Buch des Monats: Kürzlich in einem Feuilleton

R.B. Kitaj: Erstes Manifest des Diasporismus, Arche Verlag, 144 Seiten, 32 Mark

Was immer man gegen R.B. Kitajs Manifest des Diasporismus sagen muß und kann, eines muß man dem Traktat lassen: Es stellt seinen Autor als Mensch dermaßen bloß, daß es sich eher in den Kriterien von sympathisch/unsympathisch beschreiben läßt als in solchen von richtig und falsch. Wobei natürlich diese Schonungslosigkeit im Anprangern und Offenlegen möglicher eigener Unzulänglichkeiten nicht nur in ihrer Koketterie, sondern auch in ihrer Strategie, sich präventiv unkritisierbar zu machen, schon mal unsympathisch ist. Sympathisch könnte man seine Liebe zu Ismen finden, mit der er die Kunstgeschichte über das übliche Maß hinausgehend (man könnte meinen:) kategorisiert. Sein Blick für das Ideologische und/oder Systematische, aber auch Typische macht nicht bei Künstlergruppen/Bewegungen halt, sondern richtet sich auf individuelle Werke, was ihn dann denken läßt, aus seiner Arbeit als „thinking artist“ (als der sich bezeichnen zu lassen ihm offensichtlich nicht peinlich ist: Ein nonthinking artist wäre natürlich gar keiner) ähnliche Ismen herausdestillieren zu müssen, wobei dann eben der Diasporismus herauskommt (in den er dann einen Haufen anderer Leute mit hineinzieht), der in erster Linie behauptet, daß Künstler und Juden (die in der Diaspora, und das sind ja die meisten) prinzipiell etwas gemeinsam hätten, und er ist ja beides. Hinzu kommt, daß es noch andere jüdische Künstler im Laufe der Jahrhunderte gegeben hat, Walter Benjamin etwa oder auch Franz Kafka, daß so eine ganz ansehnliche Menge Diasporisten zusammenkommt. Natürlich wäre ihm diese Aussage in dieser Klarheit auch peinlich (jeder Jude ein Künstler ist ja jeder Mensch ein Künstler eindeutig unterlegen), weshalb er sie, so gut es geht, verbrämt und zurücknimmt, so oft es geht.

Natürlich ist der Picassoismus eines Picasso nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis eines Künstlerlebens und es wird auch keine, außer einer tautologischen, Aussage gemacht, wenn der Ismus an Picasso mit keinem anderen großen Namen als dessen eigenem bezeichnet wird. Näher beschrieben wird dieser Picassoismus nicht, er ist nur ein Beispiel, wie das funktioniert. Der Diasporismus wurde dagegen zur Verklärung des Fragmentarischen, Kleinen, Unvollendeten, Gescheiterten und so zur Lebensrechtfertigung für einen Künstler, der irrsinnig stolz darauf ist, alles nicht so genau zu wissen, unsicher zu sein. Nicht nur den einfachen Denkfehler, daß Kafka und Benjamin trotz ihres Scheiterns, des Fragment-Bleibens einiger ihrer Werke und eines – meinetwegen! – „Kult des Fragmentarischen“ (Kitaj) große Namen wurden und nicht deswegen, und daß sie selbst lieber alles vollendet hätten und so alt und zufrieden geworden wären wie Thomas Mann und die Seinen, muß man korrigieren, sondern auch die verheerende Wirkung, die die Verklärung solcher Schicksale schon immer auf die Jugend hatte. Jim Morrison wäre zum Beispiel sicher noch am Leben, wenn nicht immer so viel Brimborium um die selbstzerstörerischen Neigungen seiner Heroes Rimbaud und Baudelaire gemacht worden wäre.

