen Achtzigern, auch bei der legitimen Kultur anzuklopfen, beschreibt den Weg, den die rosaroten Panther während der Achtziger eingeschlagen haben und der allen Vertretern illegitimer Kunst ähnelt: Sie warten darauf, daß sich ihr Einsatz im Feld der legitimen Kultur verzinst.
Jedes Texte zur Kunst hat ein offizielles Thema: Entweder steht es auf der Titelseite, oder man erinnert sich durch die Ankündigung auf der Rückseite des letzten daran, oder das Editorial informiert. In letzter Zeit fällt mir immer noch ein zweites Thema auf, das geheime Thema: eine durch keinerlei Verabredungen erklärbare Häufung von bestimmten Fragestellungen und Problemen in einem Heft. Auch äußere Anlässe scheiden meistens aus. Vor zwei Heften fragten sich an verschiedenen Stellen verschiedene Autoren, ob und wie man Theorie „importieren“ dürfe, solle, könne: entweder importieren von einer bestimmten Praxis und an die andere ausliefern oder einfach über kulturgeographische Zwischenräume hinweg. Im letzten Heft8 stand mehr oder weniger ausgesprochen an verschiedenen Stellen die Frage nach der Demokratisierbarkeit der Kunst (I. Graw über Nauman, T. Holert über Bloom, D. Richter über Kippenberger/Büttner/Oehlen) im Raum. Auch hier blieb offen, wo sie stattfinden soll: Kunst-immanent, innerhalb des sozialen Systems Kunstwelt, in wie auch immer zu beschreibenden Autor-Rezipient-Verhältnissen? In meiner Rede auf der Kasseler TzK-Konferenz9 gab ich zu bedenken, daß diejenige Empfindung, die mir „Import“ meldet und sich dann über Import wundert, Gedanken macht oder nur Import konstatiert, möglicherweise nichts anderes sei, als eine theoretische Hilflosigkeit über eine bei mir wahrgenommene ästhetische Faszination, der man zwar als letztes den Namen ästhetisch geben würde: Aber was sonst liegt denn vor beim Vollzug des Imports, also bei der Transplantation oder Transformation von einem Datum aus einem System in ein anderes, bei dem sein „ursprünglicher Kontext“ nicht mitgedacht werden kann, als eben ästhetische Faszination. Ästhetische Faszination sei Kommunikation über einen Kanal, der sich weder von Vernunft, Moral, Politik, noch von Bildung, Aufklärung, Wahrheit ganz kontrollieren lasse (verstopfen lasse), andererseits ständig von diesen Vorstellungen gestört, durchquert und schließlich auch mit hervorgebracht wird.
Denke man dagegen Import nur als eine Ausbeutungs- oder Entwendungsbeziehung, müsse es ja einen ausgebeuteten Originalzusammenhang geben (oder den ausbeutenden Original-Drahtzieher). Aber auch die angeblich Importierten, so ließe sich zeigen, sagte ich damals, seien auch immer schon Importeure. Und die Wahrnehmung „anders“ ist nichts anderes als die Rationalisierung des Eindrucks „schön“ unter Global-Village-Bedingungen. Daher meinten auch immer alle deutschen Rezipienten französischer Theorie während der achtziger Jahre, eigentlich sei sie eher Literatur oder Theoriefiktion, unbewußt ihren durch Kontextlosigkeit (um nicht zu sagen Ahnungslosigkeit) hervorgerufenen ästhetischen Impuls zu einer nationalkulturellen Eigenschaft französischer Philosophie erklärend. (Diese Ahnungslosigkeit, die Voraussetzung ist für die ästhetische Freude am Resultat, ist nicht gut oder schlecht, sondern von Fall zu Fall angebracht oder unangebracht. Das reicht von nicht identisch zu sein mit dem Künstler bis zu Differenz-Rassismus und rassistischem Multikulturalismus. Differenz kann immer nur in Momenten, Impulsen [zum Beispiel in jedem Sinne antiintegrationistischen] nützlich sein, helfen, die jeweils benötigten, richtigen Kriegsmaschinen zu bauen. Wer sich in der Differenz einrichtet, wer wie die Fehlfarben singen, „fremde Sprachen im eigenen Land spricht“ oder wie Deleuze es als Gemeinsamkeit von Kafka und Pop definiert, und nicht sich auf eine ihrer Seiten schlägt, kann daraus was machen. Aber das Terrain ist unübersichtlich und das Gelände glitschig. Bei dieser Frage gilt es für die Kritik solcher Praktiken, in Rahmen zu denken, die einerseits stabil bezüglich des [durchaus zufälligen] Gegenstandes und unendlich flexibel beim Zulassen von Umgebungen sind. Weltweit verbreitete Kulturprodukte nivellieren Unterschiede, verschärfen sie aber auch. Michael Jackson bedeutet nicht überall das gleiche. Das gilt noch viel mehr bei den zugespitzteren Semantiken von politisch codierten Kulturprodukten“.)10
