Breakfast For Children – Produktive Mißverständnisse – Woodstock

„Breakfast For Children“ war eine Aktion der Black Panther Party. Als das vordringliche Problem in den Ghettos betrachtete man die (damals verglichen mit heute geringen) Anzeichen von Unterernährung von Kindern. Während also in den späten Sechzigern die Black Panther Party in den amerikanischen Medien als wüste mörderische Gewalttäter dargestellt wurden, was dazu beitrug, daß der veritable Vernichtungsfeldzug, den das FBI gegen die Black Panthers führte, inklusive einiger staatlich organisierter Morde, schließlich zum Erfolg führte (gegen den der Erfolg der Springer-Hetze gegen Dutschke und den SDS harmlos war), war tatsächlich das Hauptgeschäft der Organisation die Bereitstellung von Küchen für arme Familien und eine auf Kinder zugeschnittene Ernährungsoffensive. Freilich war der Zuspruch, die Sympathie, die Unterstützungsbereitschaft, die den Black Panthern von weißen subkulturellen Jugendlichen entgegenschlug, nicht zu gewinnen gewesen mit solchen Community-orientierten, karitativen Selbsthilfemaßnahmen. Gerade die Dämonisierung der Black Panther durch die Medien der weißen Mittelklasse half, deren Kinder für die Party zu begeistern. Das falsche, propagandistisch verzerrte Bild der Panther war die Grundlage sowohl für den Enthusiasmus mitteleuropäischer Intellektueller, wie etwa Michelangelo Antonioni in seinem Film Zabriskie Point, wie für die Gründung einer „White Panther Party“ in Detroit rund um die Band MC5, wie auch für die Gründung einer Black Panther Unterstützungs-Organisation rund um die Welt bis nach Frankfurt. Ein produktives Mißverständnis, if there ever was one. Und es war tatsächlich ein Frühstück für Kinder. In einem höheren Sinne versteht man unter welt-segregationistischen Bedingungen und Image-gestützten Massenkommunikationskanälen im globalen Zusammenhang nur dann etwas, wenn man es falsch richtig versteht. Es geht mir hier um soziale und rassistisch begründete Klüfte, über die hinweg jemand etwas Verschiedenes für das Gleiche hält. Und so die Kluft bejaht und verneint. Produktive Mißverständnisse sind auf der Ebene von Massenkommunikation das, was auf der Ebene von Kulturproduktion unter kulturindustriellen und kapitalistischen Bedingungen Trash ist: unbeabsichtigte wahre (Arbeits-)Spuren falscher Prozesse im Material oder im Medium.

Zu den produktiven Mißverständnissen gehört die neue Globalität des Medienzeitalters und seiner spezifischen Mischung aus Imperialismus und Segregation. Mit dieser Globalität ist es eine besonders vertrackte Angelegenheit, sie ist nämlich einerseits sowohl Voraussetzung der Produktivität des Mißverständnisses, andererseits auch gleichzeitig sein Resultat. Es ist allgemein üblich geworden, von der geschrumpften Welt und dem globalen Dorf zu reden. In Wirklichkeit hat diese Globalität aber nur wenige Lebensbereiche erfaßt, einer davon ist der karitative. Wer hat keine Eltern, die ein Kind von „World Vision“ adoptiert haben? Der andere betrifft eine Tendenz der Unterhaltungsindustrie und des Tourismus, aber nur eine Tendenz. In all diesen Fällen aber stellt das Mißverständnis tatsächlich Globalität her, eine Wechselwirkung also. Aber um das zu tun, muß es erst einmal in sich Globalität mißverstehen, im Sinne von Utopie oder im Sinne einer gegebenen falschen Internationalität, wie sie heute speziell in der Kunst, aber ganz allgemein in der Kultur in dem Maße herrscht, in dem sie an Börsenverhältnisse angeschlossen ist. Ich muß auch dafür also falsch an Internationalität glauben, um Internationalität herzustellen, die richtig werden kann, weil sie sich selbst, ihren Kern, der ein Mißverständnis ist, auch als solches versteht. Das folgenreichste und gleichzeitig in mancher Hinsicht lehrreichste dieser produktiven Mißverständnisse, die unter Bedingungen von weltumspannender, kulturindustrieller Dominanz möglich sind, ist die Identifikation mit anderer Leute Gefühle. Das geht einen Schritt weiter als die Bewunderung anderer Leute Landschaft oder die Sättigung anderer Leute Kinder. Aber es ist kein Wunder, daß diese Projektionen die Kultur der Kinder der Leute bestimmt, die vorher anderer Leute Landschaft oder Kinder „entdeckt“ hatten. (Daß es so etwas wie andere Leute überhaupt gibt, wollen christlich empfindende Menschen ja ungern wahrhaben, was nichts daran ändert, daß sie die entscheidenden Unterscheidungen, unter dem Vorwand, sie abschaffen zu wollen, zu missionieren, in die Welt gesetzt haben.)

