Bücher für die Liegewiesen des Wahnsinns

Nichts habe ich in den letzten Monaten so gerne gelesen wie Jules Michelets Die Hexe und Cornelius Castoriadis’ Gesellschaft als imaginäre Institution und werde vor allem im zweiten noch eine Weile drin bleiben, aber die sind nun beide schon ziemlich viel älter, als was ich euch hier an Musik zur Zeit äh umgekehrt empfehlen kann. Verbrecher, Hochstapler, Radikale und Abenteurer sind der Gegenstand von Klaus Bittermanns Das Sterben der Phantome (Edition Tiamat, Berlin 1988). Es sind die Karrieren von Leuten wie dem Filmmillionär und Situationisten-Mäzen Lebovici, der – politisch mißliebig und mehrfach bedroht – 1984 unter mysteriösen Umständen ermordet wurde; von dem schönen Boxer, „Dadaisten“ und Dichterdarsteller Arthur Cravan, der sein Leben selbst zu einem – natürlich – selbstzerstörerischen Kunstwerk erklärte und dem es nicht an Phantasie und Irrsinn mangelte, hoch genug zu pokern, um zu verlieren; von berühmten Hochstaplern wie Stavisky und dem ersten Kriminellen der Rösner-Schule, Pierre François Lacenaire, der seine trübe-traurige Geschichte zu einem hochmögenden Protest gegen die Gesellschaft des Bürgerkönigs stilisierte. Gemeinsam ist diesen Geschichten und Biographien, daß sie im französischen Kulturraum stattgefunden haben und nur dort stattfinden konnten, nichts also zu tun haben mit den trübe sauberen, sich willig der Fatalität der Milieutheorien fügenden Opfern, die die hiesige Linke immer wieder gerne verklärt, weil sie nicht anders konnten – den so erbrachten Beweis von der Falschheit einer falschen Gesellschaft, die keine Wahl läßt, für die Legitimation ewiger und fatal-unausweichlicher Impotenz politischer Dissidenz nutzend –, sondern die durchaus anders konnten (auch wenn dabei keine Resultate in Form von Staatengründungen und anderen weltgeschichtlich legitimen Erfolgsmeldungen abfallen, die hiesiges Politik- und Dissidenz-Verständnis zu verlangen pflegen), daß sie ihre Taten und deren hohen Einsatz nicht auf ihrem Leben äußerliche Ideen bezogen, sondern immer selber und auch für sich ihr schönes, richtiges, freies und bedeutendes Leben sichtbar und wahrnehmbar jetzt genießen wollten. Lebovicis Geschichte gefällt mir auch deswegen am besten, weil sie zeigt, wie man kulturelle Macht erobert und mit ihr richtig umgeht, was in unserem Kulturraum nicht vorkommt (soll ich Alfred Hilsberg oder Jörg Schröder als Gegenbeispiel nennen? Sollte ich nicht, denn Lebovicis Macht als Frankreichs Top-Filmproduzent und Verleger nicht nur radikaler Texte aller Art und Verbrecher-Autobiographien war weit größer als Schröders). Bittermann geht in der Vorrede zu seinen fünf informativen und sehr oft die Mystery-Quote eines jeden Kriminalromans überbietenden Essays von einem Horkheimer-Satz aus, demzufolge „der Glaube des Einzelnen an sich selbst (…) steril geworden“ sei. Laut Greil Marcus’ opulentem Meisterwerk Lipstick Traces – A Secret History Of the 20th Century (Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, 1989) ist das genau die Sache von Punk gewesen, diesen zu rekonstruieren. Aus der Perspektive des Amerikaners, für den Malcolm McLaren und andere typisch-europäische Aspekte von Punk wesentlich interessanter sind als Ami-HC; für den Lora Logic und die Slits, nicht Henry Rollins und Jello Biafra, die neuen Menschen der 80er Jahre sind, weist er eine Kontinuität einer europäischen Tradition von großen Negationsbewegungen nach, Dada, Lettrismus, Situationismus, Punk, die im Gegensatz zu den amerikanischen Bewegungen (die ja immer einen konstruktiven Kern hatten) darauf bestanden haben, daß man (auch) Nein sagen kann (muß), als eine geheime Linie des Jahrhunderts. Bemerkenswert beschriebene, großflächig und -zügig vorgenommene, schön gelayoutete Fakten und geduldig erläuterte, dennoch kühne Zusammenhangsverschiebungen, sowie gewohnt detailschöne Musikbeschreibungen ordnen sich zu einem Thesengebäude, das vom amerikanischen Standpunkt genauso eine Mischung aus euphorisierter Besessenheit und Übertreibung darstellt wie das, was wir uns immer so über die USA zusammenreimen. Dazu betritt Marcus, der sich recherchehalber in Paris, Zürich und London aufgehalten hat, wissenschaftliches Neuland, mit seiner Darstellung der französischen Bewegungen Lettrismus und Situationismus, wozu er teilweise unbekannte Dokumente, Bilder und aktuelle Interviews zusammengetragen hat, deren Umfang auch in der gesamten europäischen, wissenschaftlichen und sonstigen Literatur zum Thema seinesgleichen sucht.