Heute würde ich dem hinzufügen, daß sich in der Figur des Imports der Zusammenfall von Ästhetik und Politik im gutem wie im schlechten Sinne auf den zeitgenössischen Punkt gebracht findet. Einerseits beruht der Import auf der resultativen Verengung eines sozialen Prozesses, der schon immer dessen ästhetische Spur war, also Kunst (in ihrer kollektiven Epoche); andererseits ist die Differenz zwischen zwei verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Entwicklungsgesetzen Voraussetzung für Import: wer dann importiert, will etwas überspringen oder zurückspringen, er versucht, sich einen Zeitvorteil zu verschaffen, indem er auf Ergebnisse von Entwicklungen zurückgreift, die in seinem Kontext noch bevorstehen, in dem anderen Kontext aber schon gelaufen sind (oder er will durch den Rückgriff auf [vermeintlich] frühere Entwicklungsstufen spätere Fehlentwicklungen seines Kontextes korrigieren). Dieses Handeln ist ein Handeln unter der primär politischen Bedingung: Zeitdruck. Diese politische Bedingung ist andererseits die einer Realpolitik, die – um mit Deleuze/Guattari zu sprechen – ganz und gar molar gedacht ist und nicht molekular. Sie tritt mehr und mehr als die einzige, aber deswegen nicht minder falsche Version auf. Die ihr zugesellte Ästhetik als Import ist eine, die unter Konkurrenzbedingungen zustande kommt und auch nur diese Bedingungen reproduziert: Daher stellt sie das Resultative, mithin tendenziell Warenförmige, aus dem Kontext gerissene Datum in den Mittelpunkt ihrer Praxis.
Helmut Draxler wies mich noch auf demselben Kongreß darauf hin, daß ich das Problem des Imports unzulässig vereinfacht hätte; seine politische Dimension, die interessierte Verfälschung, die Funktion für die hiesige Diskussion. Eine Nummer später schreibt er11, während er die Import-Leistungen und Chancen von TzK diskutiert, der Merve-Verlag – dessen Frankreich-Import ich in Beziehung zu dem Amerika-Import von TzK gesetzt hatte – hätte eklatante Fehlleistungen vollbracht, die u. a. eben auch genau die Auseinandersetzung, die der Import befördern sollte, verhindern halfen. Tatsächlich läßt sich in der Praxis des Merve-Verlags eine Linie feststellen, keine sogenannten großen Werke zu übersetzen und nur selten komplette Bücher, sondern Interview-Bände, Vorlesungs-Transkripte, einzelne Kapitel, gekürzte Bücher zu veröffentlichen, also im Grunde genommen eher Materialien-Bände zu sog. eigentlichen Werken und Hauptwerken, die oft in Deutschland nie existierten.
Dazu läßt sich nun erstens anmerken, daß der Merve-Verlag den Verteidigern einer „kleinen Literatur“ (wie Deleuze und Guattari) möglicherweise besser entsprochen hat als deren eigene französische Publikationspolitik, zweitens daß diese Veröffentlichungspolitik den einmaligen Effekt hatte, daß Theorie in den Achtzigern gekauft wurde wie Schallplatten (zu ähnlichen Preisen und von denselben Leuten).„Theorie“, im Gegensatz zu „Philosophie“, erhielt in den Achtzigern – wie gesagt – den Status jener „illegitimen Kulturen“, von denen Bourdieu spricht, auf die sich im akademischen Leben erfolglose, ausgestoßene oder ausgestiegene Intellektuelle stürzen und deren Legitimisierung sie betreiben, um über diesen Umweg den Quer-Einstieg in die akademische Karriere zu erreichen (die Vorgänger der „Theorie“ in dieser Rolle waren in der Reihenfolge ihres Auftretens in der Nachkriegskultur: Jazz, Kino, Rock-Musik, Comics). Nun ist aber bemerkenswert, daß Draxler seine Kritik an Merve just in dem Moment vorbringt, wo Merve angefangen hat, „Hauptwerke“ herauszubringen, die anderswo verhindert werden (die großen Verhinderer sitzen nämlich immer noch vor allem in Frankfurt, wo unzählige Manuskripte und ganze Werke angekauft und nicht weiterverarbeitet wurden und blockiert sind): Mille Plateaux, um das es hier gehen soll, und die Hermes-Reihe von Michel Serres.