Ich weiß nicht, wer alt genug ist, um 1970, als er in Deutschland uraufgeführt wurde, noch vom Woodstock-Film ergriffen worden zu sein, wie unsereins und Millionen andere in ihrem zarten Alter. Vielleicht hat jemand die Reruns gesehen, ’89, als Woodstock sein zwanzigjähriges feierte. Es erscheint mir sinnvoll, in diesem Zusammenhang von Woodstock zu reden, zum einen wegen der produktiven Mißverständnisse, die aus einem Festival einen Film plus fünf Schallplatten Soundtrack, aus dem Film einen sogenannten Mythos, aus dem Mythos noch spezieller den Mythos einer „Nation“ werden ließen, zum anderen, weil „Woodstock“ Kern des Mythos der Sixties ist – ein Grund sowohl sie zu begehren, wie sie abzulehnen, wie auch nach alternativen Sixties zu suchen –, die Sixties aber wiederum ein besonders prägnanter Sonderfall des produktiven Mißverständnisses sind. Ihr Revival in den Achtzigern ist nicht nur wie sonst beim produktiven Mißverständnis die Begegnung mit etwas Anderem, Fremden oder Entfernten, das man mißverstehend für seine eigenen Zwecke nutzt, es ist darüber hinaus eine Begegnung mit einem noch ungeklärten Mißverständnis der Vergangenheit.

Viel wurde von den Freunden symbolischer Akte über Hendrix’ Version der amerikanischen Nationalhymne geredet, von Gitarrenwichsern über Alvin Lees nicht enden wollendes „Going Home“ und von Carlos Santana, von Hippies über Canned Heats Hymne auf das Landleben etc. Viel ist auch gejammert worden über die Kommerzialisierung, daß letztendlich die vom Diktat des Tauschwerts befreite freie Kommunikation in der neuen Nation wieder nur, und zwar symbolisch an diesem Ort zum ersten Mal, neue Tauschwerte hervorzubringen geholfen habe, eben alles nicht echt, sondern Geschäft gewesen sei. Daß sich der Mythos von Woodstock im Blut von Altamont spiegele, daß die neue Gesellschaft sehr viel Müll hinterlassen hätte. Wie jeder mächtige Mythos steht „Woodstock“ genauso für etwas wie für dessen Gegenteil.

Das alles ist sehr offensichtlich und auch bestimmt nicht die ganze Wahrheit. Wenn über eine Sache so viel geredet worden ist, daß sie mythentauglich ist, und anschließend durch ihre mythologische Patina auch gegen weitere Auslegungen prinzipiell immun ist, geht man davon aus, daß man irgendwann über sie schweigen kann, doch das Gegenteil ist wahr: Es gehört zu den Geheimnissen von Wirkung, daß sie nur über Verfälschung und Ausblendung möglich ist. Jeder kann alle möglichen Bücher lesen und entdecken, Platten hören und Filme ansehen. Doch wenn sich diese Einzelentscheidungen zu dem auswachsen, was man eine Rezeption nennt, ist diese Freiheit vorbei, man ist automatisch in eine Selektion verwickelt, die andere vorher vorgenommen haben; selbst wenn man dieser bewußt entgegenwirkt, versucht, einen anderen Goethe, Brecht oder John Coltrane zu konstruieren – denn was einem immer entgeht, ist das, was durch die Betonung eines Aspekts weder positiv noch negativ aufgehoben ist, sondern was zur Seite geschoben wird. All dies spielt lange bevor etwas mythisch wird und ist auch in diesem Stadium rekonstruierbar und beobachtbar. In diesen Stufen der Genese eines Mythos – Vorgang wird zum Ereignis, Ereignis wird zum Text, Text wird zum Mythos – könnte klar werden, wie man die produktive Seite der fundamentalen Mißverständnisse isolieren und nutzen kann, indem man sie nämlich von dem trennt, das auf ihnen errichtet wurde – in der Hoffnung, auf diese Weise zeitgenössische Mißverständnisse explosiver nutzen zu können, auch ein wenig in der Annahme, daß dergleichen hier und dort schon geschieht, wenn auch ohne ein sich selbst klares Bewußtsein davon (das u. U. auch ein Hindernis sein kann; es könnte sein, daß man die Struktur des Mißverständnisses unumgänglich findet, nur nicht die darauf errichteten Verfestigungen).

