Big Nachbar is watching you!

Diedrich Diederichsen über den Einbruch des „neuen Medienzeitalters“ in Ludwigshafen

Diederichsen, 26, Journalist in Hamburg, ist Mitautor des TV-Magazins „Schön ist die Welt“, dessen erste Folge am 7. Januar in Ludwigshafen gesendet wurde.

Ich hatte es mir immer so vorgestellt: Wenn ich einmal alt wäre, käme es mit der Regelmäßigkeit und Häufigkeit, die für Greise typisch ist, zu folgender Szene: Die Schar der Enkel besucht den Opa, und der erzählt von früher. Von der schlimmen Zeit, 83-95, damals unter Kohl, und was sie im Atomkrieg alles durchmachen mußten, und wie froh sie waren, als es vorbei war, und wie es dann erstmal nichts zu essen gegeben hätte und so weiter.

Aber abschließend würde ich resümieren: „Eines, Kinder, eines muß man dem Kohl ja lassen. Er hat ja die Kabel gelegt, nicht wahr, er hat ja die Kabel gelegt.“ Und die Kinder würden es nicht mehr hören können.

Aber ich fürchte, nach drei Tagen Kabelfernsehen beim Kabelpilotprojekt in Ludwigshafen: Kohl wird nicht einmal diesen Kredit von der Geschichte bekommen. Die Autobahnen waren irgendwie doch besser.

Zunächst muß man erst mal alle Illusionen fallenlassen, die man als kunstsinnig-kosmopolitischer Mensch hegen könnte, wenn man an Cable-TV denkt. Cable ist nicht Kabel. (Kabel sind schwer und kupfern und werden mühsam eingebuddelt, Cable sind flink und schnell und werden einfach verlegt.) Ludwigshafen ist nicht Manhattan.

Kein Ugly George schleicht durch die Straßen mit einem kompletten TV-Studio auf dem Rücken und hält nach Mädchen Ausschau, die sich spontan vor seiner Kamera ausziehen; kein Glenn O’Brien setzt sich mit George Clinton, dem Funk-Heiligen, und Debbie Harry vor eine Sowjet-Flagge und liest aus sozialistischen Klassikern vor; kein Andy Warhol gibt smarte Sentenzen von sich, kein John Sex zeigt seine East-Village-notorischen Performances.

Nein, das Jazz-Orchester des Otto-Hahn-Gymnasiums Landau spielt Swing, ein Low-Budget-Moderator schnippt die Wurstfinger (Das macht man so beim Jazz. Wo? Beim Jazz, wissen Sie denn nicht, diese neue Negermusik aus New Orleans?), und zwei Buslinien führen vom „Haupt“ (ein Euphemismus, der auch in Kempten und Hagen Großstädtisches suggerieren soll)-Bahnhof nach Oggersheim.

Was in Ludwigshafen begonnen hat, hat so wenig mit neuen Medien, Innovationen und 80er Jahren zu tun wie Robert Lembkes Beruferaten oder eine Wiederholung der ersten „Drehscheibe“, es reflektiert eine Wirklichkeit, die aus Weltkrisen, Weltwährungszusammenbrüchen (bevorstehenden) und Walid Dschumblats gewoben ist, so wenig wie das Altenmagazin „Mosaik“. Es leitet vielmehr das von Helmut Kohl geplante mittelfristige kultur-, jugend-, medien- und familienpolitische Projekt der totalen Provinzialisierung der Bundesrepublik ein. Je provinzieller ein Staat, desto leichter regierbar.

In der Sendeanstalt arbeiten nette, skeptische Süddeutsche. Man fragt mich: „Was, Sie wollen sich das Zeug wirklich ansehen? Kriegen Sie denn Schmerzensgeld dafür?“ Auf dem Papier habe ich die Wahl zwischen acht Kanälen, als ich mich vor einem der Journalistenmonitoren niederlasse, aber die meisten sind erst schwach gebucht. Nur zur Hauptfernsehzeit um 20.15 Uhr feuern alle.

Der erste Tag ist geprägt von Selbstrechtfertigungen, von Features und Talk-Shows des Inhalts „Kabelfernsehen – Fluch oder Segen?“ Das Tempo ist gemächlich.

Macher stellen sich vor. In ihrer ganzen Merkwürdigkeit. Eine Managertype, die Videoclips zeigen will, möchte „Sehgewohnheiten ändern“. Ja, das gute, alte „Sehgewohnheitenändern“ ist inzwischen in der Chefetage angekommen.