Auf der anderen Seite hat die Mervesche Veröffentlichungspolitik auch wirklich nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß das poststrukturalistische Denken in Deutschland als ein vages (eben allenfalls ein schönes, nicht ein richtiges) rezipiert wurde. „Die Franzosen“ wurden zum Gerücht. Und dieser Aggregatzustand war so flüchtig, daß er nicht nur allerhand kreativ-beliebigen Mißverständnissen Material und Energie lieferte, die in diversen subkulturellen Zusammenhängen ihre Berechtigung hatten (und als Karrierestrategie „Legitimieren einer illegitimen Kunst“ ebenso versagten wie bei der Rock-Musik: Die ahnungslosen und ablehnenden Texte sowohl zu Rock-Musik wie Poststrukturalismus der Establishment-Medien sprachen da gerade in jüngster Zeit eine deutliche Sprache), sondern auch zu diversen Gesten einer unerbetenen Hilfestellung durch deutschen Klartext verführte: sei es nun die altlinke Enttarnungs-Geste, daß der Poststrukturalismus auch nur mit Wasser und darüber hinaus mit geschichts- und subjektfeindlich vergiftetem koche, sei es die neo-konservative, wie sie (Merve-Autor) Walter Seitter einnimmt, wenn er einen „rechten Gebrauch der Franzosen“ vorschlägt.12
Merve handelte sicher in Übereinstimmung mit der eigenen Einschätzung der Texte als „nomadisch“, „minoritär“ etc. und erblickte darin eine Legitimierung für das fragmenthafte Publizieren und Übersetzen. Damit wurde aber auch einem doppelten Druck – idealisierend – nachgegeben: der Weigerung des deutschen Kultur-Mainstreams, sich mit „schwierigen“ Texten zu befassen, und der Bereitschaft von Gegen- und Jugendkulturen, eben dies zu tun, solange sie nicht in der akademischen Form des Hauptwerks daherkommen, sondern in der fragmentarischen Gestalt (illegitimer Kultur). Dies entspricht Jugend- und Gegenkultur nicht nur deswegen so, weil die jungen Leute vor dem Fernseher verlernt haben, sich zu konzentrieren, sondern weil die Nachkriegsgenerationen in der BRD ihre Kultur auf den verstümmelt und verfremdet empfangenen Signalen „anderer“ Kulturen aufgebaut haben. Den Klang des Englischen imitieren bereits dreijährige Popmusikhörer, bevor sie sich dessen Bedeutung als erste Fremdsprache erschließen. Diesem entsprach (und entspricht) die Merve-Reihe von den Inhalten bis zur Gestaltung und Preisgestaltung. Dennoch gelang es dem Magnetismus des Mainstreams, der Akademie und des Suhrkamp-Verlages auf der einen Seite, den neo-konservativen Sekten um Matthes & Seitz andererseits nach und nach, Autoren wie Baudrillard, Derrida, Foucault und ihre Vorläufer von Bataille bis Lacan in den Kanon der Hauptwerke zu stellen. Peter Bürger13, einer der sensibleren unter den deutschen Franzosen-Lesern, baut dann auf diesen auch sein „Denken des Herrn“ auf, seinen posthegelianischen Versöhnungsvorschlag, daß weder der Diskurs des Herrn (Frankreich) noch der des Knechtes (Deutschland, Sozialismus) es auf die Dauer bringe. Deleuze/Guattari waren nach einem Jahrzehnt die einzigen, in deren Werk das deutsche magnetische Feld kein Metall fand. Dies legt den Schluß nahe, es bei ihnen mit den wahren Autoren der Merve-Epoche zu tun zu haben. In dem Sinne, daß nur da, wo der Import nicht zu einer abschließenden Kanonisierung führen konnte, Import im oben beschriebenen Sinne vorgelegen haben kann: Theorie statt Philosophie, essentielle Fragmenthaftigkeit, sich selbst unklare ästhetische Faszination, die sich nicht rationalisieren läßt.
