Wie vorherzusehen war, schwappt eine Weile von Neuerscheinungen zum Thema 1984 in die Buchhandlungen
Das Friedensjahr 1983 endet mit Hochrüstung; aber mit der ominösen Jahreszahl Neunzehnhundertvierundachtzig wird sich eine neue „Bewegung“ einmal mehr bereit erklären, eine allgemeinverständliche Minimalforderung zu stellen: den Nichtabbau der bürgerlichen Freiheiten. Die Rettung des Individuums.
Der Überwachungsstaat schaffe sich immer neue Methoden der Bespitzelung und Auskundschaftung; das Sicherheitsbedürfnis der Nuklearindustrie erfordere unmäßige Kontrolle; neue Medien, Kabel und Dateien knüpfen ein lückenloses Netz, um den Untertanen, citoyen, citizen, civis, einzelnen, DAS INDIVIDUUM, in jeder Nuance zu erfassen; fälschungssichere Personalausweise und elektronisch aufgezeichnete Sünden vermiesen den Individuen ihren Individualismus, und unsere schöne „Demokratie“ (deren Erhaltung bekanntlich wichtiger ist als der Fortbestand der Welt) wird zum „totalitären“ Staat. So und ähnlich sehen es die Verfasser von Anthologien, Broschüren, Agenden, Kalendern und Postkarteneditionen, die zur Zeit zum Thema publizieren. Woher kommt so ein Denken?
1948 war die Geburtsstunde des Romans „1984“ und gleichzeitig die eines neuen Welt- und Feindbildes. An die Stelle der alten Gegensätze Sozialismus/ Kapitalismus, Kapital/Arbeit, Unternehmer/Arbeiter, Freiheit/Faschismus traten neue Polaritäten und die soziale Frage wurde kurzerhand suspendiert. Das weltpolitische Böse, das Nazireich und seine Ideologie waren zerstört und lagen vernichtet danieder. Eine Weltsicht mußte her, die das Gemeinsame des alten bad guy (Adolf) und des neuen (Iwan) hervorheben sollte. Churchill erhielt in den Kriegsgefangenenlagern die alte Struktur der Wehrmacht aufrecht und war bereit, Millionen deutscher Kriegsgefangener gegen die Rote Armee ins Feld zu jagen. Die Chance, das störende Sowjetreich zu besiegen, war für den Westen nie größer als zur Stunde Null. Die dazu und darumherum betriebene moralische Aufrüstung erfand den Totalitarismus, der eine Kontinuität der Kämpfe gegen den Faschismus mit den bevorstehenden Kämpfen gegen den, wie auch immer entstellten, Kommunismus vorspiegeln sollte.
Links und rechts war nun nicht mehr das Problem. Sowohl links als auch rechts waren abzulehnen, eine ominöse Mitte, die den Standort eines ideologielosen Kapitalismus markierte, war die gute Seite. Meine Generation wurde nach der Maxime erzogen, daß es prinzipiell zwei Staaten gäbe, solche mit Pressefreiheit und solche ohne; letztere spielten meistens auch schlechter Fußball. Der neue Gegensatz hieß Demokratie/Totalitarismus und bildet bis heute die gültige Rechtfertigung für sämtliche noch so sinistren imperialistischen Reflexe des westlichen Bündnisses. Ein Manifest dieser Gesinnung war der Roman „1984“, geschrieben von einem Labour-Party-Member, das sich von Stalin persönlich enttäuscht fühlte und dem im spanischen Bürgerkrieg die Begriffe abhanden gekommen waren, als sich plötzlich Linke untereinander bekriegten. Moskaus brutales Vorgehen gegen Anarchisten und Trotzkisten rächte Orwell, der an der Seite der trotzkistischen Miliz P.O.U.M. gegen den Faschismus gekämpft hatte, indem er Stalin als diesen legendären Big Brother porträtierte, der mit seinen Televisoren in alle Winkel der Welt blicken konnte.
Das Interessanteste an Orwells SF-Vision ist die Darstellung der Propaganda im totalen Staat, in die manches Zeitgenössische wie der gerade erfundene neue Gegensatz (Demokratie/Totalitarismus) bewußt oder unbewußt eingegangen zu sein scheint. Die Technik, Politik mittels willkürlicher Benennungen zu rechtfertigen, durch Begriffe Realitäten umzuschreiben, beherrscht Orwells Ministerium der Wahrheit bereits zu einer Zeit, als man sich Begriffspaare wie „Arbeitgeber/Arbeitnehmer“, die Formel von der „Sozialen Marktwirtschaft“ oder das mythische „Wachstum“ erst noch ausdenken mußte. Werner Meyer-Larsen geht in seinem Beitrag zu dem von ihm herausgegebenen „Spiegel“-Buch „Der Orwell-Staat“ recht ausführlich auf derartige Sprachregelungen ein und bringt diverse Beispiele aus Ost und West. Die westlichen sind dabei meistens die raffinierteren, schwerer durchschaubaren.
