PROLOG
Daß Boys aussehen wie Girls und Julie Driscoll wie ein Boy, kennen wir. Woher? Aus Swinging London natürlich. Und Swinging London war nicht Hippie-San-Francisco, wo man vielleicht gelegentlich mit Trans-Love-Airways hinjettete. Nein, Swinging London war genauso offensiv, humorig und unernst wie London 77, swinging eben. Wie „Karma Chameleon“.
DAS EI
1973 war die Kiff-Kultur-in-Kneipe in Hamburg „Das Ei“. Ich war eigentlich jedes Wochenende da und hatte mich mit dem DJ angefreundet, der damals so alt war wie ich heute und mit dem meine Freunde und ich Platten tauschten. Man tanzte damals ernsthaft zu „One More Saturday Night“ oder „Casey Jones“ („Drivin that train / high on cocaine“) von Grateful Dead. Alles war sehr weich, fließend, natürlich oft einfach schlapp und öde, aber auch anmutig und swingend. Zu den Attraktionen des „Ei“ gehörte ein großgewachsenes, gutaussehendes Wesen mit langen, blonden Haaren. Es trug einen sehr weiten Pullover und seine Stimme war geschlechtsunspezifisch. Mal nachzufühlen, ob Junge oder Mädchen, wäre damals uncool gewesen. Das Geheimnis blieb bestehen bis der Laden vom Rauschgiftdezernat geschlossen wurde. 1974 ging man schon wieder woanders hin. Keiner hat dieses Wesen je wieder gesehen.
DER FAN
Naturgemäß ist niemand mit den Geheimnissen, Mikroattraktionen, Strategien, Wirkungsweisen eines Stars so vertraut wie der Fan. Ich habe es mir neuerdings zur Arbeitsmethode gemacht, zu Interviews mit Stars einen Fan mitzunehmen, der immer mehr sieht, als ich sehe. In diesem Fall war es ein professioneller Fan, jemand, der sich, von Kindesbeinen an Fan, in vielen Jahren der Erforschung und des Kontaktes mit Stars, vom naiven zum bewußten Fan entwickelt hat und zur Zeit Boy George favorisiert, den Star des Jahres 1983.
DIE MUTTER
„Ich bewundere meine Mutter. Früher war sie von ihrer Arbeit und ihrem Haushalt furchtbar unter Druck gehalten worden. Heute sieht man erst, was in ihr steckt.“ (Boy George) „Don’t say you didn’t hear us calling / you’ll be sorry in the morning / when we tell you / Mama had tears in her eyes / She’s the only one who never cries“ (Culture Club: „That’s The Way“)
DER MANN
„Sie trinken Bier, sehen Fußball und schlagen ihre Frauen. Ein männlicher Mann und eine extrem weibliche Tunte sind das schlimmste, was es gibt. Ich hasse Skinheads.“ (Boy George) „On the streets they’re preaching violence / Mr. Man, it’s in your head“ (Culture Club: „Mister Man“)
BOY GEORGE I
„Ain’t it obvious / I’m just a man like you“ und „I’m a man who doesn’t know / how to sell a contradiction“ (Bekannte Zitate aus der neuen LP) „I’m a man of constant sorrow“ (Bob Dylan)
BOY GEORGE II
Die Düsseldorfer Philipshalle. Ein ziemlich leeres Verwaltungszimmer. Boy George trifft ein, in der Hand eine Flasche Diätorangensaft. Seine Hände, entweder zu schwach oder zu feucht, mühen sich hilflos bei dem Versuch sie zu öffnen. Seine Schminke ist, laut Fan, eine notdürftige Zehn-Minuten-Schminke. Er ist wesentlich größer als ihn jede Bühnendekoration oder Fotokulisse zu verkaufen sucht, mindestens 1,85. Er ist wesentlich männlicher, als ihn jedes Foto zu verkaufen sucht. Man nimmt ihn nicht in den Arm, man läßt sich von ihm in den Arm nehmen. Er ist jetzt weder Puppe noch Pinocchio. Er trägt unter seinem Gewand einen Polyacryl-Pullover. Er hat sich noch nicht rasiert. Unter der Schminke ist ein leichter grauer Schatten am Kinn zu erkennen. Er ist ein Mann.
