Zuerst erfand Chris Sullivan das Ausgehen, dann schneiderte er die Klamotten für Spandau Ballet. Zuletzt gründete er auch noch eine eigene Band: Blue Rondo A La Turk
Ich glaube nicht, daß irgendjemand von dem jungen Volk draußen im Lande noch weiß, wer Dave Brubeck war (Verzeihung: ist), aber der grauhaarige, weiße, gefällige Cool-Pianist dürfte nach wie vor einer der erfolgreichsten Jazz-Musiker aller Zeiten sein, auch wenn er heutzutage keine Tagesaktualität mehr hat. In den Fünfzigern war er der Held der Pseudo-Hipsters, Studenten, die mal ein wenig von der (eigentlich gar nicht mehr) verbotenen Frucht des Jazz naschen wollten, ohne sich gleich zu sehr auf Tuchfühlung mit Fremdrassigen begeben zu wollen, wurden von Brubeck erstklassig versorgt: ungefährlich swingend, cool aber nie wirklich cool wie etwa Monk, intellektuell, aber nie wirklich intellektuell wie Tristano und darüberhinaus künstlerisch wertvoll; denn Brubeck verjazzte Klassik. Das tat das Modern Jazz Quartett zwar auch, und die waren auch die anderen großen Lieblinge aufgeschlossener Lehrer der Adenauer-Ära, aber sie waren noch zu einem kleinen Rest schwarz, fremd. Brubeck dagegen war einer von ihnen. Sein größter Hit war neben „Take Five“, das sein Saxophonist Paul Desmond schrieb, „Blue Rondo A La Turk“, das Wolfgang Amadeus Mozart geschrieben hatte.
Chris Sullivan kommt aus dem Süden von Wales. Arbeitslosigkeit ist hier nicht erst seit Margaret Thatcher der Normalzustand. Die Labour-Party hat denn auch hier ihre unbezwingbaren Hochburgen, gegen die kein Erdrutsch gewachsen ist. Chris’ Vater hat einen Job, seine Mutter geht gelegentlich zur Arbeit. Seine jüngere Schwester, heute 19, hat in ihrem Leben noch nicht gearbeitet. Jeden Abend um 23 Uhr, wenn die Pubs schließen, kommt es draußen zu schweren Prügeleien. „Danach kann man seine Uhr stellen“, sagt Chris.
Chris ist einer der ersten europäischen Weißen, dessen Geschichte sich anhört wie die klassische Im-Ghetto-hast-du-nur-zwei-Chancen-heraus-zukommen-Pop-Star-oder-Sportprofi-Saga, die man aus der schwarzen Musik so gut kennt. Der britische Kapitalismus kriselt eben schon so lange, daß die Krise längst dabei ist, ihre Kinder zu entlassen. Chris ging nach London. Über den Umweg Art School (das Nachwuchs-Reservoir der GB-Pop-Szene) wurde er – ja, soll man’s Modeschöpfer nennen? Jedenfalls machte er die Bühnenanzüge für Spandau Ballet und gehörte zu der vor zwei Jahren neuartigen Clique von Arbeiterkindern, die sich für Mode, Camp, Soul, Stilvielfalt usw. interessierten, die die heute fast schon wieder abgeschlossene Phase des Plünder-Pop eröffneten. Zur Clique gehörten Steve Stange, alle Spandaus, Leute, die heute die JoBoxers ausmachen, Chris Sullivan und sein Freund Christos, Gute und Laue also, und sie hatten einen neuen eklektizistischen Chic ersonnen, der sich erst nur in Kleidung und später auch musikalisch äußern sollte. Immer wenn ihnen bürgerlicher Eskapismus vorgeworfen wurde, zückten sie flink das Parteibuch der Labour-Party.
Neben Mode war Ausgehen angesagt. Chris eröffnete einen Hip-Nightclub in der Wardour Street und ließ nur seine Pop-Star-Freunde rein. Chris machte eine Reise nach New York. Er liest alles über die Fünfziger, die Vierziger, die Dreißiger. Es gibt ja in England diese tollen Handbücher, die über Epochen schreiben, als wären sie von Anfang an zu nichts anderem da gewesen als Material für Pop-Mythologien abzugeben. Und vielleicht will der Geist der Geschichte wirklich nichts anderes als hinterher besungen zu werden.