Nun ist es zu einfach, zu denken, genau dieses von Anfang an unterschlagene Moment eines Textes – Text im weitesten Sinne, bis auch Woodstock nur noch ein Text ist – sei sozusagen dessen Wahrheit. Das nimmt dann ein Subjekt der Verdrängung an, wie eine der psychoanalytischen Instanzen, das ein Interesse am Verschwinden von bestimmten Bedeutungen hat, „böse“, „verlogene“ Interessen. Wenn das aber so wäre, wenn es ein vitales Unterdrückungsinteresse von einer Seite aus gäbe, dann gäbe es ja auch die Vitalität des anderen, des zu Unterdrückenden, Totzuschweigenden. Denn, wenn das nicht vital wäre, wozu müßte man es unterdrücken? Und schließlich lebt die Psychoanalyse wie auch jede Machtphilosophie davon, daß der Knecht, das Unbewußte nie verschwindet, sondern zurückkehrt. Die verschwundenen Bedeutungen, von denen ich hier rede, kehren aber nicht wieder oder drücken aufs Gewissen, um sich eines Tages zu erheben, sie werden eher abgelenkt, in eine andere Richtung: Der Mythos schleppt sie nicht mit sich herum, sondern hat sich ihrer tatsächlich entledigt; was wie eine Wiederkehr aussehen könnte, ist eher wie das unberechenbare Wiederauftauchen eines Kometen. Vielleicht liegt die Lösung eher in der großzügig eingeschobenen Parenthese: „Text im weitesten Sinne, bis auch Woodstock ein Text wird.“ Was soll das eigentlich heißen? Weder kann ein Film in dem Sinne nur ein Text sein, auch wenn manch Filmsemiotiker sich das so vorstellt, geschweige denn kann es das Ereignis Woodstock, vom 13. bis zum 15. August 1969 sein. Text ist allenfalls ein späteres Stadium auf dem Wege zum Mythos. Dieser konnte erst entstehen, nachdem es einen Text schon gab. Wir haben also nicht zu fragen, was ist wahr und falsch am Mythos von Woodstock oder ob wir für oder gegen die Aussage dieses Mythos sind, sondern was ist in den, dem Mythos Woodstock zugrunde liegenden Text gar nicht erst eingegangen. Und diese Frage darf sich wiederum nicht als Suche nach einer ausgegrenzten Wahrheit aufführen, sondern als Suche nach einem unverständlichen Bestandteil, der sozusagen der „Grammatik“ des ersten Textes widersprach. Dieser „Widerspruch gegen die Grammatik“ ist das sozusagen „wahre“ Element des Mißverständnisses, der Widerstand gegen eine Nivellierung, die, herausgearbeitet, die eigentliche Brisanz einer Kommunikation oder Konfrontation enthält, die in jedem Sinne zur Bildung vom Mythos geführt hat.

Es gibt drei Beiträge zu „Woodstock“, die auf verschiedene Weise schon mit der allerersten Version eines Woodstock-Textes nicht kompatibel gewesen zu sein schienen. Die nicht verstanden werden konnten und durften, um dem Mißverständnis die Form des Mythos geben zu können, die aber andererseits auf Verhältnisse verweisen, die in allen produktiven Mißverständnissen der Pop-Kultur herrschen. Und die – da könnte dann vielleicht doch eine psychoanalytische Redeweise berechtigt sein – plötzlich wiederkehren als nun manifestes Muster der heutigen Pop-Kommunikation über Grenzen hinweg.

Es sind dies 1.) der Auftritt von Sha Na Na im Woodstock-Film, 2.) der nicht sichtbare Auftritt von Grateful Dead und 3.) der Song „Freedom“ von Richie Havens.