Bezeichnend auch, daß das im 1984-Staat proklamierte „Zwiedenken“, von Orwell hilflos als eine Entlarvung vermeintlich verlogen-totalitärer Züge des dialektischen Materialismus gedacht, sich in diesen meistens dichotomen Sprachregelungen wiederfindet. Doch wer nur in Gegensatzpaaren denkt, denkt nicht dialektisch. Wer die Welt in Gut und Böse aufteilt, ist kein Hegelianer. Ronald Reagans sogenannte „Jedi-Rede“ („Die Sowjetunion ist das Imperium des Bösen“) verdankt sich nicht der Dialektik, sondern, wie von der US-Publizistik richtig erkannt, „Star War Teil III“ und dem Zwiedenken im „Wahrheitsministerium“.
Dennoch gilt für den Westen prinzipiell, daß nicht die Propaganda-Lüge, sondern subtilere, eben liberale Täuschungen die Regel sind. Die Lüge ist eine stumpfe Waffe und entspricht in der Geschichte der Propaganda dem Bajonett. Der Westen ist aber im 20. Jahrhundert auch auf diesem Sektor, im Gegensatz zum propagandistisch rückständigen Osten, längst bei atomaren Mehrfachsprengköpfen angelangt. Die meisten Autoren der neuen Bücher zur Orwell-Bewegung wie „Der große Bruder ist da“ (herausgegeben von Alfred Pfaffenholz) und „Orwells Jahr“ (herausgegeben von Dieter Hasselblatt), um nur die interessanteren zu nennen, orten die Gefahren, die das Ministerium der Wahrheit symbolisiert, vor allem im Osten, wo unsere segensreiche Pressefreiheit fehlt und Meinungen der staatlichen, nicht der Kontrolle eines freien Marktes unterliegen. Nein, für den freien Westen fürchten sie Bespitzelung, Überwachung, Volkszählung, Dateien, BKA etc. und deren Folgen auf theoretisch-philosophischer Ebene: das Verschwinden der freien Entfaltung des bürgerlichen Individuums.
Ja, ja, das Individuum. Erfunden wurde es im ausgehenden 18. Jahrhundert. Während um sie herum das Bürgertum aufstieg, der Kapitalismus sich durchsetzte, die Industrialisierung begann, entdeckten nahezu zeitgleich Literatur, Medizin, Kriminologie, Pädagogik etc. den einzelnen. Und sie gingen ihm nach. Verfolgten seinen Weg, bespitzelten ihn. Die Mediziner schrieben Krankengeschichten, die Kriminologen individualisierten das Beweismittel, die Schriftsteller schrieben Bildungsromane. Die Überwachung des Individuums machte das Individuum sichtbar, erst möglich.
… gut 200 Jahre später. In der Zwischenzeit war alles weitergegangen, vorwärts und voran. Individualismus ist die Doktrin der westlichen Industriegesellschaften geblieben. Das Oberindividuum ist dort der Star. Wie Steckbriefe eines gesuchten Verbrechers hängt sein Bild an allen Ecken des Öffentlichen. Sein „individuelles“, intimes und privates Leben wird bis ins Detail ausgeforscht. Das Superindividuum der Zukunft, der Bürger des gefürchteten Orwell-Staates, lebt bereits als Vorbild im Star. Er ist das perfektionierte Individuum.
Das perfektionierte Individuum führt zwangsläufig zum perfekten Überwachungsstaat. Denn darin besteht die große Lüge der bürgerlichen Freiheit, daß das Individuum, gottgegeben, jenseits des Blickes, der auf es gerichtet ist, existiere. Ohne Überwachung kein Individuum, erst der fälschungssichere Personalausweis gibt ihm seine letzte Weihe, vollendet seine Existenz, bescheinigt ihm garantierte Einzelhaftigkeit. Der Scheinwiderspruch Individualismus/Big Brother ist nur dazu da, von den realen Widersprüchen abzulenken.
Als wir Schüler in den frühen Siebzigern Orwell lasen, wollten wir eh keine Individuen sein, und wir waren trotzdem fasziniert. Mit welcher Lust eine Welt beschrieben wurde, die nur mies, falsch schlecht und verregnet war. Dieser Wille zum Drittklassigen, zum Dreck. Der eklige Victory Gin, die Einheitskleidung, die Formelsprache (ENGSOZ), der Unrat und die Armut. Wir kauften uns gleichförmige, schrabbelige Trainingsanzüge und hörten David Bowies „l984“ und „Big Brother“: „Someone to blame us/someone to follow/someone to shame us/.. /someone to fool us/someone like you/We want you, Big Brother!“
Andy Warhol erklärte zur gleichen Zeit, er wünsche sich den Overall als Einheitskleidung. Wir liebten die Zeitschrift „China im Bild“. Andy Warhol sagte, jeder werde in der Zukunft für fünfzehn Minuten berühmt sein. Jeder ein Star, jeder im Show Business, jeder im Computer, jeder in der beobachtenden Fahndung. Es war logisch und simpel. Bis zum Überdruß waren wir vollgepfropft von liberaler Verschleierung aber wir reflektierten oder verbalisierten unser Unbehagen nicht, sondern wir verliebten uns in das, was im liberalen Weltbild der Feind ist. Totalitarismus ist geil.