SEX I
„Nichts ist scheußlicher als totale Permission. Ich denke dabei an L.A., wo nur gefickt wird und nichts dabei empfunden, wo es nur um dieses Gehn-wir-zu-dir-oder-zu-mir-Spiel geht. Ich habe durchaus eine puritanische Ader. Ich bin für Liebe und jeder, der leugnet, daß jeder sich irgendwann verlieben muß, hat ein krankes Lebenskonzept. Der lügt. Und sich verlieben, heißt Verantwortung übernehmen“, sagt Boy George.
IST BOY GEORGE EIN MODERNER MENSCH?
Der moderne Mensch für Arme ist George Michael von der Gruppe Wham! (obwohl er trotzdem gut ist). Der unmodernste Mensch ist Mick Jagger. Malcolm McLaren könnte der moderne Mensch sein, aber er ist erstens zu bewußt und zweitens nichts anderes als ein 68er, der seinen Verstand nicht verloren hat. Boy George, der Mann der Gefühle, der großen schönen alten Werte, der Clown, Verkleidungskünstler, Exzentriker in alter britischer Tradition und Leser von Camp-Fotobänden müßte eigentlich als klassische, zeitlose Boheme-Erscheinung unter extrem altmodisch (und dabei noch Modernität vorgebend) abgeheftet werden. Aber machen wir uns klar, daß die modernsten Menschen nach wie vor Gertrude Stein (1874-1946) und Andy Warhol sind, daß weiterhin der Star Boy George, der eine Erfindung des Menschen George O’Dowd ist, vollkommen neu ist. Zunächst ist der Verführer, der ohne Ziel verführt, nur um des Verführens willen, eine verdammt moderne Figur und Boy George ist ein solcher Verführer, es geht ihm unentwegt und einzig und allein darum, Menschen in sich verliebt zu machen. Mit Erfolg. Der einzige andere Pop-Star, der in bestimmten Phasen seiner Karriere dieses Ziel verfolgte, ist Bowie. Zum anderen ist Boy George ein Kinderverführer. Er gibt den kurz vor erster, früher Reife befindlichen Kindern den entscheidenden sanften Stoß in das Wasser des aktiven Liebeslebens. Er übernimmt die Funktion der Mädchenbücher mit dem Unterschied, daß er zum Handeln rät.
IST ER DENN EIN AUFKLÄRER?
Natürlich nicht. Aufklärung ist ein altes sozialdemokratisches Projekt zum Zwecke der Limitierung des originellen Denkens auf ein limitiertes PROBLEMBEWUSSTSEIN. Boy George ist kein Biologiebuch, er ist ein Aphrodisiakum.
DIE FRAU
„Frauen sind eindeutig besser als Männer. Frauen können sich in Männer hineinversetzen, umgekehrt geht das nicht. Frauen sind weiser. Sie haben eine breitere Palette von Emotionen.“
MUSIK I
„Viele Musiker haben Angst, bestimmte Stile zu verwenden oder zu übernehmen, weil sie fürchten, unglaubwürdig zu wirken. Das finde ich falsch. Der Irrtum ist, zu glauben, daß es irgendetwas Eigenes oder Neues in der Musik geben könnte. Musik ist eine sehr traditionelle Angelegenheit, alles ist schon dagewesen, außer vielleicht Stockhausen und Philip Glass und so’n Zeugs, aber nicht einmal das ist heute noch neu.“ Er hat sich vom Image-Künstler zum Song-Writer entwickelt. „Die Musik ist für mich viel wichtiger geworden als sie es am Anfang war. Ich wußte nichts über Musik. Ich habe unseren Bassisten damals per Anzeige kennengelernt und er fragte mich, was er spielen sollte. Jon (Moss, der Drummer) war auch dabei. Wir sahen uns ratlos an. ‚Spiel irgendetwas!‘ Es hat dann geklappt, wir haben uns verstanden. Im Laufe der Zeit habe ich irgendwann die Struktur des Songs begriffen. Heute bin ich soweit, einen einerseits so einfachen, andererseits so komplizierten Song wie ‚Karma Chameleon‘ zu schreiben. (…) Da ist Crosby, Stills & Nash drin, Beach Boys, Country & Western und trotzdem ist es ein Song. Ein altmodisches Lagerfeuer-Lied.“
AMERIKA