Als ich 1970 zum erstenmal Woodstock sah, gab es schon den Begriff der „Woodstock“-Nation, er war in der knappen Zeit, die Regisseur Michael Wadleigh für den Schnitt des Materials und die deutsche Verleihfirma für die Untertitelung brauchte, entstanden, auch die Kritik der Kommerzialisierung stand schon in der Sounds-Rezension von 1970. Joni Mitchells Song „Woodstock“, der die Zeile enthielt „… by the time we got to Woodstock, we were half a million strong …“, war bereits in einer Coverversion in den deutschen Charts; nämlich von der heute vergessenen Band Matthews Southern Comfort (die lustigerweise Vorgruppe von Johnny Winter im ersten Live-Konzert meines Lebens im Februar 1971 war, also die erste Band, die ich je live gesehen habe). Es war also schon klar, daß ein Volk seinen Staat gegründet hatte. Was nicht nur wichtig war für jenes Jugendmarketing, das in den Siebzigern so erfolgreich werden sollte und das – analog zu den ethnischen Minderheiten der USA – den Begriff der Nation gut als Vorstellung brauchen konnte, es war auch wichtig für diverse andere Jugendnations, die seitdem gegründet wurden: Das staatengründende Moment war Jugendbewegungen vorher eher fremd. Da man Pop-Musik immer nur über ihre Nebenprodukte versteht, ihr Reiz, aber auch ihre Bedeutung immer wieder nicht da sind, wo man sie als Hermeneutiker sucht, noch ein Hinweis auf den Ort des Woodstock-Soundtracks, wo dieses staatengründende Element gespeichert ist. Man frage irgend jemanden, der seinerzeit diesen Soundtrack häufiger gehört, an was er sich noch so gut erinnern kann, daß er es noch reproduzieren könne: Kaum jemand wird irgendwelche Songs nennen (außer „Freedom“, auf den wir noch kommen), sondern die langen Ansagen zwischen den Auftritten auswendig können, etwa: „Friends, you have seen the heavy groups, now you’ll hear morning maniac music, believe me, it’s a new dawn.“ Oder: „I’m a farmer.“ Oder: „This is our second gig. This is the second time we’ve ever played in front of people, man. We’re scared shitless. This is a song that Neil wrote, it’s called ‚Sea Of Madness‘.“ Das waren die alternativen Churchill-Worte.

Der Film hatte die zu erwartende Wirkung auf den 13-Jährigen, nur eine Stelle konnte er nicht verstehen: die kaum zwei Minuten, als die Rock’n’Roll-Revival-Truppe Sha Na Na auftrat, die allem zu widersprechen schien, was er durch alle anderen Gruppen gelernt hatte. Sha Na Na bestanden zum größten Teil aus Tänzern, kaum Instrumentalisten und – skandalösestes Moment der Täuschung: waren kostümiert. Die erste für jedes Kind spürbare Errungenschaft der Hippie-Bewegung war ja, daß man bequeme, formlose Kleidung aus Jeans- und Cordstoff trug. Ihr Auftritt war penibel choreographiert wie ein Fernsehballett oder Eiskunstlauf, die beiden erzspießigsten Gattungen der Fernsehunterhaltung. Die Differenz von Camp zu den Unterhaltungssendungen des deutschen Fernsehens konnte nicht nur ich damals nicht wahrnehmen. Damals gab es für alles Gestaltete, Einstudierte und daher nicht Authentische den Begriff „kommerziell“, der das Gegenüber von „progressiv“ bildete. Was diese naive Kritik der Warenförmigkeit als deren Charakteristikum ausgemacht hatte, eben Geformtheit, konnte noch nicht ahnen, daß die Formlosigkeit – in gewissen Grenzen – auch Warenform annehmen konnte und war dementsprechend unvorbereitet gegenüber der Camp-Haltung, die Sha Na Na vertrat und die bereits eine Kritik der naiven Kritik der Warenförmigkeit mitzuvertreten schien.

