Aus der Welt der technisch-reproduzierbaren Unvergleichlichkeit: Formel 1

Vor allem auf ihren Sportseiten leistet „Bild am Sonntag“ gesellschaftlich Wertvolles: mit dem ausführlichsten Tabellenteil der Republik, gegliedert in die große Bundesligatabelle mit Heim- und Auswärtsbilanz, die Notentabellen für Spieler und Mannschaften, die Bewertung der einzelnen Spiele en gros (Daumen hoch = Spitze, Daumen runter = schwach) und en detail … – erst die Quantifizierung des Massenereignisses Fußball macht es wirklich verbindlich und staatstragend.

In ähnlicher Weise hat sich das Fernsehen um die Politik verdient gemacht: erst durch die herrlichen Computergrafiken über Wählerwanderungen, die Säulenschaubilder über Gewinne und Verluste, den ganzen Rohlinger-Groove also, werden Wahlen zur perfekten, massenbindenden Unterhaltung.

Nur was den dritten gesellschaftlich relevanten Bereich, die Musik, angeht, lag die Bundesrepublik bis vor kurzem weit unter dem Level, das Länder mit ähnlich entwickelten Produktivkraften seit Jahren als Standard ausgeben können: Eine deutsche Hitparade gab es nicht. Die Quantifizierung des Massenspektakels Popmusik war zersplittert und pulverisiert wie das Reich zwischen 1805 und 1871.

Lokale Funkhitparaden, die auf deutsche Schlager begrenzte Minderheitenveranstaltung des D. T. Heck, die auf Branchendienste für Insider abgeschobene objektive Hitparade des „Musikmarkt“, „die Schlagerparade des norddeutschen Rundfunks, am Mikrofon: Ilse Seemann“, so sah es aus. Provinziell, gestrig, unbefriedigend. Die Einführung von „Formel 1“, der ARD-Hitparade mit Peter Illmann, ist ein historischer Sprung nach vorne, der mit der um ein Jahrhundert verspäteten Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts nur unzureichend verglichen ist. „Formel 1“ ist mehr als das, was die nationale britische Institution „Top Of The Pops“ seit Jahrzehnten für das Leben auf der Insel bedeutet; Formel 1 vollzieht in einem Schritt nicht nur den Anschluß an die Welt (Einführung einer spektakulären Verbreitung der deutschen Verkaufshitparade), sondern koppelt diese Hitparade an die neue Form des Pop-Songs, seine Visualisierung durch einen Videoclip, und beschränkt sich nicht wie alle Hitparadenvorbilder auf die Spitze der Charts, die meist nur in Kurzform mitgeteilt wird, sondern stellt in erster Linie „New Entries“ aus den unteren Bereichen der Charts vor. Ohne Fünf-Prozent-Klausel.

„Formel 1“ hat erstmals die Grundlage für ein einheitliches deutsches Pop-Bewußtsein geschaffen und den Einstieg in eine neue Popwelt geliefert, die so kompliziert ist, daß selbst ein alter Hase wie ich oft Schwierigkeiten hat, über Gut und Böse zu befinden.

Fest steht, daß das im Mary-Poppins-Stil von Julian Temple, dem König der neuen Video-Regisseure, inszenierte Video zu ABCs „The Look Of Love“ unbestritten an der Spitze steht und als so etwas wie stilbildend angesehen werden kann. Ähnliches gilt für die Monkees-inspirierten Clips von Haircut 100, aber uns fällt auf, daß wir derartige, sicher gut abgehangenen Werturteile nur über Clips sprechen können, die von 1982 stammen. Bei dem, was heute in „Formel 1“ zu sehen ist, ist die Lage absolut verwirrend.

Neu hinzugekommen ist das Phänomen: schlechter Song/gutes Video. Das hat zum einen damit zu tun, daß die Hitparade zur Zeit so schlecht ist wie seit Menschengedenken nicht mehr, der Video-Film aber ästhetisch expandiert. Zum anderen damit, daß schlechte Gruppen durch Zufall oder Berater gute Regisseure kaufen konnten: Duran Duran kriegten Tobe Hooper, die Rolling Stones für „Undercover Of The Night“ gar Julian Temple. Die Amerikaner, deren Hitparade schon traditionell die uninteressanteste der Welt ist, haben es auf dem Videosektor verstanden, als erste eine Standard-Modell-Dramaturgie zu entwickeln, was immer ganz nett zu betrachten ist. So läßt sich sogar der reaktionäre Ekel-Schwarze Lionel Richie aushalten, diese Hämorrhoide des Soul: Das Video zu „Hello“ mit der Schnauzbart-Softy-liebt-blindes-Mädchen-Schnulze ist so perfekt geschnitten, daß dieses nachweislich schlimmste aller Lieder seit „All Night Long“ zu ertragen ist.

Noch problematischer ist es mit den traditionell raffinierten, vor Zeichengewitter bebenden britischen Video/Musikwerken, die in einem weit größeren Maße als anderswo von den Musikern mitgestaltet werden. Als die Popmusik noch gesund war (1982), war die gute Visualisierung eines guten Songs ein klarer, fast mechanistischer Vorgang. Heute herrscht Verwirrung: nehmen wir z. B „The Eighties“, polternden Post-Punk-Lärm von Killing Joke, einer äußerst verquast ideologischen Gruppe. Durch ebenso primitives wie geschicktes Einschneiden von Politikerbildern, Aufnahmen des Sängers vor einem mit US- und UdSSR-Fahnen geschmückten Rednerpult und Bildern der Irokesen-Fans der Gruppe wird das Ding kräftig und konzis, stellt mehr dar als den Soundtrack für das abendliche Köpfe-gegen-Wände-und-andere-Köpfe-Knallen in westdeutschen Groß- und Mittelstädten. Ein Statement. Ein dummes Statement, klar: Das Hinweisen auf formale Gemeinsamkeiten zwischen den Politikerreden in Ost und West ist ebenso obsolet wie das Bemühen pädagogisch-pfiffiger linker Greise, die seit Jahrzehnten nicht müde werden, Gemeinsamkeiten zwischen musikalischen Großveranstaltungen und denen des Faschismus zu behaupten. Aber das diffuse Machwerk von Song wird durch das optisch gelungene Video ein diskutierfähiges Werk. Das ist gut.