Ein Mann vom „Katholischen Rundfunkdienst“ verweist auf das ausgezeichnete seelsorgerische Mittel der Kirchenmusik. Das „Erste Private Fernsehen“ bietet die Möglichkeit, Glückwünsche an die Lieben über das Kabel zu jagen. Die „FAZ“ erklärt, warum sie für den Kanal des Serien- und Spielfilmanbieters PKS Nachrichtensendungen produziert, und im Hintergrund surrt und piept allerlei Gerät, das augenfällig machen soll, wie modern die „FAZ“ ist.

Tatsächlich begründet sie ihren Entschluß, die Kabeltechnologie zu nützen, damit, daß auch bei einer modernen Tageszeitung viel Elektronik im Einsatz sei. Ich fahre Auto, weil mein Fahrrad auch Räder hat.

Der „Bürgerservice“ stellt in der ersten Ausgabe seines Sub-„Tele-Illustrierten“-Magazins „TelePfalz“ seine vielen Dienstleistungen vor. Vor allem Banken und Sparkassen begründen ein ums andere Mal, wie wichtig für sie das Kabelfernsehen sei und vice versa. Was haben sie den Bürgern nicht alles mitzuteilen! Wie viele Abende wollen sie doch füllen mit Sendungen über das Bausparen, äh das Bausparen eben, dann ja das, wie gesagt, das Bausparen und – ach, ja – die Möglichkeit per Scheckkarte Geld auch nach Schalterschluß aus dem Automaten zu ziehen.

Krankenhäuser, Pädagogische Hochschulen und Kinderverkehrsschutzklubs sind zu Diensten, und Folklore-Gruppen begleiten den prickelnden Start in die Medienzukunft mit Blockflötengefiepe, Gitarrengezirpe und glockenhellen Mädchenstimmen.

Die „Bild“-Zeitung kommentierte am nächsten Tag: „Der Bürger sieht, was ihm gefällt.“ Ja, so ist es wohl. Der Bürger. Der Bürger. Der Bürger ist das Subjekt der verkabelten Provinz, „der Bürger“, im Kohl-Slang, der klassenlose, gesichts- und geschichtslose Bürger. Der Bürger und seine Familie.

Sendealltag am 2. Januar: die gleichen Provinzsendungen von EPF und „Bürgerservice“; die grinsenden Moderatoren des ZDF-Musikkanals; die in der Regel mediokren, immer veralteten Videoclips; ein guter alter Lateinlehrer, der, auf dem „schlauen Kanal“ des SWF, uns die Sätze „Rusticus arat“ und „Ancillae in horto sunt“ beibringt.

PKS bescheren mir den einzigen Genuß, der länger als ein Pop-Song dauert: „Ufo“ gehört zum schillerndsten, was in der goldenen Ära britischer Trash-Pop-Serien in den Spät-60ern und Früh-70ern entstanden ist. Ein Mann mit Cäsarenfrisur und superschickem Pininfarina-Sportwagen leitet eine Organisation, in der schwarze Mädchen mit violetten Perücken und Sci-fi-Miniröcken arbeiten und die Außerirdischen bekämpft, die Bomben auf britische Außenminister werfen.

Wie schön hat man sich damals die Zukunft vorgestellt, wie schlimm ist sie geworden. Denn außer den Klassikern „Paper Moon“ und „Minimax“ hat auch PKS konzeptlos eingekauft, was an Serien billig zu haben war. Die Spielfilme sind zweite Wahl.

Wer hofft, gute, neuartige Werbung würde vielleicht ein wenig über den wirklichen Zustand unserer Welt Auskunft geben, sieht sich ebenfalls getäuscht. Die Werbeblocks sind nicht voll, und die dafür eingeplanten Sendezeiten müssen mangels Beteiligung der werbetreibenden Wirtschaft nach einem aus ARD und ZDF hinreichend bekannten „Sanostol“-Spot mit Pausenbildern vom schönen Ludwigshafen gefüllt werden.

Die Programme sind wie ihre Moderatoren unsicher. Andauernd betteln sie ums Einschalten, geben sich devot, biedern sich an, sind auf eine noch unerträglichere Weise um Verständigung, um es dem Dümmsten recht machen, bemüht als die schlimmsten Exzesse in dieser Richtung bei ARD und ZDF.