Fünfzehn Jahre später sah ich Woodstock wieder. In der Zwischenzeit hatte es Glam-Rock, die Anerkennung der Künstlichkeit, Negation der Identität, die als Prinzip der Macht erkannt worden war, sowie den Einfluß von Disco- und Schwulen-Kultur gegeben, stattdessen war der Kultus des Unfestgelegten, des Wabernden, Wallenden, Unkonturierten, symbolisiert von ungestylten, endlos Gitarre spielenden Hippies, zum Feindbild geworden, nun war der Auftritt von Sha Na Na der einzige, der mir gefiel. Damals hoffnungslos zwischen das erste, vergleichsweise schwache Rock’n’Roll-Revival, die ersten schüchternen Anfänge von Gay Pride und zugehöriger Culture, zwischen die noch nicht so benannte Nostalgie-Welle und deren Aufstieg in Form von Roxy Music, Bisexualismus-Mode, Postmoderne gefallen, bildeten sie eine so verwirrende Störung, daß ich damals, beim ersten Sehen, längere Gespräche führte über das, was mich da so verwirrt hatte, als über die restlichen begeisternden zweieinhalb Stunden. Ebenso erleichternd und erholsam waren die zwei Minuten Sha Na Na beim Wiedersehen um 1984. Dennoch sind sie in 17 Büchern über die Sixties nicht im Register zu finden, und im vollständigsten Rock-Schallplattenverzeichnis deutscher Sprache fehlen sie ebenfalls. Es war, als hätten sich die Village People unter die Wandervögel verirrt. Es dauerte bis 1973, Roxy Music waren schon bei der zweiten LP, bis ihnen schließlich Sounds attestierte: „Shananas (Woodstock) Auftritt war kurz aber nachdrücklich. Sie avancierten vom Geheimtip zum Trendsetter der anrollenden Nostalgiewelle. (…) Shanana stecken Fumble, Gary Glitter etc. allemal in den Sack. (…) Es fehlt eigentlich nur ihre Bühnenshow, ein Plattencover ist da ein etwas schwacher Ersatz (die Zeit ist reif für die Audio-Video-Platte).“1 Waren sie am Ende etwa wegen der Wahrnehmung, die dieser letzten Bemerkung zugrunde lag, im Woodstock-Film, in den sie nicht hineinpaßten, gelandet? Weil sie zehn Jahre vor dem ersten Pop-Video und ohne die Chance, über ausgeprägte visuelle Aspekte Erfolg zu haben, ein ausgesprochen visuelles Konzept von Popmusik vertraten, das deswegen in den Film gehörte, der der erfolgreichste Musikfilm werden sollte (diesseits von Saturday Night Fever, der dann auf dem Höhepunkt des Paradigmenwechsels herauskommt), so daß das Mediengesetz, das Auge des Kameramanns stärker war, ja die Kamera ohne Mann, als die inhaltlichen Unvereinbarkeiten? Ja, stellte möglicherweise dieser Zwang, der von ihrer visuellen Präsenz ausging, den „Woodstock“-Hippies vorab mit Geburts- auch den Totenschein aus, in dem dann zu lesen gewesen wäre, daß eine auf Anarchie und Prozessualität setzende Bewegung, wenn sie sich auf massenhafte Verbreitung von Bildern ihrer Prozesse einläßt, keine Chance gegen die Prägnanz des Geplanten hätte? Und ist daraus vielleicht dieses Gesetz abzuleiten: daß sozusagen der medienhistorisch nächste Schritt immer schon aufscheint, wenn die letzte Situation zur Proklamation von Staaten sich endlich geeignet zeigt? Und werden diese Staaten nur ausgerufen als sozusagen Kapitulationserklärungen in einem höheren Sinne, die Unterlegenheit gegen die Eigengesetzlichkeit der Mediengeschichte wie der Warenform zugebend? Oder greift man zum Staatspathos, weil man die Unterlegenheit ahnt und ihr etwas entgegensetzen können will?