Was die SF-Gehirne Europas im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit 1989 zu eben den Technologien, die dieses tendenziell möglich machen, philosophieren, haben der Merve-Verlag und das Linzer Forum Ars Electronica zusammengetragen. Eine für 12 Mark äußerst preisgünstige Einführung in die bekanntesten Philosophien neuer Technologie, von Kittlers Maschinismus/Apparatismus/Materialismus, der die Geschichte der Künste als die Geschichte der Maschinen und Systeme, die dem Geist Materialität verleihen, schreibt, und eine (zumindest begriffliche) Trennung zwischen den alten „Künsten“ und den neuen digitalen Simulationen postuliert, über Flussers erweitertes, intersubjektives Wesen, das von der Ideologie der Identität befreit, sich mit allen möglichen Speichern und Systemen kurzschließt, um das Gehirn für andere Aufgaben zu entlasten, bis zu Baudrillards Unterscheidung zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz; dazu Beiträge von Foerster, Weibel und Boehringer. Die meisten spinnen schon Bekanntes und Veröffentlichtes weiter, was der Sammlung ein wenig den Charakter einer Singles-Sampler-Version des von Hans Ulrich Reck herausgegebenen Kanalarbeit – Kittler z. B. hat seinen Beitrag daraus recycelt – gibt: die kostengünstige Einführung und der erste Kick für diejenigen, die in diesem Neuland der Science Philosophy noch nichts verloren hatten. Eine Auseinandersetzung etwa mit Kittlers angedeuteter, stark verkürzt „technizistisch“ zu nennender Position zur Rockmusik müßte nochmal bei Gelegenheit auf mehr Platz nachgeholt werden (Ars Electronica [Hrsg.]: Philosophien der neuen Technologien, Merve Verlag, Berlin 1989).

In der Schweiz hat sich ein Robert Fischer mit dem immer wieder ergiebigen Henry Rollins unterhalten. Auf Englisch. Auch wenn man als Leser von Henrys eigenen Werken und seinen unzähligen, über die Welt der Fanzines verstreuten Interviews schon eine Menge von seinen Ansichten kennt, ist es auch immer wieder schön, wie er sie rappt. Nur die völlige Einigkeit zwischen den beiden Gesprächspartnern berührt einen seltsam. Wie sie die Chance unter anderem vergibt, Rollins gelegentlich ins Kraut schießende Nietzsche-Lektüre („The masses are asses. The masses are wrong and will always be wrong“), seinen Kampf gegen „Mittelmäßigkeit“ (zu dem sich normalerweise immer die Mittelmäßigsten zusammenrotten – die haben ja auch allen Grund dazu. Erklären, warum Mittelmäßigkeit ein so großes Übel sein soll, so unendlich viel schlimmer als das rundum Miserable und voll Bescheuerte/Beschissene z. B., hat man mir bis jetzt ebensowenig erklären können wie, warum 18 Grad Zimmertemperatur schlimmer sein soll als minus 5) in Frage zu stellen. Andere Punkte hätten sicherlich durch Einwände in interessante Debatten ausarten können, allein die Beschreibung seiner Traumfrau (eine, die nur jeden zweiten Tag für eine Viertelstunde Zeit für ihn hat) lohnt das schmale Bändchen (Henry Rollins Talks, Action Press, Aarau, 1988).