Ebenso sympathisch mag zunächst seine Liebe zum Manifest einem vorkommen, jener schönen vergessenen Gattung, die für Künstler da war, die angeben wollten, große Rosinen im Kopf hatten und jugendlich über die Stränge schlagen mußten; in seinem Alter, wo er schon alles getan hat, ist es nichts anderes als eine Rechtfertigung für ein unkontrolliertes Reden über … nein, nicht sich selbst, das wär ja o.k., sondern über seine Malerei und was sie bedeuten soll, was natürlich um so trauriger ist, wenn die wenigen guten Ideen (Ismen in Bildern als Typisierungen) nicht auf den Bildern zu sehen sind, sondern nachgeliefert werden müssen, nach einer Methode, die mir ebenfalls im Prinzip mal wieder sympathisch ist: Ich erzähle meine Probleme und indem ich sie einer imaginären Bewegung/Richtung/Generation/Rasse andichte, verallgemeinere ich sie. Aber genau das hält er nicht durch und fällt immer wieder auf sein ganz spezielles Maler-Elend zurück. „Kitaj“, sagt Kippenberger, „hat Angst, das sieht man schon an der Art, wie er Ränder macht.“

„… las ich kürzlich in einem Feuilleton, die Zeit für Manifeste sei vorbei. Also beschloß ich nun gerade eines zu schreiben, ich der verspätete Bär, den Pinsel schwingend wie eine Fackel, hinein in den Tunnel, in dem alles Licht endet.“ Man schreibt doch nicht ein Manifest, weil man irgendwo gelesen hat, daß das jetzt das Allerunzeitgemäßeste und Kauzigste ist, man ist doch nicht stolz drauf als verspäteter Bär durch die Gegend zu tapern, um nur die Freiheit zu haben, sich an jeder garantiert wirkungslosen unwichtigen Verschrobenheit zu vergehen, weil einem nichts Besseres einfällt und man die heutige Zeit nicht versteht. Für den leichtesten aller untadeligen Standpunkte, der gleichzeitig auch einer der bescheuertsten ist, den des Unzeitgemäßen, gibt es ja immer und zeitlos zu allen Zeiten Gratislorbeer. Da feiert sich nämlich gegenseitig der totale Verzicht auf Auseinandersetzung, die immer nur geführt werden kann, über das, was heute wirklich in der Welt ist. Man müßte an dieser Stelle noch einmal grundsätzlich abschweifen zur Londoner Maler-Old-School, die ja meiner Meinung nach sowieso die größte Zusammenballung von arrogant-kokettem Rückzug und Akademismus auf diesem Planeten darstellt, aber das führt zu weit.

Auch sympathisch ist mir normalerweise die läßliche Sünde des name dropping, ein Name, so sage ich immer, ist doch ein an Bedeutung meist reicheres Wort als eine normale Bezeichnung, dies hier aber erinnert mich an den „Mein Vater kannte Lenin noch persönlich“-Gemeinschaftskundelehrer, der uns Zehntklässler mit „Guten Morgen, meine Herren, gestern abend haben Kurt A. Körber, Sie wissen ja, der Chef der Hauni-Werke, Karl Klasen, Sie wissen ja, der Bundesbankpräsident, Karl Schiller, Helmut Schmidt und ich, bei einem übrigens hervorragenden Landwein, uns überlegt, was wir mit der Konjunktur machen sollen.“ Ja, auch Cézanne war eigentlich ein Jude und Gertrude Stein unbestritten auch, Ezra Pound hieß immerhin Ezra mit Vornamen, wie die Kreuzworträtselfigur aus dem AT. James Joyce war zwar Ire, aber sind die Iren nicht auch ein diasporistisches Volk?

„Ich meine, nur die Idee zählt.“ Auch an diesem Satz ist was Wahres dran, wenn man ihn durch ein Glas Asbach Uralt vor flackerndem Kaminfeuer betrachtet, und auch diesen Satz kann man benutzen, um sich von einer langweiligen – oder mißglückten – Ausführung freizusprechen. Kunst solle, seiner Meinung nach, mit dem Leben übereinstimmen, aber das tut sie für den, der sein Leben mit ihr zubringt, ganz automatisch viel zu viel, für diese Erkenntnis kann man sich weniger kaufen, als dafür, daß man vom Brot allein nicht lebt (leisten kann sie sich ohnehin nur der von Stipendien und Staatspreisen und Sammlerknete Wohlalimentierte); sie sich emphatisch vorzuhalten, schadet beiden Beteiligten, die ja in the first place davon ausgemacht werden, nichts miteinander zu tun zu haben, und schon gar nicht so: „Erinnerungen, Ereignisse und Überzeugungen sind für mich der Malerei geweihte Träume, und so überträgt sich meine Lebensweise auf die Bilder.“ So banal wie falsch. Weil er glaubt, bei jedem Griff zum Pinsel sei seine ganze Vergangenheit aus der Malerei geweihten Träumen präsent, malt er doch keine anderen Bilder als jemand, der klug genug ist zu wissen, daß natürlich nur das zählt, was andere Leute später im Museum sehen können und nicht, was für Träume durch das Hirn des Künstlers am Tage der Ausführung marodierten. Oder doch: Dieser Künstler wird möglicherweise andere Bilder malen: bessere.

