Bücher sind schwerfällig. Wie kann ein unbekanntes Buch meine Aufmerksamkeit erlangen. Platten sind so schnell, Filme auch. Aber wieviel Schrott muß man lesen, um ein neues interessantes Buch zu erwischen. Was wird überhaupt noch geschrieben? Eitle Szenen-Lyrik, sexistische, alkoholistische Bukowski-epigonale Gossen-Literatur, dickleibige Lebenshilfe für Studenten und Hausfrauen, von Vipassana Meditation über den Widerstand in Sonstwo und wieder Lyrikbände, Großstadtrahmen, indische Meister, der Weg zu sich selbst. No Fun.
Was bleibt mir also, als über einige untereinander thematisch nicht-zusammenhängende Bücher zu berichten, die ich in der letzten Zeit gelesen habe, und die neu sind.
Das heißt nicht neu, aber möglicherweise demnächst nicht mehr zu haben sind einige Bände der Rowohlt-Reihe, „das neue Buch“, die ich in verschiedenen deutschen Großstädten in Ramschkästen gesehen habe, zu Preisen zwischen 4 und 6 Mark. Tom Wolfe: „Radical Chic oder Mau Mau bei der Wohlfahrtsbehörde“. Alte Zeiten. Ein Höhepunkt des New Journalism. Leonard Bernstein gibt eine Party in seinem Duplex-Appartement für die Black Panther.
Endlich hat Cox sich gefangen. „Davon wissen wir überhaupt nichts“, sagt er. „Wir bedrohen niemanden. Desgleichen befürworten wir Gewaltanwendung nur zur Selbstverteidigung, denn wir sind ein Kolonialvolk in einem kapitalistischen Land… verstehen Sie?… und das einzige, was uns bleibt, ist, uns gegen Unterdrückung zu verteidigen.“ Quad versucht das Ganze umzudirigieren – Aber unvermittelt meldet sich Otto Preminger vom Sofa aus, auch ganz dicht neben Cox, zu Wort: „Er hat vorhin einen wichtigen Ausdruck gebraucht“ – jetzt sieht er Cox an – „Sie haben gesagt, dies ist das repressivste Land der Welt. Das glaube ich nicht.“ Cox sagt: „Lassen Sie mich die Frage beantworten“ – (…) Preminger redet noch immer auf Cox ein: „Sind Sie der Meinung, daß diese Regierung repressiver ist als die nigerianische?“ (Aus „Radical Chic“)
Ebenfalls verramscht wird Ed Sanders’ Charlie Manson Reportage „The Family“.
Er berichtet ausführlich über einen kurzen Filmstreifen mit einem toten weiblichen Opfer am Strand. Anfangs wurde er gefragt, ob er etwas über solche Filme wisse. Hier seine Antwort: F: Von welchem Tötungsfilm wissen Sie etwas? A: Ich weiß nur, wie eine junge Frau, vielleicht siebenundzwanzig, kurzes Haar… ja… und sie haben ihr den Kopf abgehackt, das war… F: Wo war das? A: Wahrscheinlich, na, der Landschaft nach irgendwo am Highway 1, am Strand. (Aus einem Interview über Tötungsfilme die Manson und die Familie gedreht haben sollen).
Dieter Prokop (Autor von „Soziologie des Films“) hat ein Buch „Faszination und Langeweile“ genannt, das sowas wie eine Mediensoziologie liefert (bei dtv als Taschenbuch für 12,80 DM), sich aber nicht scheut, auch einige ästhetische Fragen im Schnellverfahren zu klären. Da gibt es z.B. eine naiv-amüsante Unterscheidung zwischen „guten“ und anderen Produkten. Beispiel für gute Produkte ist – wie könnte es anders sein – Charlie Chaplin. Trotzdem lohnt es sich, wegen der Tabellen, Statistiken das Buch mit „kritischer Distanz“ zu lesen.