Fans von Sonic Youth’ Kim Gordon und Lydia Lunch, wie Henry, lesen zur Zeit den Namenspatron von deren erster gemeinsamer Band, Harry Crews. Von den 11 (!) bei Harper & Row vorliegenden Romanen des Endfünfzigers, habe ich das, allerdings von Crews-Kennern als „noch unausgereift“ eingeschätzte Frühwerk The Gospel Singer gelesen, eine feucht-klebrige Südstaaten-Story, die mit aller gebotenen müden, heißen, stumpfsinnigen Schwerfälligkeit diese Gewißheit guter amerikanischer Literatur ausstrahlt, daß nichts wirklich anders ist, als man es sich vorstellt und diese notgedrungen einfachen Vorstellungen unseres Hirns trotzdem nichts verschweigen oder unterschlagen: die Szenarios solcher Texte sind so „leer“ wie die Köpfe der Protagonisten einfach und das Bewußtsein des Autors klar. Der Gospel Singer handelt von Träumen, die so einfach sind wie die ländlichen Verhältnisse, aus denen sie herausführen sollen; entweder als Lichtgestalt mit Kontakt zum Allerhöchsten oder als Freak zu Satan. Da kommt es zu einer realen Vergewaltigung einer reinen schönen weißen Jungfrau, der Lichtgestalt versprochen, angeblich durch einen schwarzen Neger, reale Morde, die mythologisch verklärt durch Schmutz und Armut geistern, so inzestuös ineinander verstrickt, daß die Kameraleute mit ihren „Objektiven“, die am Ende die Leichen und Verletzten sichten, ebensowenig eine „Story“ zusammenkriegen können, wie die Reporter am Ende vom Man Who Shot Liberty Valance die ganze Wahrheit zu hören bekamen. Nur daß hier die Ablösung der mythischen durch die historische Zeit ein paar Jahrzehnte später in den 50ern dieses Jahrhunderts (immer noch nicht) stattfindet, da wo der Autor selber herkommt und sich auskennt, „the end of a dirt road, in Bacon County, Georgia“. (The Gospel Singer, A Novel, Harper & Row, New York 1988).

Schon seit geraumer Zeit bin ich Fan von Wanda Coleman. Sie gehört zu einer Gruppe schwarzer Dichterinnen aus L.A., und seit einiger Zeit gibt es auch eine Sprechplatte von ihr und einer Kollegin auf Mike Watts New Alliance Label, die es ohne weiteres mit so manchem von den Last Poets aufnehmen könnte. Die Kenntnis dieser Platte hilft, sich die Texte in A War Of Eyes (Black Sparrow Press, Santa Rosa, 1985) gesprochen vorzustellen. Schwarze, realistische, oft sehr komische Alltags-/Tagebuch-Kurzgeschichten, zu einem großen Teil – einige ganz und gar – in wörtlicher Rede, mit einem Rhythmus und synkopierten, stets hörbaren Beat, der sie wahrscheinlich unübersetzbar macht (was sie mit Harry Crews’ Buch gemeinsam haben, auch wenn sich die Worte dort eher zu müden, weichen Slide-Bögen ordnen und dehnen). Wenn es je Sinn hatte, zu sagen, etwas sei auf den Punkt gebracht, dann bei diesem Buch: Der Punkt ist hier der Beat. Und Kommata sind extrem seltene Satzzeichen in ihrer language.

Bei Franz Jung war es immer ähnlich, zum Atemholen pflegte er eher vier Gedankenstriche in die Texte rauschen zu lassen, als dem spießigen System von Parataxe und Hypotaxe sich zu fügen. Als Band 7 der immer noch und regelmäßig empfehlenswerten Gesamtausgabe ist jetzt der Dramen-Band (edition nautilus, Hamburg 1989, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Storch) erschienen, und die meisten sind einem (der Jung durch das im wahrsten Sinne Jahrhundertbuch Der Weg nach unten kennengelernt hat) noch unter den schriftstellerischen Arbeiten als diejenigen in Erinnerung, die Jung – wie seine ganze Theater-Arbeit – am wichtigsten waren. Saul ist ein expressionistisches Lesedrama in gehackter Prosa, dem diese schöne Bemerkung voransteht: „Wenn es darauf ankommen sollte, das Wir zu zertrümmern, um wenigstens die Spannung des Ich zum Wir glückverheißend zu ahnen, damit in einer besseren Zukunft das Ich Gelegenheit hat, Wir werden zu können, so werden (wir) einzelne an der Tragik dieser Verheißung kaputt gehen, und das kann man ruhig tun.“ Das Puppenspiel steht in der Reihe von Jungs frühen Ehehölle-Kurzgeschichten, ein anderes Thema, in dem er ziemlich unübertroffen wie unübertroffen hardcore ist. Die Kanake und Wie lange noch? sind die im Knast geschriebenen kommunistischen Stücke, in denen einen solche Sätze umhauen: „FRAU: Wozu – haben wir soviel Zeit? Und dann, kann es uns nützen – die menschliche Persönlichkeit muß in steter Selbstzucht geschaffen werden, wenn sie nach außen wirksam sein will. Um als Gemeinschaft zu arbeiten und zu leben, müssen wir gemeinsam erziehen, uns stützen, und für den Kampf nach außen hin stählen. Das verlangt eine fast übermenschliche Anstrengung. Das Oberflächlichste davon, Sichtbarste nennt man Kameradschaft. Ohne diese können wir überhaupt nichts anfangen. Sie lebendiger zu machen, ist wichtiger als seinem Haß nach zu leben.“ Mehr Stücke habe ich noch nicht gelesen, aber aus dem gehetzten, gehackten, echten Core-Groove kommt man nicht raus. Ein Akt von Saul endet mit dieser Regieanweisung: „Der hinkende Zweiviertelrhythmus eines Niggerliedes wird sich nunmehr völlig des Lesers und Zuhörers bemächtigen. Im Foyer des Hotels, möglicherweise mit Blick auf Wälder, Seen, Berge, fädeln Peter und Paul und der Dämon unbefriedigter Frauen eine Intrige. Sprich verstohlen mit dem, der dir am nächsten ist.“