Culture Club handeln wie die Beatles. Sie nehmen den Amerikanern ihre besten Traditionen, veredeln sie zu sophisticated Amalgampop und schenken sie ihnen zurück. „Ich glaube nicht. Ich mußte nicht nach Amerika, um Gospel zu hören. Ich habe früher, als ich noch in Birmingham lebte, jeden Sonntag den schwarzen Gottesdienst besucht. Das war wunderbar. In den USA habe ich nicht einen Ton Gospel gehört. Nur Country & Western und Bruce Springsteen. Die Amerikaner haben keine Kultur. Deswegen haben sie auch Schwierigkeiten mit unserem Outfit gehabt. Sie konnten es in keine Kategorie einordnen. In jedem europäischen Kulturvolk gibt es eine Tradition des Exzentrischen, besonders in England. Die Amerikaner brauchen ihre Kategorien, ihre Pole. Als unsere erste Platte herauskam, dachten sie, wir wären schwarz, weil wir Soul haben. Dann fanden sie heraus, daß wir weiß sind. Und dann, daß wir etwas seltsam aussahen.“
MELTING POT
„What we need ist a great big Melting Pot“ (Blue Mink) Culture Club spielen dieses Stück als Zugabe. Und als Manifest. Boy George sieht auf der Bühne wieder wie ein Puppe aus, etwas seltsam dimensioniert, mit seinem unförmigen Uncle-Sam-Outfit. Wir sehen weniger Boy Georges und Girl Georges als vor einem Jahr in Hamburg, und nicht so gute. Dafür rührende Fans, die mit Szene und Subkultur nichts am Hut haben. Dicke Männer mit Bauarbeiter-Armen, die ihre Töchter hochheben. Und dann am Schluß fallen sie alle in „Melting Pot“ ein, das Lied, das sie fast alle heute abend zum ersten Mal hören. Und sie verschmelzen mit, noch eine Kultur, die miteingeschmolzen wird, vom Kulturenclub, aber besser, Kulturenkirche. Bei Liedern wie „Victims“ lappte die Veranstaltung voll ins Kindergottesdienst-mäßige. Mit dem Unterschied, das diese Kinder glauben. Bewegend.
SEX II
Ist Boy George nun schwul oder nicht? Daß er mit Kirk Brandon liiert war, steht so gut wie fest. Daß vor ihm bereits Lou Reed, David Bowie und andere ursprünglich schwule Pop-Stars im Laufe ihrer Karriere auf die andere Seite wechselten ebenfalls. David Bowie beispielsweise verkehrte in einem Berliner Schwulencafé, wo man ihn nicht nur wegen seiner Berühmtheit gerne sah, sondern auch wegen seines Renommees als berühmter Bekenner. Als er jedoch wieder und wieder, mit immer größeren Zahlen von Mädchen zum Frühstück erschien, faßte sich die couragierte und engagierte Geschäftsleitung ein Herz und setzte den prominenten Gast vor die Tür. Boy George selber sagt von sich, er sei bisexuell und warum soll man ihm sein auf Musik bezogenes Credo („I enjoy everything, so why not do everything“) nicht auch als libidinöses Credo abnehmen. Eindeutig schwul und campy ist jedoch die Galerie seiner Helden: Oscar Wilde, Tallulah Bankhead, Quentin Crisp und (of all people) Montgomery Clift.
JEMAND DER BOY GEORGE NICHT MAG
sagt: „Culture Club sind einfach zu süß. Das ist wie weiße Schokolade. Man beißt rein und es schmeckt auch wirklich sehr gut, aber dann, wenn man noch ein Stück genommen hat, wird es einem zu süß und man muß kotzen.“
EIN UNFALL
Während sich im Inneren des Hotel Ramada die Grotesken abspielen, die sich in allen Hotels der Welt abspielen, wo Manager sich fern der Heimat betrinken, warten vor dem Hotel ein paar Verehrerinnen mit Autogrammbuch auf Mr. O’Dowd. Der Bus trifft ein. George, noch im Bühnenkostüm, geht, wie es seine Art ist, auf seine Freundinnen zu und will ihnen den Gefallen, den bescheidenen, den er gewohnt ist zu gewähren, gerne tun. Da schießt plötzlich eine Furie aus dem Dunkeln auf den 1,85-m-Mann, wirft ihn nieder, wobei beide gegen den kleinen Brunnen vor dem Hotel knallen. Fast wären sie hineingefallen, hätte nicht ein umsichtiger Virgin-Mann den Boy von hinten gestützt. Zu fünft versuchen Helfer die Furie von ihrem Star zu trennen. Doch die schreit nur immer wieder: „Ich hab ihn angefaßt, ich hab ihn angefaßt.“ Als sie schließlich doch getrennt werden, verprügeln die anderen Mädchen, denen ein vom Schock gezeichneter Boy George nun keine Autogramme mehr gibt, ihre Konkurrentin mit ihren Poesiealben.