Ein faszinierendes Buch zum Medienthema ist Jean Baudrillard: Kool Killer (Merve Verlag, 6,-). Jean Baudrillard wurde bekannt durch sein bei uns immer noch nicht erschienenes „Oublier Foucault“ (Foucault vergessen), ein Versuch ein Intellektuellen-Idol zu demontieren. „Kool Killer“ vereinigt einige neuere Aufsätze zu Themen unserer Zeit. Philosophischer Punk. „Unser Theater der Grausamkeit“ (1. Mogadischu, 2. Stammheim) führt die gängigen Interpretationen des Terrorismus durch die Massenmedien ad absurdum („Alles Quark“), „Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen“ handelt von der subversiven Kraft des Graffitis in New York: „Politisch wirklich von Belang ist also nur das, was heute diese Semiokratie (Herrschaft der Zeichen, die von Radio, Fernsehen etc. gesendet werden)… attakiert. In diesem Sinne läßt sich das jähe Hereinbrechen der Graffiti über die Wände, Busse, U-Bahnzüge New Yorks wie auch das Hervorbrechen wilder Wandmalereien … deuten.“ Andere Aufsätze versuchen Vorstellungen, Ideen über Massenmedien zu entwickeln, jenseits von McLuhan und Enzensberger.
In einem anderen Band des Merve Verlags, Kollektiv A/traverso: „Alice ist der Teufel – Radio Alice (Bologna)“ sind einige Sendungen von Radio Alice dokumentiert (mit Musikprogramm), dazu Erklärungen, Kommuniques, Dokumente aus/über die „Praxis einer subversiven Kommnikation“ durch diesen Piratensender. „Die Diktatur des SINNs zersprengen, das Delirium in die Ordnung der Kommunikation einführen…“ (Radio Alice).
STARLESS AND BIBLE BLACK hieß eine King Crimson-LP, (Bob) Dylan heißt ein bekannter Sänger, das erste ist ein Zitat von, das zweite der Vorname des in Deutschland immer noch wenig rezipierten Lyriker, Dramatiker usw. Dylan Thomas. Für mich das beste in englischer (amerikanische ausgenommen) Sprache (mit ein paar anderen Autoren zusammen), was in den letzten 50 Jahren erschienen ist. Dtv legt jetzt ausgewählte Essays, Hörspiele und das Drama „Unter dem Milchwald“ („Under Milkwood“) zusammen für 9,80 DM als Taschenbuch vor. Dylan Thomas starb 1953, nachdem er einen Weltrekord im Whiskytrinken aufgestellt hatte. Es wird endlich Zeit, sich seiner zu erinnern. Beim Lesen lege man sich John Cale PARIS 1919 auf, vor allem „A Childs Christmas in Wales“ (Dylan Thomas war Waliser) oder „The Soul Of Patrick Lee“ aus CHURCH OF ANTHRAX. Es ist kaum zu vermeiden, das elende Wort „Poesie“ zu verwenden.
Und seht auch in dem zungenschlagenden Strom die großen monokeltragenden Männer, die nach Sattelseife und Klubsesseln riechen und ein erlesenes Gemisch von Whisky und Fuchsblut atmen, mit den großen vorstehenden Hauern der oberen Klassen und mit Grafschaftsschnurrbärten, Erscheinungen, die vermutlich in England erfunden wurden (…). Und die metallisch dröhnenden eisig-unverfrorenen Mannweiber mit Wellblechdauerwellen und Nilpferdhäuten… (Dylan Thomas über die Schiffspassagiere nach New York).
Jeder Zweite scheint heutzutage das Bedürfnis zu haben, sich poetisch zu äußern. Gedichte schreiben ist ganz einfach. Formgesetze gelten eh nicht mehr, und das letzte Problem, einen Verlag zu finden wird durch unzählige Minipressen, hektografierte Zeitschriften und Selbstvertriebe gelöst. Doch im Gegensatz zu Musik und Video hat die anyone-can-do-it-Bewegung in der Lyrik keine Vorwärts-, sondern Rückentwicklungen gebracht, heim und back zu romantischem Sud, Innerlichkeit, Schleim, Schlamm, süßlichem Gesäusel, Tiefsinn. Wir ignorieren.