Die Entdeckung im neuen Tumult (Thema: Professoren) ist eine mir bisher nicht bekannte Ursula Gassmann und ihr Aufsatz „Absage an den Humanismus – ein progressives Projekt?“, in dem sie die ganze Debatte über das Ende des Menschen und den Vorwurf, den Ferry/Renaut im Namen des Humanismus dem „68er Denken“ in Frankreich, also vor allem Foucault, machen, nicht nur auf den Punkt bringt/entkräftet, sondern das dialektische Problem, inwieweit ein Begriff vom Menschen und seine Ableitungen, etwa die abstrakten sogenannten Menschenrechte, reale Menschen ausgrenzt/einschränkt oder zu einem (idealen) Menschen hin führt/erzieht, übersichtlich ausbreitet. Über eine Diskussion von Heideggers Humanismusbrief und eine Konfrontation und „Durchkreuzung“ mit allerlei davon Nahem und Fernem versucht sie, jenseits des aktuellen Heidegger-(War er, wie die Beastie Boys meinen, ein Nazi?)-Streits und diesen gegen den berühmten Strich lesend, eine Klärung dieser Frage, die auf eine angenehm bei aller philosophiegeschichtlichen Immanenz nicht ganz unlinksradikale, klare, fast lakonische Art natürlich auf eine Verteidigung der 68er-Humanismus-Kritik als Kritik der Ausgrenzung von Barbaren hinausläuft, nicht ohne notwendigerweise die Aktualität des Problems zum Beispiel an der Berichterstattung der taz über die letzten Kreuzberger Partys als Ergebnisse eines solchen Humanismus des römischen Reichs zu zeigen (Tumult – Zeitschrift für Verkehrswissenschaften, Nummer 13, Boer-Verlag, München 1989).

Auch Gilles Deleuze meint im neusten Interviewband des Merve-Verlags, Pariser Gespräche, geführt von François Ewald, daß wir nichts weniger bräuchten als eine Marxismus-Kritik, sondern vielmehr eine neue Theorie des Geldes, die den Marxismus aufgreift und vielleicht über ihn hinaus führe. Das Interview mit ihm ist so wunderschön wie das mit Foucault, die anderen sechs habe ich noch nicht gelesen, aber dieses hier von Deleuze muß reichen: „Man spricht uns von der Zukunft Europas und von der Notwendigkeit, die Banken, die Versicherungen, die Binnenmärkte, die Unternehmen, die Polizeien zu harmonisieren. Konsensus, Konsensus …! Aber das Werden der Leute? Wird uns dieses Europa seltsame Werden bringen, neue 68? Was werden die Leute werden? Das ist die Frage voller Überraschungen, nicht die Frage nach der Zukunft, sondern die Frage nach dem Aktuellen oder dem Unzeitgemäßen. Die Palästinenser sind das Unzeitgemäße des vorderen Orient, die die Frage nach dem Territorium auf die Spitze treiben. In den Unrechtsstaaten ist das, was zählt, die Natur der Befreiungsprozesse, die durchaus nomadisch sind. Und in den Rechtsstaaten sind es nicht die erworbenen und gesetzlich verankerten Rechte. sondern das, was derzeit die Errungenschaft des Rechtes in Frage stellt. (…) Aber heute genügt es nicht, konkret ‚Stellung zu nehmen‘. Man müßte eine gewisse Kontrolle über die Ausdrucksmittel haben. Andernfalls ist man gleich im Fernsehen, antwortet auf idiotische Fragen und ‚diskutiert ein bißchen‘.“ (François Ewald, Pariser Gespräche, Merve Verlag, Berlin 1989).