Beim nächsten Beispiel geht es weniger darum, die unpassende Anwesenheit, sondern die Abwesenheit von Künstlern im Woodstock-Film zu klären. 1971/72 spielten die Grateful Dead zum ersten Mal in Europa. In allem, was Woodstock propagierte, waren sie kompetenter, kompletter, radikaler als alle Woodstock-Bands, zumindestens alle, die man in dem Film sehen konnte. Ihre Gitarrensoli waren länger. Und es waren keine Soli, sondern sogenannte Kollektivimprovisationen, wie man sie aus dem Free Jazz, nicht nur als ästhetische Errungenschaft, sondern auch als Metapher einer sozialen Utopie kannte. Die auf Jazz gegen ihren Erfinder übertragene adornitische Vorstellung von musikalischen Formen als gesellschaftlichem (utopischem) Modell lebte bei den Dead-Fans fort. Die Dead lebten wirklich alle zusammen und taten nicht nur so, sie kamen mit ihrer ganzen knapp hundert Köpfe zählenden Kommune nach Europa, sie spielten wirklich endlos, sie trugen den „Geist“ überall hin, statt ihn mit Voraussetzungen wie 500.000 Zuschauern zu verbinden. Es wird berichtet, daß sie nach endlosen Konzerten, die aufgrund äußerer Beschränkungen nach fünf Stunden enden mußten, aufgebrochen seien und noch in der selben Nacht an anderem Ort weitergemacht hätten. Sie hatten das Prozessuale mehrfach über Warenförmigkeit siegen lassen und auf fahrenden Lastwagen gespielt. Sie standen mit einer selbstorganisierten Plattenfirma und drum herum organisierten Lebensmöglichkeiten für 100 Hippies in der ökonomischen Realität für das ein, was diversen Millionen Filmzuschauern Woodstock versprochen hatte. Nun waren Grateful Dead beim Woodstock-Festival aber aufgetreten, ja für viele der Zuschauer war das Konzert in erster Linie ein Grateful-Dead-Konzert mit diversen Nebenattraktionen. Schon damals hatten die Dead, wie noch heute, die mobilste Anhängerschaft, die mit- und nachreisenden Dead-Heads bildeten ein großes Kontingent schon innerhalb der Woodstock-Nation, und die Vermutung ist nicht ganz absurd, daß sie und die anderen von der Westcoast kommenden Bands und Fans Lebensformen und Selbstverständlichkeiten nach Woodstock im Staate New York brachten, die später die Kernaussage des Mythos bilden sollten. Daß die Dead nicht im Film zu sehen sind, obwohl sie seinerzeit sowas wie die Hauptattraktion der drei Tage waren, wird widersprüchlich erklärt. Hätten die Dead als bekanntes Phänomen alles überstrahlt? Bob Weir, einer ihrer Gitarristen, erklärt in einem Interview von 19902, Woodstock sei der schlechteste Gig gewesen, den die Band – die Zufälle und atmosphärische Bedingungen immer als Bestandteile von Konzerten angesehen hat – je gespielt hätte: „Die anderen Bands haben ihre Karriere auf Woodstock aufgebaut, wir sind trotz Woodstock berühmt.“ Die Dead konnten also nicht in dem Sinne die Dead sein, als sie sich in einer Situation befanden – die ja schon vorher als solche klar war –, wo ihre Aufhebung von Grenzen aller Art mythologisiert und fixiert werden sollte. Sie konnten nicht mehr als Dead funktionieren, wo sie tatsächlich getötet werden sollten, die Realität ihrer Praxis in einen Mythos überführt werden sollte. Die Dead waren die Wahrheit der Hippie-Mythologie, und sie haben diesen Namen, Hippie, sowohl als positiven Begriff wie als Schimpfwort überlebt. Woodstock aber konnte nicht „Woodstock“ werden, ohne die Dead herauszuschneiden – egal, von wem die Initiative ausgegangen ist. Interessant ist allenfalls, daß beim nachfolgenden Altamont-Festival – dem Gegenmythos zu Woodstock, der aber auch den Woodstock-Mythos erst vollendete, indem er erklärte, daß die „fremde“ Ordnungsmacht der Hells Angels die Hippie-Nation okkupiert hätte und damit dem keineswegs selbstverwalteten Woodstock-Festival im nachhinein seine utopischen Strukturen bescheinigte (wenn auch um den Preis der Unwiederbringlichkeit) – der damalige Manager der Grateful Dead für die Verpflichtung der Hells Angels als Ordnungsdienst mit allen Folgen verantwortlich war. Interessanter aber ist, daß Jerry Garcia den Grundimpuls zu nunmehr über 25 Jahren erfolgreicher, improvisierter Musik, die live immer besser gelungen ist als im Studio, einst beschrieb als die Entdeckung, daß nur das Medium Schallplatte Musik begrenze. Würde man sich von dem ewigen Gedanken an die Speicherung befreien, erhalte Musik ihre eigentlich immateriellen Eigenschaften zurück. Und es ist klar, daß die Dead in dem Moment versagen mußten, als sie in ein neues Medienformat3, das mit „Woodstock“ geboren wurde, eingehen sollten, den Medienverbund.