Deleuze als „richtiger“ Philosoph kann dabei als Einzelautor noch auf eine Fülle von Übersetzungen bei verschiedenen Verlagen zurückblicken. Erst vor kurzem brachte Fink sein 68er „Hauptwerk“ Wiederholung und Differenz auf den Markt, ohne dessen Lektüre nicht nur weite Teile des Anti-Ödipus, sondern auch der Mille Plateaux unverständlich bleiben und das auf der anderen Seite die wertvollsten Beiträge zu der so überaus fruchtlosen Debatte „Differenzkultur“ / „Kulturrelativismus“ / „Partikularismus“ versus „Humanismus“ etc. anzubieten hat.14 Guattari hingegen ist nur als Fragmentautor übersetzt worden, mal von Kleinverlagen, mal von der edition suhrkamp (dem institutionalisierten Kleinverlag, der sich auch nicht scheut, alte, von Merve aus größeren Werken herausgebrochene und ’81 veröffentlichte Paul-Veyne-Texte ohne Angabe von Gründen noch mal neu und mit anderen Titeln zu veröffentlichen): Communists Like Us, Molecular Revolution und andere Texte konnte man noch auf englisch lesen, Chaosmose nicht einmal auf englisch. Es blieben Sachen wie die im kleinen Heidelberger Wunderhorn-Verlag 1978 erschienene Diskussion mit italienischen Autonomen, Wunsch und Revolution.15 Auch in Frankreich war Guattari kein anerkannter „Philosoph“ wie Deleuze, eher kannte man ihn als Aktivisten in allen möglichen halboffiziellen Feldern; von der Anti-Psychiatrie bis zu Beiträgen für Flash Art. In einem Interview im Jahre 1972 spricht er bereits von vier Orten (der „Links-Opposition“, der Psychotherapie in der Clinique de la Borde, der Lacan-Prägung und von der „Verliebtheit“ in Schizos – es sind noch einige andere Orte hinzugekommen, in den folgenden zwanzig Jahren). Selbst nach seinem Tode fand es sein Vorgesetzter in der Clinique de la Borde, der Nestor der französischen Anti-Psychiatrie, Jean Oury, noch angebracht, die Herausgeberin von Texte zur Kunst16, die dort nach Fotos nachfragte, mehrfach, nachdrücklich und ungefragt darauf hinzuweisen, daß Monsieur Guattari zwar ein sehr kultivierter und gebildeter Mann, aber keineswegs ein ausgebildeter Psychoanalytiker und Psychiater gewesen sei. Es gibt also Hinweise, daß die Beziehung zwischen dem legitimen Philosophen Deleuze und dem illegitimen Theoretiker Guattari auch intern Import-Charakter gehabt haben mag. Es ist zwar reine Spekulation, von da aus auf die jeweiligen Anteile an der gemeinsamen Arbeit oder gar die Arbeitsweise zu schließen, aber auch nicht unwichtig, daß die Beziehung zwischen einem legitimen und einem illegitimen Denker im Mittelpunkt einer Arbeitsbeziehung steht, die das radikal Illegitime denken will.
Als der Anti-Ödipus über den Umweg Theweleit-Fußnoten seinen Weg in die Studentenzimmer angehender Punk-Rocker fand, stellte er eine nahezu undurchdringliche, schroffe Faszination dar, der man bald über die Lektüre leichterer und unmittelbar „anwendbarerer“ Merve-Autoren Herr zu werden versuchte. Allein: Baudrillards prima anwendbarer Kool Killer wurde in der gleichen Geschwindigkeit schal, mit der seine Nachfolgebände auf den Markt kamen (was sich dann nach dem Symbolischen Tausch noch mal ändern sollte). Dann erschloß man sich den Anti-Ödipus über ein Radikalisierungsmodell, das sich leicht mit den Linksradikalisierungsstufen oder Drogenradikalisierungsstufen der eigenen Biographien abgleichen ließ. Man muß weitergehen, hinter sich lassen. Dafür mußte man das Nacheinander der Stationen rekonstruieren, die Deleuze/Guattari jeder für sich und gemeinsam durchlaufen und hinter sich gelassen hatten. Dabei halfen Texte wie das Interview, das im Merve-Band Rhizom17 nachgedruckt war.
Während man sich so nach althistorischer Gewohnheit seine Genealogie und Radikalisierungs-Teleologie bastelte, brach eben dieses lineare System zusammen und eröffnete einem so, durch den selbstauferlegten Zeitdruck erzwungen, erst die im wahrsten Sinne „Vielschichtigkeit“ des Anti-Ödipus. Daß dieses Handeln unter Zeitdruck – also das realpolitische Handeln enttäuschter Linksradikaler –, einem Zeitdruck, den das für den Import notwendige Kontext- und Kulturgefälle verursacht hatte („in Frankreich sind die viel weiter“), den Zusammenbruch eben genau der Logik des „Weiter“ und des Zeitdrucks herbeiführte, wirft ein interessantes Licht auf einen weiteren Nebeneffekt des Imports. Sozusagen im Inneren der Texte von Deleuze/Guattari passiert mit forcierter Intensität positiv-energieförmig, was im Zeitdruck der globalen Kulturkonkurrenz negativ-warenförmig passiert: Das Nacheinander bricht zusammen, die Geschichte, die zur besinnungslosen Reihe von Steigerungen geworden ist … implodiert? Nein, im Gegenteil: Die überall während der Achtziger totgesagte Geschichte wird nicht aufgegeben, sondern zerlegt (nicht im Sinne von analysiert), zerkleinert, mikroskopisch angesehen. Nicht nur, um die Mikropolitik (Bürgerinitiativen) gegen die Makropolitik (Parteien und Panzerkreuzer) auszuspielen, wie so oft mißverstanden, sondern, um Wirkungskräfte freizulegen, die nicht minder real sind als ihre Verklumpungen in institutionellen oder warenförmigen Zusammenhängen. Daß das, was an die Stelle der Geschichte getreten ist, Anthropologie sei, könnte eine pessimistische Täuschung sein, die die Trauer um die verlorene Geschichte mitverursacht hat.