Auf genau diese doppelstrategische Antwort kommt Alain Finkielkraut nicht, der in seinem Essay, Die Niederlage des Denkens (Rowohlt, rororo aktuell, Reinbek bei Hamburg 1989) durchaus im Ansatz berechtigt, der Frage nachgeht, inwieweit die Rede von der Pluralität der Kulturen eine rechte Rede, eine, die Ausländer rausschmeißen will, ist und auch mit dem Ende der Vollbeschäftigung bezeichnenderweise auftauchte. Wie sie einen Universalitätsanspruch des Denkens, der hingegen progressiv und angebracht sei, durch eine beliebige Affirmation der Unterschiedlichkeit und Inkommensurabilität der Kulturen besiegt hätte. Finkielkraut schüttet dabei allerdings das Denken mit der Postmoderne aus. Seine Kritik der Beliebigkeit des heutigen Kulturbegriffs, seiner Nivellierung in einer gleichartigen Verschiedenheit bunter Ameisen, trifft zwar im Kern zu, berechtigt aber nicht ein Zurückgehen dahinter (unausgesprochen natürlich, bei Finkielkraut wird aus diesem Widerspruch ein alter Gegensatz zwischen Herder [„Volkskultur“] und Goethe [„Künder der Weltliteratur“], der nun wirklich nicht mehr das Problem, um das es hier geht, berührt) zu fordern, sondern eben jene Doppelstrategie, die gerade weil sie universale Verbindlichkeiten des Denkens kennt, unterschiedliche Begriffe von Progressivität und auch Kampf benutzt, je nachdem, ob schwache Staaten und starke Staaten/Nationalökonomien sich gegenüberstehen oder ob Einzelne oder Minoritäten irgendwelchen Staaten gegenüberstehen, bzw. überhaupt, wer welche Position im Weltausbeutungszusammenhang einnimmt. Entsprechend muß mit dem bei Finkielkraut eben nur als Gesamtphänomen halbrichtig wahrgenommenen Kulturvernebelungszusammenhang verfahren werden. Denkt man allerdings – und hier sind wir angesprochen – wie Finkielkraut über z. B. Underground-Kultur nur an Live-Aid entlang nach und damit vorbei, darf man sich über die fatalen Perspektiven und Pessimismen nicht wundern, die immer auch auftauchen, wenn ältere Männer im Gesamtgewimmel der Welt nur noch den Aspekt wahrnehmen, nicht mehr selber ganz so mitwimmeln zu wollen/können – was zunächst völlig okay ist – und absolutieren. Für dieses Buch spricht höchstens, daß es die entscheidenden Problematiken (Kultur vs. Denken, Ermordung von [auch Dritte-Welt-] Kultur durch als Toleranz maskierte Relativierung, Rassismus der meisten Nichtrassismen: Wir sind nicht die Welt, wir sind nicht die Kinder, und wir haben auch nicht das Geringste verstanden, wenn wir es kulinarisch versöhnungsbegeistert goutieren, wenn Senegaleser, Inder und Louisianer erfrischend unzusammenhängend friedlich auf Festivals jammen, nur weil sie zum größten Teil aus Ländern kommen, in denen andere hungrig sind. Youssou N’Dour – nichts gegen ihn persönlich, aber gegen seine musikalische Gewissensentlastungsfunktion für u. a. Peter Gabriel – ist in seiner Heimat ein Aristokrat, ich schweife ab.) populär und prägnant in die richtigen Zusammenhänge bringt, unter Ausblendung der Frage, warum sich unter Verwendung eines Kulturbegriffs einige Leute/Praktiken in the first place auch zu Recht gegen ein DAS Denken aufgelehnt haben bzw. sich seinen Begriffen entzogen. Unter den französischen Philosophen, deren bloße Zahl, Output, Erfindungsreichtum, weltweite Einzigartigkeit den deutschen Leser oft fasziniert einnebelt, ist aber mittlerweile auch deutlicher als früher groß und mittelgroß unterscheidbar und auch zu erkennen, daß über Deleuze und Foucault bisher niemand wirklich hinausgekommen ist – es sei denn auf Spezialgebieten –, was mit der Tatsache korreliert, daß man sich im Dritten Programm eine Pasolini-Dokumentation ansehen kann oder beim Essen in einem Yuppie-Restaurant ein Franz-Jung-Drama lesen, und nicht im geringsten gefährdet ist, einem beliebig-pluralen Kultur-Gewimmel zum Opfer zu fallen. Denn entweder befindet sich ein Text in dem Groove, in dem der körperlich wahrnehmbare Beat politischer Wahrheit den Takt angibt, oder Jerry Lee Lewis spuckt ihn wieder aus.