Der dritte Punkt ist die Rolle der schwarzen Kultur bei Woodstock, präsent im Film durch zwei Vertreter, die brillanten Sly & The Family Stone und durch Richie Havens: Jimi Hendrix, ein weiterer brillanter schwarzer Musiker, spielte in der schwarzen Kultur der USA damals keine besondere Rolle und war über sein englisches Exil zurück nach Amerika gekommen. Sly Stone gehörte neben Otis Redding und natürlich Hendrix zu den einzigen Künstlern der neueren schwarzen Musik der Sechziger, der regelmäßig auf Hippie-Festivals auftrat, was auch zu massiver Kritik von Seiten der Aktivisten geführt hatte. Doch während Sly und Jimi eindeutig ein Crossover zur Hippie-Kultur versuchten, stand Richie Havens für eine Kultur, die in der Hippie-Kultur außerhalb New Yorks wenig bekannt war, für die von Leuten wie den Last Poets, Cain oder Felipe Luciano vertretene Straßendichtung.4 Diese stark rhythmisierten Reime wurden meist nur von einer Conga begleitet und versuchten – ähnlich wie heute die afrozentrische Fraktion des Hip-Hop –, traditionell afroamerikanische Kommunikationsformen – wie die auf die westafrikanischen griots zurückgeführten Erzählgedichte5 – für die Politisierung im Sinne der revolutionären bzw. separatistischen Bewegungen der Sechziger zu nutzen. Havens verband diese Form des gesprochenen, rhythmisierten Agitationsgedichts mit gospel-beeinflußtem Gesang und trat vor den Leuten auf, die jemanden wie Cain6, einer der Stammväter dieser Bewegung, ausdrücklich als Publikum ausgeschlossen wissen wollten: Weiße. Havens’ Auftritt mit dem Lied „Freedom“ steht im Zentrum von Woodstock. Es ist in Kurzberichten, Trailern immer wieder hervorgehoben worden, wohl schon allein deswegen, weil sein Text fast ausschließlich aus dem Wort besteht, das in der ganzen Welt verstanden wird: Freedom. Man sollte jedoch auch die beiden anderen Sätze nicht vergessen, die nach dem ausführlichen Chanten von Freedom gesungen werden, nämlich: Sometimes I feel like a motherless child, mehrfach wiederholt, und schließlich: It’s a long, long way from my home. Dann wieder Freedom. Davor wälzen sich Leute nackt im Schlamm, die, von langen Staus etwas gebremst, soeben aufgebrochen waren, um so weit wie möglich wegzukommen, von ihrem Heim wie von ihren Müttern. Beide Sätze, vor allem „Sometimes I feel like a motherless child“, sind Standard-Floskeln aus unzähligen Gospels. In ihrem geläufigen Kontext, im schwarzen baptistischen Gottesdienst, bezogen sie sich sozusagen auf die Lage, die der Gottesdienst vorübergehend aufhebt. Insofern läßt sich Havens’ Adaption dieser Sätze gut auf Woodstock übertragen: Denn auch hier sind ja unbefriedigende Verhältnisse vorübergehend außer Kraft gesetzt. Zum anderen hat Norman Mailer ja schon 1957 in seinem Essay „The White Negro“ beschrieben, wie sich weiße Mittelklasse-Dropouts die existentielle Lage amerikanischer Schwarzer als Modell für die eigene, selbstgewählte Lage adaptieren. Woodstock wäre demnach einfach nur die Übertragung einer anderen Organisationsform Schwarzer Kultur auf die Jugendkultur, die sich so gerne als Parallele denken will: Die symbolische Staatengründung des Gottesdienstes wird übertragen auf die symbolische Staatengründung der Woodstock-Nation. Und damit wird auch das fundamentalste unter den produktiven Mißverständnissen mitgeschleppt und auf einer neuen Ebene genutzt; daß nämlich schwarze Verhältnisse irgend etwas mit dem zu tun haben, woher die kommen, die schwarze Kultur und Musik bewundern und die, wie man es in einer Biographie der Grateful Dead lesen kann, „für das höchste Kompliment halten, nach schwarzen Blut gefragt zu werden“7. Tatsächlich haben die Grateful Dead sogar noch nach Woodstock, im Jahre 1971, auf einer Black-Panther-Veranstaltung gespielt. Das wäre dann auch so ziemlich das letzte Datum eines koordinierten kulturellen Aktivismus zwischen Jugendkultur und schwarzem Widerstand. Er mußte aber als Illusion eingeschlossen sein in den Mythos der Woodstock-Nation, damit dieser vom Individualanarchismus der kalifornischen Hippies und Beatniks, seinerseits den schwarzen Hipstern und Bluesmusikern mißverstehend nachempfunden, aufbrechen und sich zur Nation taufen konnte, ohne seine Herkunft vergessen zu müssen. Andererseits durfte die wahre, nämlich mißverständliche Natur der Beziehungen und Projektionen der weißen Mittelklasse-Dropouts auf die schwarze Kultur nicht klar werden. Die weißen Kids vor Ort und die unzähligen Kunden des Medienverbunds Woodstock hätten eigentlich merken müssen, daß Freiheit und die Klage um den Verlust der Mutter und der Heimat nach ihrem Verständnis von Freiheit frappante Widersprüche sind, die einer Klärung bedurften. Daß sie das nicht wahrnehmen konnten, daß sie nicht hören konnten, daß von einer ganz anderen Freiheit die Rede war und sie sogar von dieser anderen als ihrer Freiheit schmecken konnten, ohne sich darüber klar zu werden, gehört zu den Hypnotisierungen, die Voraussetzung dafür sind, wenn aus einem Ereignis ein Text, aus einem Text ein Mythos werden und auf einem neuartigen Speicher als neuartiges Produkt gespeichert werden soll. Das ist die eine Seite von Woodstock. Und das wäre die eine Seite des Produktiven am produktiven Mißverständnis.