Denn es gibt ja nicht nur den Importeur Deleuze, der seine antihegelianische Philosophie – deren zentrale Begriffe wie Hausgötter ja über Jahrzehnte konstant blieben (das Werden der Leute, Vielheiten, Mannigfaltigkeiten, Nietzsche, Bergson, Spinoza etc.) – mit dem konkret nomadischen, explosiv Begriffe erfindenden Denken des praktizierenden Schizo-Analytikers Guattari füllen mußte und ihn zum Zwischenhändler machte, der die Kostbarkeiten von der Front der molekularen Kämpfe mitbringt. Ebenso haben wir den Praktiker Guattari, der seine Praxis auf Begriffe bringen muß, um trotz ihrer auseinanderstrebenden Tendenz und seiner Weigerung, das Finite an Definitionen zu akzeptieren, handlungsfähig zu bleiben (eine Konsistenzfläche bilden?). So wie der „legitime“ Philosoph das Illegitime denken will, will der„illegitime“ Theoretiker das Illegitime legitim denken (vor allem seine auf Verzinsung angewiesene Klientel will das), das heißt dessen Komplexität ebenso gerecht werden wie der Kommunikation von Überprüfbarkeiten. Guattari ist es auch, der in eigenen Publikationen (aber auch in Mille Plateaux) Interesse zeigt für „straighte“ Theorien von Komplexität, die man im D/G-Kontext nicht vermutet hätte: etwa die „Rahmenanalyse“ von Erving Goffman oder den Begriff der „ Autopoiesis“ des Radikalen Konstruktivismus.
In dieser Konstellation bricht das Nacheinander auseinander, das sich ja in die Molekularität als Radikalisierungsteleologie eingeschlichen hatte. Es gibt kein erstens, zweitens mehr, keinen Prometheus und Epimetheus, eben keine Helden, sondern Verkettungen. Die aber in einem Verhältnis sowohl zu recht grobschlächtigen, offiziell-institutionellen Kategorien wie zu flüchtigen, unübersichtlichen und komplizierten subkulturellen stehen. Subkulturell heißt aber immer, die Komplexität der eigenen Verhältnisse nicht denken können/wollen. Das Primat der Energie, des Erlebnisses, des Ereignisses vor der Reflexion bleibt meistens unangetastet. Und darum geht es/ging es D/G: ereignisförmig/energieförmig die Feinstruktur von Energie und Ereignis zu beschreiben, den Gegen- und Subkulturen die je eigenen Komplexitäten spiegelnd, die zu ignorieren ihre Bedrohtheit steigert.
War der Anti-Ödipus schroff, kann man sich in den Mille Plateaux ergehen wie in einem gepflegten Garten. Das angenehme Gefühl, daß hier zwei Leute das Buch geschrieben haben, das jeder schon immer schreiben wollte, nämlich: was in all meinen Büchern steht und auf allen Platten drauf ist, die ich je gehört habe, nebst dem, was ich alles dazu denken kann, wird verursacht auch davon, daß hier die Dringlichkeit des Handelns, der Politik als Handeln unter Zeitdruck, verschwunden ist zugunsten der Freilegung des immer schon stattgefundenen, immer noch stattfindenden Handelns: dessen, was ohne Emphase sowieso passiert und deswegen aber nicht minder politisch oder historisch oder „bedeutsam“ ist. Viel der angenehm unanwendbaren, also haltbaren Begrifflichkeiten war im Laufe der Achtziger auf der Fragment-Ebene schon durchgesickert. Sie erwiesen sich als nicht anwendbar auf konkrete benennbare Gegenwartsvorgänge (so wenig wie Mikropolitik in den Siebzigern auf Bürgerinitiativen – bezeichnenderweise warnt Deleuze in den Dialogen mit Claire Parnet ausdrücklich vor der Verkitschung der „Marginalen“, sie hätten ihm schon immer Angst und Schrecken eingejagt, sie seien nicht klandestin genug), wohl aber auf ein Bild der molekularen Revolutionen, von denen Guattari immer wieder sprach.
