Bücher für jene Übermenschen, die …

Improvisation – einst Waffe der Befreiung in den Händen von Jazz und Jackson Pollock, und immer wieder dann, wenn die Opposition Befreiung versus starre Formen mal wieder ihre ganze Banalität erreichte, aber auch Vorwand für unklare Haltung, Solipsismus, religiöse Irrwege und irgendwann sogar für das der Idee der Improvisation widersinnige Festschreiben von gewissen „intensiven“ Sounds (das überblasene Saxofon, die wimmernde Gitarre), schließlich das Ausliefern an die ewigen Dynamiken der Gattungen und Instrumente, Entmündigung des Musikers. Derek Bailey, der freieste Gitarrist der letzten, mindestens, zwanzig Jahre und so was wie ein unbestechlicher Guru der ganz freien Musik, die zur Bedingung von Freiheit, zumindest in seiner Musik, macht, daß jede Tonfolge, die sich auf irgend etwas beziehen könnte, ausgemerzt gehört, also ein echt donquijotistisches Unterfangen angesichts der Endlichkeit möglicher Tonkombination (auch wenn das Reiskorn-Schachbrett-Beispiel für ihn spricht: seine Skala kennt mehr als sieben, auch mehr als zwölf Töne), hat ein Buch geschrieben (Improvisation), das nicht nur im Kulturvergleich (indische Musik, Jazz, sogenannte Free Music, Rock) das Wesen der Improvisation, ihren fortgesetzten Kampf gegen die Notation, ihre Bedeutung für die Entstehung der klassischen europäischen Musik untersucht, sondern darüber hinaus grundsätzliche, gerade auch im Zeitalter von Sampling und Beatbox diskutable Behauptungen aufstellt, wie z. B. die, daß das Musikinstrument in dieser Kultur noch gar nicht annähernd verstanden worden ist, weil die ganze Vermittlung von und Erziehung zur Musik über ein abstraktes System organisiert ist und nicht über die Erfahrungen mit dem Instrument. Baileys Forderung nach Vertiefung in das Instrument, seine Erklärungen der Barockimprovisation etc. sind darüber hinaus gut geschrieben und zum Teil von Alexander von Schlippenbach übersetzt worden, dessen Credo man sicher auch ganz gerne mal lesen würde. Tagebücher sind auch so eine Form, die nicht erst Heiner Müller und die seine Interviews verschlingenden Spex-Leser zu Recht angezweifelt haben. Etwas anderes sind die von Paul Valéry, für den wie für Goethe, Thomas Mann et al. gilt, daß bei Autoren, die ein Leben an einem Werk gesessen haben, Tagebücher einen anderen Stellenwert einnehmen. Nach irgendeinem Pech mit irgendeiner Frau nahm sich Paul Valéry vor, jeden Morgen von 5 bis 8 Uhr zu denken. Was an zusammenkondensierten, wenigen Sätzen an so einem frühen Morgen entstand, wurde dann geprüft und nach einem ausgedachten System verschiedenen Heften zugeordnet, die z. B. „Ego“, „Ego Scriptor“, „Homo“, „Theta“, „Eros“ oder „Bios“ hießen. „Diese geile Scheiße muß ich haben“, hörte ich meine Stimme, die wie die eines mir eben vorgestellten Fremden klang, sagen, als ich den ersten Band der auf sechs Bände angelegten Ausgabe von Valérys Cahiers für DM 78,– in der Buchhandlung liegen sah. Man wird ganz zweifellos süchtig von dem Kram, und nur ein Vollbrankrott konnte mich die Woche drauf davor retten, auch noch DM 98,– für den Briefwechsel zwischen Valéry und André Gide auf den Tisch zu legen, wo es seitenweise um Papiersorten geht und Urlaub und zwei Freunde, die sich an ihrer gegenseitig bewunderten Verschiedenheit und der dem jeweils anderen total unverständlichen Unverständlichkeit freuen konnten: „Ego. Ich erkenne klar …“ Valéry versicherte sich immer der Klarheit dessen, was er in der Morgensonne notierte: „Ich erkenne klar, daß meine einzige Absicht im Intellektuellen und im Vitalen die war, mit der ganzen Vagheit der von so vielen Leuten vorgebrachten Gedanken aufzuräumen. (…) Der Ideenbestand, von dem ein Großteil der ‚kultivierten Leute‘ zehrt, ist das Erbe einer gewissen Anzahl von Individuen, die allesamt von philosophischer und literarischer Eitelkeit getrieben und inspiriert wurden, von dem Ehrgeiz, über andere Geister zu herrschen und ihren Beifall zu finden.