Nun ist dieser Begriff des Mißverständnisses keineswegs mit nur kulturpessimistischen Absichten ersonnen worden: Durch das Mißverständnis wird der blinden Produktivität gegen das Prozeßhafte zu neuen Produkten verholfen. Produktiv in einem besseren Sinne wird das Mißverständnis, indem es Formen, Mythen, Texte, Bilder fördert, die nicht abgeschlossen sind, die mindestens eine formale Stelle haben, an der sie so geentert werden können, daß sie korrigierbar sind. Nur weil es die Woodstock-Nation so gab, konnte es Punk geben, um nur den prominentesten Fall zu nennen. Etwas entsprechendes läßt sich über andere Mythen nicht sagen. Andere geschichtsmächtige Mythen wie etwa das Genie oder die Rasse haben solche Stellen nicht, denn die Demiurgen dieser Mythen und ihre Geschöpfe sind sich auch über die größten Ungereimtheiten stets im Klaren, sie brauchen die Mythologisierung wegen dieser Ungereimtheiten. Sie sind eher staats- und kirchenförmig, während die produktiven Mißverständnisse eher warenförmig zu nennen wären. Erstere kommen aus der Kontrolle von Lehre und Institution, letztere aus der Produktionsanarchie von Markt und technologischer Umwälzung. Bei auf produktiven Mißverständnissen beruhenden dissidenten Mythen ist das Mißverständnis selber die Quelle der Energie, die Mythologisierung bleibt unvollendet und gelingt nur durch und auf der Ebene der Medien. Diese aber können noch und werden noch entwendet und überspielt, gelöscht, gesamplet oder ergänzt. Das Wichtigste aber ist die Endlosigkeit des Vorgangs: Das produktive Mißverständnis, das in der Projektion von Mittelklasse-Bedürfnissen auf schwarze Kultur bestand, hat sich in nachfolgenden Zyklen verschärft. Es hat einerseits eine innere Kontinuität der Verschärfung erfahren, aber andererseits eine zweite diskontinuierliche Ebene entwickelt, wo es immer wieder und immer schneller produktiv mißverstehende Rückgriffe auf Zwischenergebnisse in Form von Mythen gegeben hat. Dabei fallen regelmäßig sowohl immer mehr Waren als auch immer mehr Annäherungen an Wahrheit an.

  1. Jürgen Legath, „Shanana – Recorded Live! The Golden Age Of Rock’n’Roll“, in: Sounds. Platten 66-77 – 1827 Kritiken, Frankfurt am Main 1979, S. 575f. ↩︎
  2. Detlef Diederichsen, Bob-Weir-Interview, in: Spex, 12/90. ↩︎
  3. Woodstock war der erste Medienverbund: Platte-Ereignis-Film. ↩︎
  4. Es gab neben den Last Poets von Jalal (der sich damals auch noch nicht so nannte) die Last Poets um Felipe Luciano und Cain, die ebenfalls radikale Texte zu Conga-Rhythmen vortrugen, sich aber im Gegensatz zu Jalals Gruppe, die mit Unterbrechungen bis in die Achtziger existierte, in den frühen Siebzigern auflösten. In Los Angeles gab es die Watts Prophets (Rappin‘ Black In A White World), die Rap-artige Texte mit Konversationsprosa mischten und sich nicht nur von Rhythmusinstrumenten begleiten ließen. ↩︎
  5. vgl. David Toop, Rap Attack, St. Andrä-Wörden 1992, S. 39–47. ↩︎
  6. Auf Cains Solo-LP, The Blue Guerilla, spielen dann übrigens doch Musiker mit, und zwar ausgerechnet Sly Stone und der spätere Chic-Gründer Bernard Edwards. ↩︎
  7. Hank Harrison, The Dead Book – A Social History Of The Haight Ashbury Experience, Menlo Park, ca. 1985, Band 1, S. 182. ↩︎