Nun ist diese Epoche aber vorüber. Zu dem ’85 gemeinsam von Toni Negri und Guattari geschriebenen Manifest Communists Like Us gibt es ein Nachwort von 1990: Negri hat es allein geschrieben. Es war eine komische Freude, daß man die Wörter Guattari und „Communists“ 1990 zusammen auf einem Buch finden konnte. Damals begann, was heute dominiert. Ein komisch verschobenes, aus dem Ruder geratenes Interesse für das Molekulare überschwemmt die Medien. Wochenlang inspiziert die Presse in Text und Bild Katrin Krabbes Vagina. Alle Menschen sind plötzlich Opfer von Kindesmißbrauch. In alles haben Stasi, Vati, Mami ihre Nase gesteckt. Dem steht eine ebenso hysterische Begeisterung für alles, was nach Ernstfall riecht, gegenüber. Auch die Kritiker und „Mahner“ schnuppern aufgegeilt am Rauch brennender Asylantenheime, und viele Menschen und Medien zapfen stabilisierende Sinnstiftung ab, wenn sie eins ums andere Mal befriedigt konstatieren, daß die angeblich „gemütliche“ BRD tot sei. Die hektische Begeisterung für das, was nach dem Zusammenbruch der großen symbolischen Binaritäten auf den Straßen unsymbolisch gewaltsam ausgetragen wird, bleibt auch in dessen vermeintlicher Anprangerung spürbar. Deutschland ist geil auf Blut und Bosnien. Faschistische Verkettungen und Produktionen, wie sie in Mille Plateaux dargestellt werden.
„Ländlicher Faschismus und Faschismus der Stadt oder des Stadtteils, junger Faschismus oder Faschismus des alten Kämpfers, linker und rechter Faschismus, Faschismus in der Ehe, in der Familie, in der Schule oder im Büro, jeder Faschismus wird durch ein schwarzes Mikro-Loch definiert, das für sich selbst steht und mit den anderen kommuniziert, bevor es in einem allgemeinen schwarzen Loch Widerhall findet. Faschismus gibt es dann, wenn in jedem Loch, in jeder Nische eine Kriegsmaschine installiert wird.“18 Hier helfen plötzlich diese schon zu Beginn der achtziger Jahre entwickelten Faschismus-Unterscheidungen aus Mille Plateaux. In einer Zeit, wo kleine Faschismen und Kriegsmaschinen nicht mehr nur noch im Verborgenen nisten wie bei der berüchtigten Platitüde vom Faschisten in uns allen, sondern offen produziert werden. Von Kriegsmaschinen, deren Funktionieren jeder beobachten können müßte, aber nicht wahrzunehmen vermag, weil der Blick auf das Große das Kleine aus dem Auge verliert. So berechtigt die Beobachtung der Hegemonialdiskurse und daran anknüpfende Interventionen sind, solange man sich nicht auf die molekulare Ebene begibt, wird man nicht einmal mehr den Status quo ante wiederherstellen können.
Mille Plateaux verstand sich als zweiter Teil des Projektes „Kapitalismus und Schizophrenie“, dessen erster Teil der Anti-Ödipus war. Das darin von Deleuze/Guattari in dem 1980 veröffentlichten und ein Jahrzehnt lang übersetzten Mille Plateaux entwickelte und geöffnete Feld ist zunächst ein befreiender Horizontgewinn. Dies hat es mit so manchem neuen Ansatz der Achtziger gemeinsam. Aber im Gegensatz zu diesen anderen meistens pessimistischen und rein philosophischen neuen Horizonten, ist es praktisch und radikal optimistisch (letzteres ist übrigens das einzige absolut unantastbare Tabu der legitimen Kultur: ihr Distanz befördernder, Praxis ausschließender Genuß des Pessimismus). Es denkt für die Achtziger, aus der Erfahrung von „Subkultur“ im weitesten Sinne, Praxis, indem es sich gerade nicht als auf eine Realität applizierbare Philosophie denkt, sondern als Bestandteil einer Praxis des Aus-dem-Zusammenhang-Reißens. Dieses Aus-dem-Zusammenhang-Reißen ist das tiefste Gemeinsame all der Praktiken, die man unter Subkulturen, Gegenkulturen etc. zusammenzufassen versucht hat.
