Vor gut zehn Jahren gehörten die Sammlungen seiner Kurzgeschichten auf dieselbe Weise zur obligatorischen Nachtlektüre der linken Schickeria, wie heute Kundera und Cioran dem Zeit-Leser seine sinnlose Existenz versüßen: JULIO CORTÁZAR hatte alles, was die Zeit wollte: Südamerikaner, die letzten 33 Jahre natürlich im Exil, Linker, aber von Borges beeinflußt phantastisch-literarisch, Pariser und auch noch Jazz-Fan; Che-Guevara-Stories folgten absurden, buñuelesken Szenarios auf französischen Autobahnen. Sein Hauptwerk wurde dem deutschen Publikum allerdings jahrzehntelang vorenthalten, der ersten deutschen Ausgabe von 1981 folgt jetzt endlich eine Taschenbuchausgabe von Rayuela, diesem 1963 vollendeten voluminösen Experimentalroman, den man nicht nur von vorne nach hinten sinnvoll lesen kann, sondern auch nach einer alternativen, vom Autor vorgeschlagenen Kapitelfolge (mit Kapitel 73 beginnend) oder unter der Weglassung der zweiten Hälfte, was ein paar Suchende in letzter Zeit dazu veranlaßte, in Rayuela einen „paradigmatischen Roman der Postmoderne“ (oder so) gefunden haben zu wollen. In Wirklichkeit ist es eine Art Ästhetik des Widerstands für den lateinamerikanischen Exil-Bohemien, eine monströse vollständige Ansammlung aller Motive des Paris der 50er und frühen 60er, zwischen Blues und Surrealismus, sich bei aller Verzweiflung an der Schönheit der Probleme der intellektuellen Existenz freuend, was das Problem mit einschließt, daß Ratlosigkeit und Assoziationswitze unzulässig verklärt werden: In dieses Problem greift das (politisch erzwungene) Exil als Gegenproblem, das die literarisch genossene Ratlosigkeit als Problem des kultivierten Fremden im Zentrum der Kultur, für die er zum Fremden geworden ist, darstellt, so daß dieser Surrealismus hier begreiflich wird als keine künstlerische, sondern existentielle Entscheidung (heute sagt man Überlebenstechnik) … (was auf einer anderen Ebene auch dasselbe ist). Noch ein viel zu spät übersetztes Buch: Tom Wolfes The Electric Kool-Aid Acid Test als Unter Strom. Wird ein Autor wie Tom Wolfe von seinem deutschen Verlag auf dem Waschzettel als „König der coolen Schreibe“ angepriesen, kann man für die Übersetzung nur das Schlimmste befürchten; sie ist indes ganz passabel ausgefallen. Was beim Wiederlesen dieses Klassikers auffällt, ist, daß Wolfes Distanz zu seinen Hippies und Acid-Schluckern, sein kürzlich im Rolling Stone zum Prinzip erklärtes Nichtablegen seines East-Coast-Dandy-Outfit – was man früher gerade genossen hat, zusätzlich zu dem Reichtum und der Fülle der außergewöhnlichen Beschreibung außergewöhnlicher Geschehnisse – heute manchmal unangenehm wirkt. Wäre dies nicht der Moment gewesen, an dem er hätte umfallen dürfen/sollen, einmal selber bis über die Ohren in dem von ihm immer mit soviel Lautstärke und Begeisterung beschriebenen Durcheinander mitunterzugehen, sich dasselbe zuzumuten, genau, nämlich auch einmal Acid zu nehmen (man braucht deswegen nicht gleich nach Wallraff zu rufen!)? Wahrscheinlich ist es besser, daß er den klaren Kopf behalten hat, Mountain Girl (von Grateful Dead als „Sugar Magnolia“ besungen), Jerry Garcia, Kesey und alle anderen incl. der Beatles nur beobachtet hat. Anders als in The Painted Word, wo der Spaß von der Ungeheuerlichkeit einer selbstgestrickten Theorie lebt und ja eigentlich alles falsch ist, hat er hier ja alles verstanden, auch wenn eben zwischen verstehen und „to dig“ ein nicht zu vernachlässigender Unterschied besteht. Für alle, die immer noch achtlos mit dem Wort „Hippie“ umgehen und alle neugewonnenen Dead/B-Springfield/Airplane-Fans, die neulich von der 20-Jahre-Sgt-Pepper-Sendung bekehrt worden sind, und überhaupt alle, die es nicht auf englisch