Daß diese Geschichte von Depeche Mode handelt, ist ein Zufall. Sie könnte genauso gut von Duran Duran (schlechter), Classix Nouveaux (grauenvoll) oder Heaven 17 (besser) handeln.Sie handelt von einer dieser Bands, nach denen modebewußte junge Engländer (und Bewohner anderer europäischer Metropolen) zur Zeit gerne tanzen und deren Musik wesentlich auf Synthesizer aufbaut.
Depeche Mode haben nur das Glück, in Deutschland massiver von ihrer hiesigen Plattenfirma/Musikverlag unterstützt zu werden. Seit Wochen halten sie Platz Eins der Alternative Charts besetzt, so wie die großen Brüder von Spandau Ballet die „richtigen“ Hitlisten. Aber auch da haben sie einen Fuß reingeschoben und irgendjemand scheint unwahrscheinlich auf ihr kommerzielles Potential zu setzen. Die Bewirtung der Journalisten war jedenfalls ziemlich gut und gewährte interessante Einblicke in die letzten Innovationen des Hotelgewerbes. Mein Zimmer lag am Ende eines dieser psychedelischen Gänge, die so fett mit Teppichboden ausgelegt sind, daß man ständig das Gefühl hat, sie seien uneben oder man würde in ihnen versinken, wie auf einem Flokati auf Acid. Dann mußte ich eine kleine Karte in einen Schlitz schieben, wo ein Laser-Abtastgerät den täglich wechselnden Code ablas, und, wenn er stimmte, mit einem kleinen gefühlvollen Surren sein Einverständnis kundtat und die Zimmertür aufspringen ließ.
Dort saß ein Mann im Fernseher und erzählte viel von Lords und Sirs, die einander empfingen und abholten und andere adlige Botschafter einluden oder irgendwohin reisten. Später fand ich heraus, daß es die Nachrichten waren. Ein Farmer in Schottland hatte seine Schafe in der Farbe des Union Jack bemalt, um das königliche Brautpaar zu ehren, erzählte der lustige Onkel. Ich mußte an das Tagebuch des Samuel Pepys denken (1660-68). In England hatte sich nicht so viel verändert.
Oder doch? Je schlechter die Zeiten, desto exotischer die Moden, desto perverser der Lebenswandel derer, die es sich leisten können. So lautet ein Gemeinplatz, mit dem man sich gegenwärtig dem Blitz-Kids-Phänomen nähert. Man vermutet, zumal in Deutschland, verantwortungslose, überzüchtete Sprößlinge reicher Familien, dekadenten Abschaum einer nicht mehr funktionstüchtigen Gesellschaft, elitäre Arroganz und Menschenfeindlichkeit. Ein Radio-Moderator ging unlängst soweit, bei der Rhytmusmaschine in einem Spandau-Ballet-Titel faschistische Exekutionskommandos zu assoziieren. Naja, wenn es darum geht, Jugendlichen, die man nicht versteht, einen Faschismusverdacht anzuhängen, ist die ältere öffentlich-rechtliche Generation immer von einer Phantasie gesegnet, die sie sonst vermissen läßt. Anschließend legte der Mann Chuck Berry auf und pries den guten alten Rock’n’Roll: „Hail, Hail undsoweiter deliver me from the days of old“. Erschüttert mußte jene verlogen-linksliberale Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, daß es sich bei fast allen Vertretern der New-Romatics/Blitz-Kids-Bewegung um Figuren aus der Arbeiterklasse oder der verarmten Mittelschicht handelte. Das durfte nicht wahr sein. Sollte sich das Proletariat etwa weigern, weiterhin dreckig zu sein, zu schwitzen und nach Bier zu stinken, wie es sich gehört? Äußerst verwirrend für unsere aufgeschlossenen Meinungsfabrikanten.