Man muß dieses Reißen aber unterscheiden von dem interessierten Unterdrücken von Zusammenhängen, von Desinformationen wie etwa bei der L.A.-Rebellion. Es geht eben gerade darum, aus dem Medien- und Erzählungszusammenhang zu reißen, der einem angeboten wird, und sich einen eigenen zu machen. Diese Korrektur hätte dann sogar noch den utopischen Horizont einer Rekonstruktion. Man muß das Reißen auch trennen vom Eklektizismus, der zusammenfügt und zusammenstellt, was als unvereinbar galt, um vorgefundene Normen zu sprengen oder ihre Obsoletheit zu demonstrieren. Nein, dieses Aus-dem-Zusammenhang-Reißen, von dem ich rede, ist eine ästhetischpolitische Praxis, die allen gemeinsam ist, die zur legitimen „ästhetischen Einstellung“, wie Bourdieu sie definiert (Distanziertheit, Vertrautheit, Anciennität etc.) nicht finden konnten und die andererseits – ob freiwillig oder unfreiwillig ist unerheblich – auch keinen Erfolg hatten bei dem Versuch, illegitime Ästhetik zu legitimieren. Die unbefugte und „zusammenhangslose“ Übernahme dieser Praxis unter Nutzung des Kanals „ Ästhetik“ scheint die einzige erfolgversprechende molekularrevolutionäre Perspektive von Globalität.
Ich sprach davon, daß Deleuze/Guattari einen zwangen, ihre eigene Radikalisierungsgenealogie zurückzuverfolgen. Aha, Guattari kam von Lacan und hat ihn überholt. Wer war Lacan? In den Achtzigern vergaß man über die Lacan-Lektüre gerne, warum man sich diese Frage gestellt hatte. Mancher wurde zum Lacanianer und ward nicht mehr gesehen. Oder zum Foucauldianer. Das Parallelereignis zum Anti-Ödipus in der Musik waren die Sex Pistols. Nachdem sie verschwunden waren, kratzte man sich am Kopf und rekonstruierte ihre Radikalisierungsgenealogie. Man stieß auf Dinge, die man in den progressiven Siebzigern nur am Rande oder isoliert wahrgenommen hatte. Die Stooges, Captain Beefheart, aber auch die britische Music-Hall-Tradition, Glam-Rock, Situationismus. Die meisten verbrachten die Achtziger mit Forschungen am Proto-Punk und verloren sich in endlosen Revivals von Stooges und Radio Birdman. Das geheime (und durch Anlaß Buchveröffentlichung Mille Plateaux auch offizielle) Thema D/Gs entspricht der Veröffentlichung der Bücher Lipstick Traces von Greil Marcus und England’s Dreaming von Jon Savage, die jeweils die Sex Pistols als die entscheidende Besonderheit der Achtziger-Jahre-Selbstverständnisse herausarbeiten. Marcus geht weiter und konstruiert ebenfalls etwas, was man als die anthropologische Dimension von Dissidenz (miß)verstehen könnte: die große Kontinuität des Wiederauftauchens und nicht die kurze Geschichte zum Scheitern. Im Falle D/G und der 1000 (Hoch-)Ebenen wäre dies aber tatsächlich ein Mißverständnis ohne Klammer. Die geologischen, biologischen, geographischen und wahrnehmungspsychologischen Metaphern und Ergebnisse, die strudelartig und ununterbrochen aufgesogen und eingefügt werden, sind nicht die andere, die höhere, die wahre und größere Dimension, in die man die bisher für historisch gehaltenen „Singularitäten“ einzufügen hätte. Sie sind das Aus-dem-Zusammenhang-Gerissene und In-einen-Zusammenhang-Geschmissene, ja das live und in Echtzeit Aus-dem-Zusammenhang-Reißen, das nur, wenn es nicht aufhört – wie das Herz –, das Überleben außerhalb der Totalisierung der Legitimität und der Warenform garantiert.
Heute drängt sich die Frage auf, ob die Helden des Tribalismus noch funktionieren, d. h., das tragen, was man ihnen auferlegt hat, bzw., ob sie es ertragen können, daß sie im Zuge der Achtziger zu Helden geworden sind. Die Listen, mit denen der amerikanische Verlag wirbt, die ich am Anfang dieses Textes zitiert habe, enthalten eben auch all die Kandidaten und Mad-Max-Freunde, die man heute eben auch in Rostock und Hoyerswerda findet. Alte Dissidenz-Definitionen wie Widerstand gegen die Warenförmigkeit scheinen ebensowenig zu tragen wie das Tribalismus-Ideal oder die affirmative Rede von den Gangs (allenfalls deren Variante, die den richtigen Tribe als denjenigen, der sich über sich selbst definiert, vom falschen [Skinhead]-Tribe unterscheidet, der sich über einen äußeren Feind definiert): „ Nichtsdestoweniger bewegt sich alles Wichtige in Vergangenheit und Gegenwart durchs amerikanische Rhizom: beatnik, underground, Keller, bands und Gangs, aufeinanderfolgende Seitenstöße in unmittelbarer Verbindung mit dem Außen …“19 Aber genau in dieser Definitionsnot spielt der geologische Zufall und die Merve-Veröffentlichungspolitik (und die Suhrkamp-Verschleppungspolitik) der deutschsprachigen Bevölkerung den Text zu, der eben genau die nur soziologisierenden Definitionen von Dissidenz unterläuft. Es kann nicht darum gehen, nur zu unterscheiden, wer die Guten und wer die Bösen sind, es geht nicht um Identifikation und Glorifizierung und Feindschaft, sondern darum, „dem Kanal zu folgen“.