Chris gründete Blue Rondo Ala Turk. Er hatte halt gerade seine Beatnik-Phase. Machte einen Song für den er sich einen Walking Pass und Bop-Akkorde wünschte und dessen Text von Lee Strasberg und der Actor’s School handelt. Der einfallsreiche Chris hatte schon die Kleider für seine Band zusammen, nur die Musiker fehlten noch. Das Strasberg-Lied „The Method“ ist noch heute im Blue Rondo A La Turk-Programm, und auf der Innenhülle des Albums, wo die Texte abgedruckt sind, wird der Name Strasberg hartnäckig falsch geschrieben. Zu all dem paßt der Name von dem Brubeck-Lied. Ihn beeindruckt nicht das Lied, und auch das Brubeck-Image ist nicht so wichtig, denn er ist ein sehr schneller, ja geradezu etwas vorschneller Plünderer, ihn beeindruckt nur die Hülle der Brubeck-Platte mit einem Picasso. Diese Hülle wird er fürderhin, stets leicht abgewandelt, als Vorbild für alle Blue Rondo A La Turk-Hüllen benutzen. Ein auf Grafik reduzierter Picasso ist allerdings kein Fake-Picasso, wie das ganze Blue Rondo-Prinzip nie den wirklich verwirrenden Strategien anderer Plünder-Pop-Künstler (z.B. dem frühen Fake-Jazz der Lounge Lizards) folgte, die Vorgefundenes aufbliesen, überhöhten, in absurde Kontraste einbauten. Blue Rondo reduzierten auf Formeln und Stereotypen, aber auch das muß noch nicht ganz falsch sein.
Nach der Beatnik-Phase kamen bei Chris noch Brasilien-, Cuba-, Soul-, New York- und Calypso-Phasen hinzu, so daß das Hardbop-Quartett, das Blue Rondo zuerst ausmachte, dringend der Erweiterung bedurfte. Chris, der sich mit seinem Freund Christos, einem Graeco-Engländer mit Zappa-Bart, den Gesang teilte, rekrutierte ziemlich wahllos zehn bis zwölf Musiker aus allen Stilgebieten: einen schwarzen R&B-Gitarristen oder einen Free-Jazz-Trompeter, der aussieht wie Don Cherry und neben Blue Rondo bei zwölf anderen Bands jammt. Aber die Big Band blieb trotz des Ausbleibens großer Erfolge und der Oberherrschaft des Konzeptionalisten und Nicht-Musikers Chris S. erstaunlicherweise bis heute beisammen. Ich habe sie gesehen. Es fehlte keiner.
Sind Sie gut oder nicht? Was machen die nun eigentlich für Musik?
Ja, Leser wollen immer was wissen, deswegen lesen sie ja.
Sie sind sehr amüsant. Einige ihrer Hits sind schnelle Samba-Fanfaren zum Tanzen. Sie haben viele billige, aber wirksame Ideen, darunter so abgeschmackte wie die, einen Coati-Mundi-artigen, kahlköpfigen Percussionisten auftreten zu lassen, und so gute billige Ideen wie den Tempowechsel in „Carioca“. Chris sagt, daß ihre Mischung, ihre Anzüge, ihre Zitate neu gewesen seien, als sie damit zum ersten Mal in Erscheinung traten, aber das Pech verhinderte den großen Erfolg, und Kid Creole sahnte mit seinem perfekteren New-York-Salsa/Funk ab. Dabei hätten es Blue Rondo gar nicht nötig, sich mit den um Stil und Eleganz bemühten New Yorkern vergleichen zu lassen. Letzten Endes ist ihre Art, Versatzstücke nicht geschmäcklerisch zu bearbeiten, sondern rauh und kantig zusammenzuzimmern, mindestens ebenso interessant, aber, da sie nie souverän genug waren, ihre Stärken richtig auszuspielen, gingen die Leute an ihnen vorbei und machten Witze. Trotzdem ist letztes Jahr kaum jemand daran vorbeigekommen, zu „Carioca“ (ein wirklich tolles Lied), „Me and Mr. Sanchez“ (Debilo-Latin, aber lustig und leicht) oder „Klactoveedsestein“ (eine weitere Beatnik-Reminiszenz und Hommage an Charlie Parker) zu tanzen, mindestens einmal.
Und das ist noch nicht alles. Blue Rondo entwickeln in letzter Zeit noch eine andere Qualität. Während ihre billigen, bzw. einfachen Zitate und Übernahmen in ihrer ungeschlachteten Aneinanderreihung schon hübsche Effekte ergaben, steigert sich diese Wirkung, wenn sie jetzt langsam beginnen, sich in die musikalischen Formen immer ausgebildeter, professioneller hineinzusteigern und dabei handwerklich werden. Wo sich das Können, das Musikalische am Billigen, am Konzept-Witz, an der Modeschöpfer-Idee, an der Camp-Halbbildung reibt. Das ist hübsch und knallt.