Kitaj identifiziert sich über seinen Diasporismus-Begriff mit allem, was auf der Welt leidet oder schon gelitten hat, Frauen, Schwarze, Iren, Homosexuelle. Das einzige, was ihn mit den Opfern Pol Pots, die er natürlich auch nicht vergißt, verbindet, ist sein Glück, als Jude geboren zu sein. Den Holocaust und seine Opfer mißbraucht er, um seine oberprivilegierte Lage – nichts ist in jeder Hinsicht eine privilegiertere Existenz als die des erfolgreichen Bildenden Künstlers – mit einem kitschigen Odeur von Tragik zu parfümieren. Die Leidenden sind bei ihm Stereotypen, wie sie es eigentlich immer in der Kunst waren, weswegen es auch so eine Irrsinns-Schnapsidee ist zu glauben, Kunst könne geschehenes Leid und Terror auf irgendeine andere Art repräsentieren, als indem sie auf eine Repräsentation verzichtet. Vom illegitimen Sich-Schmücken mit other people’s misery oder einer misery, die mit ihm nur sehr mittelbar zu tun hat, abgesehen, stempelt diese Haltung alle heutigen und zukünftigen Aufständischen, alle Unterdrückten auf ewig zu Ermordeten, zu Verlierern.

Solange in dieser für unseren Kulturkreis typischen Dauerlarmoyanz das schlechte Gewissen (meinetwegen der Bourgeoisie oder anderer, die ebenso mittelbar Täter sind wie sie Opfer sein wollen) die Erhebung gegen das Menschen von Menschen zugefügte Leid immer nur in der masochistischen Identifikation mit dem Ermordeten auslebt und darstellt, das saubere Verlieren glorifiziert, wird es nie das so dringend nötige Bild vom Sieg geben, vom Triumph, und sei es über ein Problem der Bildenden Kunst. Nichts ist zynischer und risikoloser als ein Opfer zu beneiden, und keine andere Haltung dem Opfer gegenüber möglich als Rache. So ist es soweit gekommen, daß sich ein heutiger Linker einen Sieger nur als Schlächter oder Börsenspekulant vorstellen kann. Wie sagen dagegen die Neger, die es besser wissen: „Everyone’s a winner, Baby, that’s no lie!“

Ein Grund, warum ich das Buch zuerst überhaupt zur Hand nahm, war und bleibt bis heute die Nähe, mit der Kitaj immer wieder auch an richtigen Ideen vorbeischrammt und die Art und Weise, in der er irgendwas halbverstanden aufschnappt. Der ganze Diasporismus streift natürlich auch das, was in Franzosen-Kreisen vor ein paar Jahren als Nomaden-Denken schick und angesagt, aber nicht ganz blöd und überarbeitungsfähig war, doch hat Kitaj davon nichts aufgenommen, gelegentlich etwas Ähnliches geahnt, aber nicht nur wegen der haltungsmäßigen Fehler, die sein Buch durchziehen, schon aus lauter Altkünstler-Vermufftheit, -Arroganz, -Koketterie und falscher Bescheidenheit nichts (Neues) dazu zu sagen. Die Gestaltung des Buches ist, wie immer bei „arche“, dagegen sehr gelungen, von der Schriftwahl bis zum schmalen roten Streifen auf dem Umschlag eine Leistung, zu der kein bundesdeutscher Verlag zur Zeit in der Lage ist.