Kanäle nannte ich auch die Importwege, von der Faszination in einer Sprache zu singen, die man nicht versteht, und sich mit diesem Unterschied/Mißverhältnis zu identifizieren (wie mein Bruder und ich als Vorschulkinder, wenn wir Beatles-Songs „interpretierten“), bis zum fortwährenden Aus-dem-Zusammenhang-Reißen als inneres Gesetz sowohl der Beziehung Deleuze/Guattari wie der aus ihrer eigenen Zweiteiligkeit hervorgegangenen Strategie gegen Binarismen (wie z. B. dem von legitim und illegitim, und das nicht nur vom Begriff her, sondern in der Praxis). Dieser Veröffentlichungsfehler als ein Fehler des Zusammenhangs eröffnet die Chance, sich an das zu erinnern, womit man (wir) damals angefangen hat (haben). Ein erfolgreiches Anhören dieser Schallplatte ist nur möglich, wenn man ihrem einzigen Gesetz folgt: immer, wenn ein Kanal verstopft ist, einen neuen zu suchen, bzw. schon vorher; immer, wenn ein Begriff „anwendbar“ wird, einen neuen einsetzen. Oder wie die Rocker sagen: „My confusion is real.“ Oder wie die Rapper sagen: „You don’t stop, you don’t stop, you don’t stop, don’t stop that body rock.“ Dieser Körper hat revolutionäre Zellen.
- Gilles Deleuze/Felix Guattari, Rhizom, Berlin 1977. ↩︎
- vgl. „Virtueller Maoismus“ in Freiheit macht arm. ↩︎
- Alle Zitate aus der Verlagswerbung von „Autonomedia/Semiotext(e)“, auf den letzten Seiten von Félix Guattari/Toni Negri, Communists Like Us, New York 1990. ↩︎
- R. Heinz/G.Ch. Tholen, Schizo-Schleichwege – Beiträge zum Anti-Ödipus, Bremen 1981. ↩︎
- ID-Archiv im IISG/Amsterdam (Hrsg.), Die Früchte des Zorns – Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora, Berlin und Amsterdam 1993; dazu die Rezension von Mark Terkessidis, dem ich den Hinweis auf den Anti-Ödipus-Zusammenhang verdanke, in: Spex, 5/93. ↩︎
- zitiert nach Brian Massumi, A User’s Guide to Capitalism and Schizophrenia, Cambridge, Mass. und London 1992, S.7. Auch in den Pariser Gesprächen von François Ewald (Berlin 1990) verschweigt Deleuze seine Sehnsucht nach Illegitimität nicht, wenn er erklärt, er würde gerne Vorlesungen wie Rock-Konzerte abhalten. ↩︎
- Mark Terkessides, „Jeder lobt, keiner liest“, in: Texte zur Kunst, 5/92, S. 172ff. ↩︎
- Texte zur Kunst, Nr. 7/92. ↩︎
- Diedrich Diederichsen, „radio free europe“, in: Autoren von Texte zur Kunst halten Reden auf der documenta, Köln 1992. ↩︎
- vgl.: „The Kids are not …“ in Freiheit macht arm. ↩︎
- Helmut Draxler, „Dreisatz“, in: Texte zur Kunst, 7/92, S. 113. ↩︎
- Walter Seitter, „Vom rechten Gebrauch der Franzosen“, in: Tumult, 15/91. ↩︎
- Peter Bürger, Das Denken des Herrn – Essays, Frankfurt am Main 1992. ↩︎
- Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992. ↩︎
- Felix Guattari, Wunsch und Revolution, Freiburg im Breisgau 1978. ↩︎
- Gemeint ist Isabelle Graw, die bei den Recherchen für die Erstveröffentlichung dieses Textes mit Oury telefonierte. ↩︎
- Vgl. Anm. 1. ↩︎
- Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 292. ↩︎
- ebenda, S. 3. ↩︎