Nichts von alledem in den neuen Büchern zum Thema. Hier laßt man sich ganz auf den alten Mythos ein, wie in den Fernsehdiskussionen, wie überall, mal mehr, mal weniger intelligent. Es interessiert nur am Rande, wie das Buch geschrieben ist, welcher Tatsache es seine ungeheure Wirkung verdankt (nämlich der, daß es so gut geschrieben ist, mit dem Herzblut des Enttäuschten). Auch nicht, wie es heute anmutet: seltsam, sich mit der schrabbeligen, schon zur Entstehungszeit veralteten Televisor-Technologie ernsthaft auseinanderzusetzen. Es interessiert meistens ausschließlich die konkrete Anti-Utopie und die Wahrscheinlichkeit ihrer Durchsetzung. In Hasselblatts Buch gibt es ein paar hübsche Spinnereien aus dem Science-Fiction-Genre, aber auch Leszek Kolakowski und einen Jörg Fauser, der darauf verweist, Sorgen müsse man sich eher um die „barbarische Wirklichkeit“ im Osten als um etwaige Gefahren eines totalen Kapitalismus (der Faschismus heißt) im Westen machen. Bei Alfred Pfaffenholz überwiegt die konkrete Angst vor konkreten Maßnahmen von Innenministerium und BKA. Nicht zu Unrecht, natürlich. Dennoch begegnet man zu oft dem Denkfehler, nicht nur in diesen Büchern, die neuen Medien und Technologien seien der Motor einer neuen Repression. Sie sind lediglich ein Mittel, über dessen Einsatz nach wie vor politische und ökonomische Faktoren entscheiden. Es geht um die Software, um die Programme im Hirn des Zimmermanns, und das ist die uralte klerikalkonservative, faschistoide Scheiße des vorvorigen Jahrhunderts. Oder So.
Gleichzeitig wird immer wieder vergessen, daß die dergestalt verteufelten neuen Medien ein ebenso großes neues Feld für Unterwanderungen und andere subversive Betätigungen eröffnen. Früher wurden aus Einwohnermeldeämtern Blankopässe entwendet, morgen können es Codewörter sein. Die archaisch-stalinistische Gedankenpolizei von George Orwell hatte keine Gegner zu fürchten; der Computerstaat wird sich dagegen mit Heerscharen von Computer-Kids herumzuschlagen haben. Es ist also nur eine sentimentale Fehleinschätzung, massenweise das Beibehalten einer Schimäre (bürgerliche Freiheiten) einzuklagen. Es kommt jetzt darauf an, die neue Lage zu erkennen, sich neuer Medien und Techniken zu bemächtigen und dabei schneller zu sein als der derzeit herrschende katholisch-konservative Klüngel.
„Liebe ist verboten im neuen Staat“, greinte schon Peter Maffay vor Jahren, Orwell-inspiriert. Und dieses Leitmotiv durchzieht denn auch zu viele der „1984“-Texte, die man uns jetzt vorlegt. Die Liebe setzen neue und alte Staaten nur zu gerne für ihre Zwecke ein, das sollte bekannt sein, 1 und wir fanden die Affäre von Orwells Winston Smith schon immer sehr weinerlich und doof, die große literarische Schwäche des Romans.
Komisch, daß dieser kleinbürgerliche Unsinn jahrzehntelang mehr Menschen fasziniert hat als die negativ-perfekte Welt des großen Bruders, die jenseits aller literarischen Faszination inzwischen auch aus politischen Gründen nach unserer Solidarisierung verlangt. Die „semiotische Vergiftung“ (Guattari) hat einen Grad erreicht, wo die politische Sprache ökologisch umkippt. „Alle Deutschen wollen den Frieden“, sagt Helmut Kohl. Und ihre demokratisch gewählten Repräsentanten entschieden für den Krieg. Da muß man doch dem Ministerium der Wahrheit folgen, dessen Maxime lautet KRIEG IST FRIEDEN, und fordern: „Solidarität mit Big Brother!“
George Orwell: 1984 – Ein utopischer Roman“, neu übersetzt von Michael Walter, Ullstein-Verlag, ca. 320 Seiten, 20 Mark, erscheint Anfang Februar 1984;
Werner Meyer-Larsen (Hrsg.): „Der Orwell-Staat“, Rowohlt Verlag, 189 Seiten, 14 Mark;
Alfred Pfaffenholz (Hrsg.): „Der Große Bruder ist da“, Postskriptum Verlag, 283 Seiten, 25 Mark;
Dieter Hasselblatt (Hrsg.): „Neunzehnhundertvierundachtzig“, Ullstein-Verlag, 220 Seiten, 24 Mark;
David Bowie: „1984“ und „Big Brother“ auf der LP „Diamond Dogs“