gelesen haben: essential. Nach Abel Sanchez von dem großen Unamuno noch ein großer, hierzulande völlig unbekannter Roman im Peter Selinka Verlag: Jan De Lichte und seine Bande von LOUIS PAUL BOON. Wieder eine Gang, nicht von Acidheads, sondern von Rachsüchtigen im Flandern des 18ten Jahrhundert, wo die Figuren Pier oder Marieke heißen. Boon, flandrischer Ex-Kommunist und später Anarchist, ’79 gestorben, kämpfte für flämische Kultur und Sprache und stellt hier einen historischen Räuber dar, der 1748 wegen sechsfachen Mordes aufs Rad geflochten wurde und ihm natürlich als Muster für alle Probleme eines Volkskrieges dient, wie andere Räuberhauptmänner anderen linken Autoren, dies aber in einer derb-rasanten, immer wieder für kleine lakonische und didaktische Bemerkungen durchbrochenen Erzählung, die nicht nur hartgesottenen Belgien-Fans wie mir gefallen sollte (hat was von Celine … manchmal). Die beiden leading Angesagt-Denker der Gegenwart sind mit zwei neuen leicht-verständlichen Broschüren auf dem Markt. BAUDRILLARD mit einer rückblickenden Kurzgesamtdarstellung seines Denkens, NIKLAS LUHMANN mit einer Interviewsammlung, die hochinteressant von dessen Arbeitsweise und Selbstverständnis berichtet, und unbedingt als Ergänzung zur Lektüre seiner eigenen Publikationen empfohlen sei, gibt sie doch mehrere Antworten auf die Fragen, die an dieses Werk immer wieder gestellt werden: Was bedeutet das eigentlich politisch?, und wie schafft der das bloß? Aus dem Leben des wirklichen Philosophen der wirklichen, bald fünfzig Jahre alten BRD (it’s your country!). Bei Baudrillard erfährt man nicht viel Neues, ist wie immer abwechselnd fasziniert und abgestoßen von dem ewig bedauernden Ton, diesen ewigen Listen davon, was es alles angeblich nicht mehr gibt. In einer Stunde und mit allergrößtem Vergnügen durchgelesen habe ich Vampyroteuthis Infernalis, eine Studie des Fotografie-, Schrift- und Medien-Theoretikers VILÉM FLUSSER und des „Zoo-systémicien“ LOUIS BEC über eine Tintenfischart, ihr Denken, ihre Sexualität, ihre Philosophie, ihr Weltbild. Sie lebt in den tiefsten Tiefen der Tiefsee, keine Sonne beleuchtet ihre Welt, der Vampyroteuthis selbst beleuchtet sie mit eigenem Licht. Das von den weit entfernten Tierarten dem Menschen entgegengesetzteste und gleichzeitig hochentwickelste. Einen Haufen Tierchen der Spezies Punk-Rocker/Waver etc. hat JUDITH AMMANN interviewt, die vor Jahren mit der Textdokumentation Erekta prompt in Erscheinung getreten ist. Darin reden von New Yorker Lärmern bis zu den in der Zwischenzeit weltberühmten Simple Minds ein halbes Hundert Musiker, was Musiker so reden, wenn man sie fragt, was man Musiker so fragt, zwischen Atomkrieg und Soundcheck, in zwei Sprachen und Hip-Layout: die Freude am O-Ton. Klar, daß die Milkshakes und ihr Dichtersänger Wild Billy Childish die beste Figur machen, dicht gefolgt von Andrew Eldritch. Wer jeden zweiten Tag mit solchen Typen reden muß, gähnt hin und wieder, als zoologisches Material jedoch vorzüglich geeignet: Tiere, die im Dunkeln leben. Wie sie denken. Wie sie ein Rad abhaben.
JULIO CORTÁZAR Rayuela, Himmel und Hölle, 636 S., DM 18,–, Suhrkamp
TOM WOLFE Unter Strom, 463 S., DM 48,–, Eichborn
LOUIS PAUL BOON Jan De Lichte und seine Bande, 251 S., PS-Verlag
NIKLAS LUHMANN Archimedes und wir, 166 S., DM 15,–, Merve Verlag
JEAN BAUDRILLARD Das Andere selbst. Habilitation, 81 S., DM 19,80, Edition Passagen
VILÉM FLUSSER/LOUIS BEC Vampyroteuthis Infernalis. Eine Abhandlung samt Befund des Institut Scientifique De Recherche Paranaturaliste, 65 S., mit vielen Abbildungen, DM 32,–, Immatrix Publikationen
JUDITH AMMANN Who’s Been Sleeping In My Brain? Interviews Post Punk, 477 S., DM 24,–, edition Suhrkamp

