Verlasse nie die Großstädte – denn du wirst die Orientierung verlieren! Ausgerechnet in Rotenburg an der Wümme mußten die Dead Kennedys spielen. Eben hatten wir die Autobahn verlassen. Die Fernlichtscheinwerfer beleuchten nur etwas Nieselregen und dröges norddeutsches Nirwana. In Wageninneren macht sich die Angst breit.
Nach vierzehn Kilometern üblem Geschleiche durch und über das feuchte, vernebelte Nichts deutet die uns umgebende Frust-Kulisse so was wie Ortschaft an. Aber ein perfides, xenophobes Kreisverkehr-Einbahnstraßen-System läßt uns fünfmal im Kreis fahren, bevor uns der Zufall eine bis dahin unentdeckte Schmalspur-Abzweigung auffinden läßt, die geradewegs in den Wald führt: „Das ist das Ende“ … Jedoch: Ein UFO! Grelles Licht, Stimmengewirr, Menschen…
Beim Näherkommen entdecken wir ein riesiges Areal neuzeitlicher Bildungsverwaltung. Auf unzähligen Morgen oder Hektar Land breitet sich ein von innen hell erleuchtetes, unübersichtliches Gebäude aus. Angeblich ist dies die städtische Realschule. Heute tummeln sich alle möglichen Punks in der grellen Pausenhalle. Bei unserer Ankunft ist das Bier bereits alle. Die ca. 400 Leute, die zu einem großen Teil von weit her angereist kamen, um einen neuen Kult-Act zu erleben, „Pogo-Superstars“, „amerikanische Pistols“ etc., stromerten ziellos durch die neutrale Halle.
Das Konzert, das sich dann etwas später in einer benachbarten immer noch viel zu großen Halle abspielen sollte, gehörte zu den fremdartigsten seines Genres. Immer wieder drängte sich das Bild auf, man wäre in der Schule, langweile sich und träume mitten in den Unterricht hinein eine Dead-Kennedys-Pogo-Revolte. Dabei war der Sound beschissen und die Atmosphäre nicht überwältigend. Aber immer wieder trampelten die Leute auf fiktiven Lehrern rum.
Die Texte, die gut 60% des Dead Kennedys-Reizes ausmachen, waren nicht zu verstehen und auch sonst wäre es vielleicht besser gewesen, Jello Biafra hätte seine Solo-Agitations-Show vor einem Playback-Band abgehalten. Dann hätte er noch mehr Raum für sein höchst interessantes Weltbild gehabt, dessen Darstellung sich während des Auftritts auf die Zurechtweisung einiger Fascho-Kids beschränkte die bei „California Über Alles“, offensichtlich nicht einer einzigen Textzeile kundig, Nazi-Posen aufführten.
Jello Biafra ist jemand, der sich unglaublich viel bei seinen Texten denkt und der nebenbei auch noch Pogo-Fan ist. Davon vermittelt er im nicht-englischsprachigen Ausland wenig, aber selbst in England nicht eben viel. Die Kids interessieren sich überwiegend nur für die Musik und und die englischen Kritiker, die sich mit den Texten beschäftigen sollten, ekeln sich vor der Primitivität der Musik, Pogo ist ja ziemlich verpönt, heutzutage.
Dabei ist die ultraschnelle, hackige, nervöse (bis auf die beiden Hits) unmelodiöse Dead Kennedys-Musik eigentlich genau das Richtige für die bewußt-primitiven Sarkasmen, die scharfen, bösen Analysen, in die Biafra seine Philosophie verpackt. Für ihn war und ist Punk eine Art politischer zwei-Fronten-Krieg: gegen das reaktionäre offizielle Amerika genauso wie gegen die versteckt reaktionäre Post-Hippie-Kultur, repräsentiert etwa durch den kalifornischen Gouverneur Jerry Brown, über den Biafra den Song „California Über Alles“ schrieb. Die „Me-Generation“, die in Wehleidigkeit versunken, der Beschäftigung mit Ersatzreligionen und -ideologien, Sinn-Surrogaten schwelgt und dabei für jeden Schwachsinn zu gewinnen ist, sei in ihrer Tendenz, jede Art von Aktivität, realitätsbezogenem Denken zu unterdrücken ebenso gefährlich wie offene Faschisten, erklärt Jello „California Über Alles“ der Rotenburger Lokalpresse.