BOY MARILYN
Georges alter Freund Marilyn ist jetzt bei Phonogram untergekommen. Auch er, einer von denen, die wie ein Madl ausschaun. „Ich mag den Typ sehr gerne, aber ich mag sein Image nicht, ich möchte nicht, daß es einen Schatten von mir gibt.“
IST CULTURE CLUB EINE MODERNE BAND?
Es war vor ein bis zwei Jahren eine neue und damit moderne Erkenntnis, daß es bei Pop-Musik immer nur um Sekundär-Musik geht, Musik, die sich auf Aktuelles, andere Musik, Image, Ideologie, Außermusikalisches bezieht. Die folglich alles darf, was man früher als „trendy“, „geklaut“ und so weiter indiziert hatte. Culture Club ist die Band, die das tut, was Pop-Bands schon immer getan haben: Klauen, sich auf Außermusikalisches beziehen, Image-Kunst betreiben etc. Nur sind sie die ersten, die es in diesem Maße bewußt und offensiv tun, und sie sind die ersten, an denen man überprüfen kann, was aus einer Band wird, die so bewußt Pop zu fabrizieren begonnen hat: Sie wird ungeheuer musikalisch. Boy George: „My mind works so fast anyway.“
1984
Boy George, gut geschminkt, mit Appetit essend, in der Hotelbar. Ein Mann von Popcorn und meine Wenigkeit haben uns gerade mit ihm unterhalten. Der Mann vom Popcorn: „Am Schluß habe ich noch eine Bitte: Könntest du uns eine Zeichnung machen? ‚1984‘ mit den Ziffern von dem LP-Cover?“ – „Warum 1984?“ – „Because it’s coming!“ (besorgt, kritischer ’s-ist-verdammt-Scheiße-Unterton) – „Häh? Das ist nicht meine Art, die Dinge zu sehen.“ Boy George lächelt ein japanisches Lächeln. Emsig wie ein kleiner Junge macht er eine kleine Zeichnung und schreibt irgendetwas in der Preislage von „Genieße 1984 mit einer Platte von Culture Club!“
KONSUM
„Ich bin der totale Medienkonsument. Ich nehme so viel auf, wie ich kriegen kann.“ Ja, was denn? Lesen, so erfahren wir, tut er nicht viel. Wenn überhaupt, dann Biographien. Im Fernsehen hat er am liebsten Dokumentationen. Neulich sah er mit großem Interesse eine über die Beziehungen von Männern untereinander, nicht im sexuellen Sinne, ganz allgemein, sein Lieblingsthema ist es sowieso. Weiterhin geht er gern ins Kino, besonders gefallen hat ihm ein Film über das Leben von Quentin Crisp, sowie Am Anfang war das Feuer. Also schon wieder: Ethno- und Soziologie und die Geschichte des Exzentrischen. Verhalten, Liebe und verrückte Klamotten. Doch nicht modern, Boy George? Bullshit, wen interessieren Inhalte!
ZUKUNFT
„Ich glaube nicht, daß mein Erfolg mein Recht ist. Ich glaube, daß ich dafür arbeiten muß. Wenn ich nicht arbeite, bin ich auch nicht gut. Da ich nicht vorhabe, in fünf Jahren arbeitslos zu sein, kümmere ich mich darum, daß Culture Club langfristiger existieren kann. (…) Wir führen vollkommen getrennte Leben und wenn wir nicht gerade Platten aufnehmen oder eine Tournee vorbereiten, sehen wir uns nie. (…) Ich möchte Talente aufnehmen und fördern, wie Helen.“ Es ist spät geworden. Boy George beginnt zu krächzen. Wie singt er doch in „Miss Me Blind“:
ER KRIEGT DAS LETZTE WORT
„I’m better than the rest of the men.“ Aber er meint nicht sich. Es ist wieder nur eines dieser Männer-Verhaltens-Szenarios.
ABER JETZT:
„The space between your eyes / is a place for heroes / that never compromise“ („Changing Every Day“)