Rätselhaft auch die Signale des Videos zu „The Caterpillar“ von The Cure: mit lächerlich verschminkten Gesichtern präsentiert die bislang düster-pubertäre Gruppe plötzlich sorglosen Sixties-Spielkram, Musik aus der Zeit der „Happiness-Explosion“. Ist The Cure nun superbescheuert oder klug geworden? Man weiß es wirklich nicht: Eine Erfahrung, die typisch ist für „Formel 1“, und die in der Figur des Moderators ihren schwindelerregenden Höhepunkt findet.

Peter Illmann ist so wie alle und so wie niemand. Man glaubt ihn zu kennen, seine virtuose nichtssagende Mittzwanzigerhaftigkeit an allen abgelegten Schulkameraden und Berufskollegen der gleichen Altersstufe auswendig gekannt zu haben. Und doch ist er wie niemand, den man kennt. Sei es die kritische Ironie (Glückwünsche an Kohl zur Abmagerungskur), der kritische Verweis auf bekannte Übel der Welt, immer, wenn sich die Gelegenheit bietet (Südafrika, Drogenprobleme, und natürlich: Reagan), oder die freundliche Interpretationshilfe („Dies ist selbstverständlich eine Persiflage auf den Faschismus.) Wir kennen das alles so gut und doch ist es noch nie so genau getimt, so ultrapräzis, so lockerdoof und fernsehgerecht verkauft worden. Noch nie hat sich die Langweilergeneration halblanghaariger, halbalternativer, halbangewavter, halbkritischer Mittzwanziger zwischen Punk und Hippie genau in der Mittemitte so unblutig und leicht verkauft. Ist Geschwindigkeit Hexerei?

Nein, wie nichts auf dieser Welt, die wir uns doch angewöhnt haben, materialistisch zu betrachten. Das Wesen Peter Illmann, das immerzu etwas sagt und doch so aussieht, als wolle es nichts sagen, als sei gar kein Wollen in ihm, ist die neueste Erfindung amerikanischer Wissenschaftler. Eine Erfindung, die Philosophen und Hippies auf die Beine bringen wird, bzw. auf die Palme treiben, das größte Ding seit Walter Benjamin. Peter Illmann ist „Cabbagehead“. „Cabbagehead“ ist eine Kinderpuppe, die in den USA zur Zeit große Erfolge feiert. Durch ein Computerprogramm ist dafür gesorgt, daß jedes Exemplar von „Cabbagehead“ ein anderes Gesicht hat. Man kann die Puppe auch nicht schnöde „kaufen“, sondern muß sie gegen eine Gebühr „adoptieren“. Der Name und das Geburtsdatum sind auf der Adoptionsurkunde verzeichnet und ebenfalls individuell. Und die erste deutsche Versuchsausgabe dieser technisch reproduzierbaren Individualität ist Peter Illmann. Deswegen kann er so schön alle Attribute der klassischen Mittzwanziger-Individualismen hervorbringen, ohne dabei all das Stammelnde, Stotternde, Schwerfällige, Erkämpfte all dieser Attitüden mit sich herumschleppen zu müssen. Deswegen paßt er auf das Normalbild und in das rasende Timing von „Formel 1“, ohne sich von seinen Altersgenossen in mediocrite der Oberflächlichkeit zeihen lassen zu müssen. Denn er sagt doch alles Vorgeschriebene (Reagan, Südafrika, Drogenprobleme), und er vertritt doch alle untereinander sich hassenden Pop- und Rock-Richtungen so prima. Sei es Breakdance oder Southern Rock. Er ist das goldene Mittel der Rock-Generation.

Die Frage ist: Wie finde ich das? Die Beantwortung dieser Frage führt über den Umweg einer anderen Frage: Wie fühlt sich Peter Illmann von innen an?

Er fühlt sich von innen an, wie sich die Deckscheibe eines BigMäc von innen anfühlt. Nicht wie die größeren, noch mit Nahrhaftigkeit beauftragten Deckscheiben der Hamburger, FishMäcs und Viertelpfünder. Nein, wie das leichte, in der Geschmackskomposition ganz und gar funktionslose, allenfalls ergonomisch wichtige Deckscheibchen, das luxuriös klein ist, daß man es völlig ohne Anstrengung kurz lüften kann, um nachzusehen, ob nicht irgendein Subversivling in der McDonalds-Küche ein altes Haar auf das Fleisch gelegt hat. Die Deckscheibe, die das Komma im Syntagma des BigMäc ist wie der Schlips im Syntagma des Herrenanzugs. Sie ist die perfekte Verkörperung des Inneren von Peter Illmanns „Cabbagehead“.

Finden wir diese Deckscheibe nun gut? Finden wir „Formel 1“ gut, das mit seinem Anchorman die völlige subkulturelle Neutralität sichert, eine fast schon warholesk-weise Zurückhaltung übt?

Ja, das finden wir gut. Denn das macht eine Hitparade, einen Bericht aus Bonn, eine Rohlinger-Revue, einen „BamS“-Tabellenüberblick aus. So steht’s in der Verfassung.