Mitten in einem Landgasthof der norddeutschen Tiefebene beschreibt Biafra plötzlich in grellen Farben ein Panorama kalifornischer Degeneration, wild wuchender Dummheit und Perspektivlosigkeit. Ein Wunder, daß er einen klaren Kopf behalten konnte.
Eine von Jellos Unternehmungen gegen die etablierten Politiker war seine Kandidatur für das Bürgermeisteramt in San Francisco. Er erhielt 6591 Stimmen, ca 4%, belegte damit den vierten Platz von zehn Kandidaten. Zu seinem Programm zählten Forderungen wie das Verbannen sämtlicher Autos aus der Stadt, das Recht, jedwedes leerstehende Gebäude besetzen zu dürfen, Polizisten jeweils direkt von der Nachbarschaft des entsprechenden Reviers wählen zu lassen. In bestimmten Einkaufstraßen sollten die Verkäufer zu bestimmten Tageszeiten Clownmasken tragen usw. usw.
Jello hat sich in Stimmung gebracht und ist nun am Reden, und er redet so gerne.
Der Name der Gruppe, der zu allerlei enthusiastischen Reaktionen in der Musikpresse und zu allerlei Auftrittsverboten in konservativen Gemeinden (z.B. unlängst in England) geführt hatte, erklärt Biafra so: Seit dem Tode der Kennedys hätten alle diejenigen den Glauben an die Wahlmöglichkeiten in der amerikanischen Demokratie verloren, die etwa glaubten, ein Präsident Kennedy könne Forderungen der Bürgerrechtsbewegung durchsetzen. Mit den Kennedys sei der Traum von der amerikanischen Demokratie vorbei gewesen, wäre die Vorstellung verschwunden, durch das Abgeben der Stimme politische Entscheidungen beeinflußen zu können.
In diesem Moment setzt sich Chris Lunch, Allround-Synthesizer-Spieler und z.Z. wieder in der BRD tätig zu Biafra, die beiden kennen sich und haben auch schon einiges zusammen aufgenommen, u.a. das Trinklied „The Boogie Man Is Dead“ auf einer von Chris’ EPs. Jello Biafra vertieft sich sehr schnell in ein faszinierendes, sprudelndes L.A.-S.F.-Insider-Gespräch, in dem Roky Erickson Anrufbeantworter, Snakefingers neue Begleitband, wie es bei den Residents zu Hause aussieht und andere brisante Themen sich jagen und gipfeln in Jellos enthusiastischer Beschreibung des Films „The Humanoids From The Deep“: Schleimige Lebewesen aus der Tiefe greifen Menschen an und erwischen immer genau diejenigen, denen man es am meisten wünscht, dabei würde der Film ein akkurates soziologisches Panorama des heutigen Amerika vorführen. Jedes Opfer sei stellvertretend für eine Bevölkerungsgruppe. Sowas entspricht genau Biafras Humor, seinen von ihm selbst als Sarkasmus bezeichneten, expressiven Verzerrungen und Übersteuerungen.
Wir verschwanden dann irgendwann wieder im schleimigen Schlund der Herbstnacht und fuhren die dröge Landstraße zurück nach Hamburg. Ich träumte, wachte am nächsten Tag ohne Erinnerung aber schweißgebadet auf, und alles ging wieder seinen normalen Gang.
Heute haben sie mir dann die Fotos gezeigt vom Dead Kennedys-Auftritt, wo Jello Biafra wieder dem unbändig-wütendes-Tier-Image entspricht, dem ich auch bei meiner LP-Rezension aufgesessen bin. Alles nur Spaß?

