Dein Freund, der Hamburger

Morgengedanken über die Atmosphäre einer Stadt

Die neuen Stars heißen Johnny und Edgar Winter. Gemeint sind natürlich nicht die legendären Blues-Rock-Albinos, die es immer so gut verstanden aus „Tobacco Road“ auch dann noch Reize herauszukitzeln, wenn es in die fünfzehnte Minute ging, gemeint sind die zwei weisen alten Albino-Welse, die meistens schlafend, vom Disco-Lärm ungerührt, hinter den Glasscheiben des „Kir“-Aquariums ihre vielbestaunte Existenz fristen.

Kaum ein Ausgehabend an dem ich und meinesgleichen nicht fünf bis zehn Minuten für ein andächtiges Zusammensein mit den beiden buddhistischen Kleinfischen abzweigen. Johnny erkennt man übrigens daran, daß er, etwas vitaler und noch nicht ganz erleuchtet, hin und wieder auf die Scheibe zu-schwimmt, Kontakt aufzunehmen scheint. Edgar ist dagegen meistens unten links in einem der Büsche zu finden.

Es war schön, als wir an diesem 795. Geburtstag des Hamburger Hafens die frühen Morgenstunden des Muttertags verschwoften. Vor exakt 20 Jahren hatte Frank Zappa seine „Mothers Of Invention“ gegründet. Was für eine Harmonie! Am Nachmittag hatte der HSV den 1. FC Nürnberg mit 6:1 abgefertigt. Konkurrent Stuttgart mußte sich gegen Frankfurt mit einer Punkteteilung zufrieden geben. Am Abend hatten sich die Freunde in einen Kreis gestellt, erst im „Luxor“, dann in den anderen Lokalen und ein erbauliches Gespräch zum Thema „Unbekannte Massenmörder der Weltgeschichte“ geführt. Ja die Freunde: In Hamburg vergessen sie einen nie. Der Hamburger nimmt nur sehr schwer Kontakt auf. Hast Du aber einmal sein Herz gewonnen, wird er ein Leben lang Dein FREUND bleiben.

So kann man problemlos in die Fremde ziehen und weiß immer, daß man hier eine Heimat hat: Die Haare werden wieder richtig lang. Männer- und Frauenhaare wehen gewaschen und ausgebürstet in den frühen Morgenstunden des Muttertags, während der Discjockey das definitive Lied der 70er „Station To Station“ auflegt. Zwei, drei Hemdknöpfe öffnen sich, der Körper wird ausgeschüttelt.

Überall unternehmen die Menschen Versuche, die glücklichste Zeit der Menschheit wieder zum Leben zu erwecken: die Jahre 65 – 69. In Musik, Mode, Denken und Wirtschaft. Was mich zu der Frage bringt: Was denke ich über den Aufschwung, kann ich den Aufschwung wollen als Linker, der eigentlich die Krise lieben sollte? Der Aufschwung, von dem ich zwar weiß, daß er die Erfindung rechter Propaganda ist, löst doch ein unwillkürliches Hoffen auf eine Wiederholung der besagten glücklichen Epoche aus und genau das macht dann sogar mich zum Opfer der entsprechenden Hymnen um die prognostizierten 3,5 Prozent Wachstum.

In letzter Zeit haben dann die 35-Stunden-Wochen-Plakate der Gewerkschaften wieder deutlich gemacht, daß wir nicht in den 60ern, sondern mit Glück in den 20ern leben, wahrscheinlich aber in den 80ern mit ihrem merkwürdigen Provinzialismus-Revival. Mein Glaube an den Aufschwung verschwand.

Die Atmosphäre in den Städten hat deutlich nachgelassen. Freundlichkeit auf dem Nullpunkt, hohe Aggressivität, richtige Armut und Ausweglosigkeit in den Gesichtern der Prolls. Seltsam gezwungene, aufgesetzte Bewegungen, die etwas wie Stolz retten sollen. Abschwung.

Und dann diese Nacht auf den Muttertag mit dem Hafengeburtstag, den Freunden und Johnny und Edgar. In der Zeitung war von Plänen der Bundesbahn zu lesen, einen dem französischen TGV vergleichbaren Hochgeschwindigkeitszug auf der Strecke Hamburg-München einzusetzen. Diese Meldung bläst zusammen mit den Frühlingswinden des beginnenden Muttertags alle Abschwungsgedanken weg. Das Leben, das seit dem Scheitern des Concorde-Projekts, seit dem Ausbleiben des Privathubschraubers, seit dem Nichtbauen von Allwegbahnen nicht mehr beschleunigt worden ist, soll zum ersten Mal wieder schneller gemacht werden. Das wäre wirklich ein Grund zur Hoffnung.

Stumm schwimmt Johnny seine Bahn. Edgar schaut das Nirvana.