Auch Depeche Mode sind – man rechnet sie zur New-Romantics-Bewegung – simple Vorstadt-Kids, die sich in Pop versuchen. Mit einem Talent für leichte, nette Melodien und einem nicht übertrieben ambitionierten, aber gut durchdachten Design/Outfit-Konzept erwarben sie die Gunst von Daniel Miller, der mit ihnen zwei nicht sonderlich aufregende, aber unterhaltsame Singles für ein Mute-Label aufnahm. Geliebt werden sie von denen, die genauso sind wie sie: von den Tänzern im „Venue“, die sich mindestens eine Stunde auf das Ausgehen vorbereitet haben und nun nichts weiter wollen als gut aussehen und sich hübsch bewegen, das andere Geschlecht anlocken oder auch das gleiche. Man will was für den Körper tun. Die da oben, die Band, macht dasselbe: Kleine elegante Vor-Zurück-Bewegungen über den drei elektronischen Gerätschaften, und der vierte Mann am Mikro versucht ein wenig zu posieren. Die ganze Band ist noch sehr jung. Wie bei allen neuen kurzlebigen Bewegungen sind Band und Publikum vom selben Menschenschlag. Als der Set vorbei ist, wird einfach zu ähnlicher Musik weitergetanzt ohne Unterbrechung bis zwei Uhr. Darunter von Heaven 17: „(We don’t need that fascist) Groove Thang“. Und dazu wird genauso getanzt wie vorher zu DAFs „Mussolini“.
Die New Romantics haben keine besonderen Werte, die sie verteidigen, sie wollen sich nur auf eine naive Weise etwas Würde zulegen, unverwechselbar werden. Lest in der Spandau-Ballet-Geschichte nach, was es bedeutet, gut auszusehen. Die New-Romantic-Kultur hat sehr viel Hohles hervorgebracht (Visage, Ultravox, Classix Nouveaux), aber ich sehe, daß wir gemeinsame Feinde haben: Die Bewahrer des Status Quo, der Meinungsscheiße, der Klischeestandpunkte. Depeche Mode haben sich unvoreingenommen von dem z.Z. grassierenden Traditionsfieber bestimmter neuer Pop-Technologien bedient, mit einer Direktheit, die an Punk erinnert. Nur mit einer anderen Zielsetzung, mit einer anderen Geste. Ihr Approach, ihre Art für Tanz und Melodie zu arbeiten und sich dabei nicht an ihren extrem flachen Texten wundzuscheuern, ist ein weiterer Schritt zur Abkoppelung jugendlicher Gefühls- und Begriffswelt von den Kategorien unserer Kultur. Wahrscheinlich werden von der ganzen Musik, die nach ihnen an diesem Abend zum Tanz gespielt wurde, nur Heaven 17 und Spandau Ballet die Substanz haben, um es längere Zeit zu machen, aber Depeche Mode sind absolut here today und sehr wahrscheinlich gone tomorrow, somit aber wahrscheinlich die beste Momentaufnahme der aktuellen Stimmungslage.
Einen Tag später im Kensington-Center: Hier, wo in diversen Winzboutiquen auf drei Stockwerken in den Siebzigern Fashion verhökert wurde, wird jetzt Fashion gelebt. In jeder dieser extrem schmalen Nischen ist irgendeine Sekte beheimatet. Drei Teds lehnen an einer Musikbox als wollten sie für Guy Pellaert Modell stehen, die Kleidungsstücke auf den Stangen an der Wand wirken nur wie Alibi, nicht zum Verkauf bestimmt. Ein Junge mit mehreren grün-gefärbten Reinigungs-Mobs auf dem Kopf grunzt mich an: „Loik mai Hairstail?“ Neben dem Ted-Laden treten ich zehn Skins auf die Stiefel, während sie in einem Zehn-Quadratmeter-Raum zur Musik von Four Skins Jacken begutachten. Ken Lockie sitzt im nächsten Raum, trinkt Tee mit anderen schwarz-gekleideten ernsten jungen Männern, sie wirken wie Aristoteles mit Schülern und debattieren würdig irgendein philosophisches Thema. Von nebenan dröhnen durcheinander: Duran Duran (aus der Blitz-Boutique), B-52s (vom Futuristic-Shop) und Clash aus der Ecke, wo Star T-Shirts verkauft werden. Eine Sozialarbeiterin macht Anschläge an ein schwarzes Brett: billige Wohnungen, Halbtagsjobs. Und aus dem Plattenladen: Die intellektuellen Del-Byzanteens aus New York.
Niemand bekämpft sich hier. Die einzelnen Gruppen gehen ihren Ritualen nach und lassen einander leben. Man läuft hier keinen Klischees von sich selbst hinterher. Alles ist in Bewegung, auch wenn vieles darunter so dumm ist, daß einem übel wird (Welcher 16jährige ist schon klug?). Die Leute tun aber alles für ihre Autonomie: „I got a right to live and be in love with music so fancy free“, singt Debbie Harry auf KOO KOO. „Music belongs to the people“, Kid Creole und seine Coconuts. Wem das zu unpolitisch ist, der sollte seinen Begriff von „Dem Politischen“ überprüfen. We need a marxist Groove Thang!

