Mit Carmel kommt zurück, was seit den Tagen, als die selbstverzehrende Blues-Röhre wohlverdient aus der Mode gekommen war, die Popmusik nicht mehr gesehen hat: die Sängerin in großen Buchstaben. DIE SÄNGERIN. DAS ORGAN.
Sängerinnen waren in den letzten Jahren Models, Imageträgerinnen, Verkörperungen ganz bestimmter signifikanter vokaler Defizite. Sie sangen leise und zerbrechlich, tonlos aggressiv oder sprachen mehr, als daß sie sangen. Egal ob sie Grace Jones, Tracey Thorne, Poly Styrene oder gar Debbie Harry und Kim Wilde hießen. Sie alle profitierten eher davon, daß sie ihre Stimmen limitierten, nur einen bestimmten Ton anschlugen, als daß sie auf traditionelle Werte des Vokalen wie Wandlungsfähigkeit, Reichtum der Stimme oder Oktavengeorgel gesetzt hätten. Anders Carmel. Sie ist wieder Sängerin. Ganze Palette, volle Düse. STIMME STIMME STIMME. Leider ist ihre nicht so gut.
Aber das macht nichts. Carmel denkt oder gibt vor, sie sei die Stimme, der offene Mund, der das Publikum ansaugt wie ein schwarzes Loch. STIMME STIMME STIMME, SEX SEX SEX.
Wenn man so denkt und 1984 lebt, orientiert man sich natürlich an Musiken großer Vorbilder, also an Billie Holiday, Edith Piaf und Aretha Franklin. Zum Beispiel. Entweder greift man deren Stile auf, oder man singt Coverversionen ihrer größten Hits. Carmel tut beides. „Willow Weep For Me“ zum Beispiel. Das Markenzeichen von Billie Holiday. Sie hätte besser ihre Finger davon gelassen.
Das Konzept, mit dem Carmel via Independents und Maxi-Singles vor einem Jahr einen kleinen Geheimtip-Status und das Cover von „The Face“ eroberte, war das einer minimalistischen, angejazzten, vollgesoulten Nouveau-Bar-Trio-Musique. Sie ließ sich nur von einem Bassisten (schwarz) und einem Percussionisten (Rasta) begleiten, was viel Platz ließ für STIMME STIMME STIMME. Doch niemand kommt mit so was in die Charts.
Also wurde für die LP und 84er Frühjahrs-Offensive massiv aufgerüstet: Mit Bläsern, Orgeln, Background-Gesang und anderen Formalien des großen 60er-Schmelz. Wenigstens der Bombast und das gewisse Stilbewußtsein, das sich bei Billie-Holiday-Remakes allenfalls andeutete, sind in dieser Carmel-Version ganz reizvoll. Ansonsten würde ich mir das Konzert zwar ansehen, aber nicht glauben, es mit etwas Großartigem zu tun zu haben.
Just another Ding aus England höchstens.

