Film des Monats im Metropolis: Der letzte Film des vor einem halben Jahr verstorbenen Regisseurs Glauber Rocha, Das Alter der Erde.
Das Licht in der südlichen Halbkugel ist so grundverschieden von dem der nördlichen, daß sich das Kino des Südens (das ja in den meisten Fallen auch das Kino der dritten Welt ist) schon in diesem Punkt völlig von den europäischen und amerikanischen Produkten unterscheiden müßte. Glauber Rocha ist einer der wenigen, die darum gewußt hatten. Das Alter der Erde beginnt mit einem Über-Sonnenaufgang, einer über-grellen, über-optimistischen Einstellung auf die hellste Sonne, die je eine Kamera erleuchtete.
Glauber Rochas letzter Film bleibt auch sein letzter, er starb im letzten August in Rio de Janeiro an Lungenkrebs, im Alter von 43 Jahren. Er hatte in den Sechzigerjahren Brasiliens einzigartige Kinobewegung „Cinema Novo“ ideologisch und künstlerisch angeführt und sich für die westliche Intelligenz zu einer Art Frantz Fanon des Kinos entwickelt. Er war ein typischer Hero der euphorischen neuen Linken, die ideale Kreuzung aus Jean-Luc Godard und Che Guevara.
Doch Exil, Krankheit und sein extrem wacher Verstand entfernten ihn im Laufe der Siebziger von dem, wofür man ihn hielt. Er entfernte sich vom Spielfilm, er entfernte sich von dem eindimensionalen Klischee einer dritten Welt, eines Brasiliens in Trance, das nur aus diesem Zustand mittels Aufklärung herausgeführt werden müßte. Glauber Rocha entdeckte gar Positives an der Regierung Ernesto Geisel und setzte sich mit seiner Intellektualität zwischen alle Stühle. Man erklärte ihn für verrückt. Das Alter der Erde wurde sein erster großer Spielfilm nach zehn Jahren. Obwohl der Begriff Spielfilm die Funktionsweise dieses Meisterwerks nur ungenügend umschreibt. Die Kontinuität des Narrativen beschränkt sich auf die Wiederkehr einzelner Figuren und Charaktere oder wie es Glauber Rocha formuliert:
Das Alter der Erde ist die Zerlegung der Erzählsequenz, ohne daß dabei der infrastrukturelle Diskurs verloren geht, der die repräsentativsten Leichen der Dritten Welt materialisieren soll, das heißt: Der Imperialismus, die dunklen Mächte, die massakrierten Indios, der Volkskatholizismus, der revolutionäre Militarismus, der städtische Terrorismus, die Prostitution der Großbourgeoisie, die Rebellion der Frauen, die Prostituierten, die sich in Heilige verwandeln, die Heiligen, die sich in Revolutionäre verwandeln …
Rocha arrangiert diese Motive in erzählenden Sequenzen, die sich (je nachdem) die Mittel des Kostümfilms, der Oper, des dokumentarischen Interviews, des folkloristisch-touristischen Dokumentarfilms, der Werbung oder des Action-Films gebrochen und verspiegelt zunutze machen. Was er tut, mit seinen Darstellungen, mit der Geschichte, den Bedeutungen, den Klängen und den Bildern, hat keinen Namen, entspricht keiner Methode, geschieht wie von selbst. Rund um die Kamera ist ein freies Land entstanden. Um sie herum bewegen sich die Ideen vom Kino und von Brasilien. Und wenn der Regisseur vor die Kamera tritt und einen Darsteller nachschminkt oder ein Gestolperter vor Schmerz brüllt und dann zur Kamera „Entschuldige, Glauber!“ ruft, sind das keine didaktischen Gags wie bei Brecht oder Godard („Wir sind die italienischen Statisten von der Koproduktion“), sondern es ist nichts besonderes im Zusammenhang der anderen Ereignisse rund um diese Kamera.
Nach zwei Stunden meldet sich der Regisseur zu Wort und erklärt sich in einer Art Manifest, das notwendigerweise fragmentarisch und verstümmelt bleibt, sich in die Wahrheiten eines assoziativen Stotterns verliert. Nicht beliebig, sondern frei: „Mit der technologischen ökonomischen Entwicklung Europas der Merkantilismus der Kapitalismus der Neokapitalismus der Sozialismus der Transkapitalismus der Transsozialismus der Anarchokonstruktivismus … die ganze Verzweiflung einer Menschheit auf der Suche nach einer vollkommenen Gesellschaft die Utopien der Marsch in die Zukunft.“ Das Manifest ist optimistisch, bejahend. Rocha sieht in der dritten Welt eine Utopie, eine Verbindung aus Neo-Primitivismus, polytheistischen Kulten und seiner eigenen elaborierten Intellektualität entstehen. Es ist der Geist, der Félix Guattari sagen läßt: „… denn auch wenn es keine revolutionäre Bewegung geben wird, so wird es doch auf jeden Fall die Revolution geben … Was den revolutionären Prozeß betrifft, bin ich völlig euphorisch.“ Die Euphorie Glauber Rochas schließt seine eigene Situation des Krebskranken mit ein: „Der Tod ist eine Struktur, die von einem fatalistischen Code determiniert wird.“
Dieser Idee kann sich nach den 158 Minuten nicht nur niemand entziehen. Sie ist evident.
Das Alter der Erde vereinigt die avanciertesten Methoden des Kinos der letzten zwanzig Jahre zu einem Film, der wichtiger ist und sein wird als alles, was das Kino sonst zur Zeit zu bieten hat. Als hätten sich Jean-Luc Godard, Jean-Marie Straub und Danièlle Huillet und Nagisa Oshima zu einem Brain Trust zusammengefunden, mit dem Ziel, die Welt endgültig aus den Angeln zu heben.