“ Der Band hat über 600 Seiten voller Sätze wie diesem, und wer da widerstehen kann, der ist zu Unrecht noch immer mit der Verklemmtheit vernagelt, die einen zwischen 21 und 28 glauben läßt, eine bis an seine Grenzen gequälte Ergründung des bürgerlichen Ich sei pubertär oder gar bürgerlich (lach!). Denn von einem bestimmten IQ an ist es genau das: Denken. Hier kommt allerdings echte K-Cred, Street-Cred, Polit-Cred. Von der Franz-Jung-Ausgabe des nautilus-Verlages ist nach den Bänden 1/1, 1/2, 2, 6 (besonders empfehlenswert!) und 8 sowie dem Sonderband Der Weg nach unten (remember: fünf Jahre Spex im November 85, Dexys-Nummer, das Zitat über dem Inhaltsverzeichnis) nunmehr Band 10 erschienen. Der sogenannte Industrieroman Gequältes Volk, ein seinerzeit (1927) von allen linken (sozialdemokratischen, kommunistischen und anarchistischen) Verlagen als hervorragend, aber „für unsere Leser zu harte Kost“ befunden – die elende Erfindung des Lesers gab es also damals schon. „Unsere Leser“, der Kampfruf der Literaturfaschisten. Shame on me: wie oft mußte ich es freien Mitarbeitern zurufen! – abgelehnter hardcore-sozialistisch-realistischer Roman, der die Atemlosigkeit der früheren Franz-Jung-Eheterrorgeschichten in politische Kämpfe trägt. Atemlosigkeit – diese andere Unternehmung zur Abschaffung der wohlgeformten und -gebauten dramatischen Handlung (neben Abbau und Stillstand der äußeren Welt um 5 Uhr morgens): Ereignisüberflutung. Daß in diesem Buch bereits der Wald stirbt („rußbeschwert“), mag Leuten, die solche Argumente brauchen („prophetisch“), ein zusätzlicher Anreiz sein. Andere mögen sich an dem expressionistischen Sprachknirschen stören, diese mögen ruhig husten und sich von ihrer Mutter den Rücken freiklopfen lassen: Wie aus dem unnachgiebigsten Aufbegehren gegen Stil ein Stil wird, gehört auch hier zu den größten Vergnügen an der Jung-Lektüre. Auch wenn zum Einstieg weiter Der Weg nach unten empfohlen sei. Dazu die andere Seite jetzt: die Memoiren der Cläre Jung. In Paradiesvögel erzählt eine dieser Frauen ihr Leben (das nur sehr zeitweilig an der Seite von Franz Jung verlief, die aber an der Wiederentdeckung und dem Zugänglichmachen verschollener Manuskripte des Dichters in ihren letzten Lebensjahren maßgeblichen Anteil hatte), die sich noch mit über achtzig Jahren Zigarre rauchend und Schnaps trinkend fotografieren ließ. Von Else Lasker-Schüler zur SED-Kulturpolitikerin und wieder zurück, nicht zu verwechseln mit den geschwätzigen, eitlen Erdbeertorteletten-für-Kokoschka-Memoiren der Claire Golls und Alma Mahler-Werfels dieser Welt; das Büttner-Diktum, die Männer schrieben auf, was gut und wichtig war, die Frauen, was sonst noch so passierte, macht den Reiz dieser Biographie denn auch nur teilweise aus. Leider wurden diese Erinnerungen schon 1955 abgeschlossen, so daß die letzten knapp dreißig Jahre DDR fehlen, hierzu lesen sich auch sehr gut die Briefe zwischen Franz und Cläre, die im zweiten Band der Nettelbeck-Verlag-Ausgabe des Weg nach unten (über zweitausendeins) erschienen sind. „‚Es fehlen uns die Waffen‘, das war die allgemeine Ansicht. ‚Es müssen ein paar Leute gehen und Waffen holen.‘“ Daß diese Waffen und ihre Epoche letzten Endes nicht Leben erfüllten und rund und süß und trunken machten, sondern Leben zerstörten, liest sich etwas ergreifender und nachdrücklicher aus Franz Jungs Schilderung derselben Schicksale. Andererseits war Cläre die Schlauere, weniger Starrköpfige, ob man sie dafür bewundern oder weniger bewundern soll, vermag ich nicht zu entscheiden. Wahrlich, wir leben in helleren Zeiten!

Derek Bailey – Improvisation. Kunst ohne Werk, DM 28,–, Wolke Verlag

Paul Valéry – Cahiers/Hefte, Band 1, DM 78,–, S. Fischer

Franz Jung – Gequältes Volk, Werke 10, DM 25,–, nautilus

Cläre Jung – Paradiesvögel, DM 36,–, nautilus