In einem Videoclip der famosen britischen Politbeatband The Jam wird eine Tafel gezeigt, die programmatisch sagt, wie Populärkultur auftreten muß, selbstbewußt nämlich, wenn sie ernst genommen werden will: „If we’re not getting thru’ to you, you’re obviously not listening!“

Zwei mögliche Ausnahmen bleiben. Der „Sky Channel“, der via Satellit jeden Abend aus London sendet, könnte die eine sein. Auch hier veraltete Videos der 2. Liga, aber immerhin eine englischsprachige Präsentation mit einem Punkmädchen im Studio, die etwas näher am Gegenstand ist, auch wenn der Hauptmoderator wieder ein unsäglicher Sympath aus der bewährten Bubi-Schule ist. Danach immerhin gute englische Werbung, in der die Welt aussieht, wie sie aussieht, und mittelprächtige Serien wie „Charlie’s Angels“, aber im Original.

Die andere Ausnahme wäre der „Offene Kanal“. Hier kann jeder, der will, der Bürger natürlich, seine eigene Sendung machen. Jugendliche zeigen Sketche gegen Ausländerfeindlichkeit. Zwei Schülerzeitungsschreiber meinen: „Bei uns fließt der Rhein, und der ist ja sehr verschmutzt, und darüber könnte man doch mal berichten.“ In der Tat. Wow! Ein weiterer Beweis für meine These, daß die Einübung in das Denken in Fernsehfeatures eine weit größere Gefahr für die Jugend darstellt als der Film „Man-Eater“.

Ein Videogalerist, der sich um den Sieg im Bazon-Brock-Doppelgänger-Wettbewerb bemüht, daß ich zuerst dachte: „Et tu, Bazon?“, möchte dem Volk Videokunst nahebringen. Die Programmvorschau verweist auf Sendungen, die sehr nach dem klingen, was jugendliche Bürger auch bei der ZDF-Sendung „Direkt“ schon mal zum Gegenstand von Handkamera-Bemühungen machen dürfen: Mannheimer Friedenswoche und ähnliches, das im offensichtlich weitverbreiteten journalistischen Normalbewußtsein als „Thema“ gilt.

Trotzdem darf jeder, wirklich jeder sein Tape vorbeibringen. Die AKK nimmt keinen Einfluß, sondern berät, stellt Zubehör zur Verfügung und übernimmt Produktionskosten. Das Band wird vor der Ausstrahlung nicht einmal angesehen. Vielleicht also eine Chance, etwas mehr Sex, Gewalt und Agitation ins Programm zu bekommen. Das einzige, was weder öffentlich-rechtliches, noch Privatfernsehen zeigt.

Aber es wird schon nicht so weit kommen. Kommen wird etwas anderes: Das Fernsehen wird seine Autorität verlieren. Fernsehen ist nicht mehr DIE STIMME des Staates, der man widersprechen kann, die als Gegner erkennbar ist. Fernsehen wird zum Forum freundlicher, dilettierender Biedermänner, Leutchen von nebenan, denen man nicht widerspricht, weil sie so harmlos aussehen wie eben auch Kohl und Blüm.

Wenn Köpcke verkündet: „US-Präsident Reagan erklärte, die Invasion der USA in Syrien sei nicht als kriegerischer Akt zu verstehen. Die Luftlandetruppen würden nur schießen, wenn sie angegriffen würden“, sagt der Zuschauer: „Das nenne ich Zynismus, dieses Schwein!“ Wenn dieselbe Nachricht von einem Oggersheimer Nachbarn mitgeteilt wird, nickt man und schlürft pfälzischen Wein.

Ähnlich verhält es sich mit der durchs Kabelfernsehen vollzogenen Institutionalisierung der Panne. War die Panne früher der große subversive Moment im Fernsehen, der Moment, wo etwas sichtbar wird, die Wahrheit z. B., verlieren Panne und Versprecher jetzt jede Kraft, weil die Grenzen zwischen Amateurvideo und ZDF fließend geworden sind.

Der Effekt nach drei Tagen Kabelfernsehen ist nämlich nicht der, daß man sich wieder nach den alten Anstalten sehnt, sondern daß auch das ZDF plötzlich aussieht wie „Bürgerservice“. Das Mühevolle, Verquälte und Normalmenschliche wird in einer Weise sichtbar, daß jede Fernsehautorität zu spießiger Nachbarschaftlichkeit verkommt. Helmut Kohl wird zum Big Nachbar.

Sollten einmal andere, richtige Großstädte ein solches Programm bekommen, wird Entsprechendes passieren: Ohnsorg-Missingsch in Hamburg (nicht die liebenswerte Donald-Duck-Welt des „Hamburger Abendblatt“), 365 Tage Karneval und Tünnes un Schäl in Köln, neueste Ekligkeiten mit Schnauze in Balin. Nachbarn auf allen Kanälen und Big Nachbar is watching you.