Der billige Schwindel als schöne Kunst betrachtet: Ein paar Überlegungen zum Bild des Deutschen …

„Was ist Existenzialismus?“ Diese Frage stellen mir und anderen auch heute noch viele junge Leute. Und sie kaufen die rot-schwarzen Rowohlt-Taschenbücher mit den Werken von Camus und Sartre.

Warum ich das erzähle? Nun, eigentlich sollte dieser Text Vorstudie zu meiner Dissertationsschrift „Die Geburt des billigen Schwindels aus dem Geist des Existenzialismus“ werden, wurde dann aber doch etwas viel größeres, heiligeres. Nämlich ein „Spex“-Artikel.

Dennoch will ich von der Geburtsstunde des billigen Schwindels erzählen. Man kann sie sich immer wieder im lokalen Programmkino vorführen lassen, wenn dort „Der Fremde“ von Luchino Visconti gegeben wird. Visconti, eine Art frühvergreister italienischer Faßbinder für Arme (das italienische Bruttosozialprodukt liegt denn auch merklich unter dem westdeutschen, irgendwo in der Nähe des ostdeutschen), versucht dort die Aufgabe zu lösen „Wie visualisiere ich die zärtliche Gleichgültigkeit, von der der paradigmatische Existenzialist“ – um den es in dieser Horrorerzählung ständig lehrstückhaft geht – „ständig so zärtlich umweht ist?“ Und wie macht er es? Er läßt Marcello Mastroiani einfach 90 Minuten lang, bis zur Hinrichtung, seine Schwitzflecke ignorieren.

Jahre später stehe ich in einer Kneipe. Der laufenden Cassette fällt nichts mehr ein. Es ist schon spät. Da spielt sie „Riders On The Storm“, die Nationalhymne der nachgeborenen Existenzialisten. Darin heißt es bekanntlich: „Into this world we’re thrown / like a dog without a bone.“ Kurz nachdem er dies sang, starb Jim Morrison und kann für sich geltend machen, den versammelten, geballten billigen Schwindel von Camus, Mastroiani, Visconti und der gesamten bürgerlichen Ideologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts noch übertroffen zu haben.

Ich brauche es wohl niemandem mehr zu erklären. Wir werden nicht in diese Welt geworfen, sondern geboren. Mit Knochen. Von unserer Mutter, die vorher mit unserem Vater geschlafen hat. Anschließend erwartet uns eine Fülle von Prägungen, Genen, Neigungen, Einflussen, Reizen und schließlich Aufgaben.

Hauptsache ist: Die deutsche Pop-Musik als Exportartikel funktioniert nach den Gesetzen des BILLIGEN SCHWINDELS, wie ihn der Existenzialismus in diese Welt geworfen hat. Ganz egal, welche objektiven Vorzüge oder Nachteile einer deutschen Pop-Musik anhaften. In dem Moment, wo sie die Grenzen überschreitet, namentlich, wenn sie den Ärmelkanal glücklich durchschwommen hat (auf der Nase eine Orange auf einer Makkaroni balancierend. Haha!) tritt sie automatisch in seinen Bannkreis. Losgelöst von ihren Bedingungen und Absichten wird sie zu einem Nebel, der von der britischen Kultur wie von einem Löschblatt aufgesogen wird. Ergebnis ein nasser Lappen. Das Löschblatt ist die Disposition der Briten zur Spökenkiekerei (John Donne, Milton, William Blake, Charles Algernon Swinburne, Thomas DeQuincey, Lord Dunsany, George Berkeley … you name them!), die schon immer ihr Komplement im deutschen Wald gesucht hat und umgekehrt. Daß deutsche und englische Mystik sich gegenseitig, via – in diesem Gewerbe so häufige – Mißverständnisse, in immer verzwirbeltere Höhen hochschrauben, ist ein alter Hut. Aber erst der im Zeitalter der Massenkultur möglich gewordene BILLIGE SCHWINDEL schuf die Voraussetzungen, die UNIO MYSTICA in den Pop-Markt und darin, in dessen kleinere Nische, Deutscher Export zu retten.

Die erste Generation bestand u. a. aus Amon Düül II, Can und Tangerine Dream. Es war die Zeit der Kosmischen Kuriere. LSD floß in Strömen auf Löschpapier und Zuckerwürfel. Die Deutschen hatten zum ersten Mal in der Geschichte der Pop-Musik eine eigene Marktlücke aufgerissen. Das, was Pink Floyd oder bestimmte psychedelische Westcoastbands nur angerissen hatten, hatten sie brachial vertieft: die Entdeckung des inneren Kosmos und seine Kartographie durch Begriffe des äußeren: ALPHA CENTAURI heißt der der Erde nächste Fixstern nach der Sonne und eine LP von Tangerine Dream. Rolf Ulrich Kaiser, in den 60em noch Theoretiker der Subversion („Pop? Nein! Untergrund? Nein! Gegenkultur!!“) hatte sein Ohr-Label und dessen Abspaltung „Die Kosmischen Kuriere“ in den Mittelpunkt der deutschen Gegenkultur gerückt. Gruppen hießen Limbus 4 und Annexus Quam (Was „Verbindung wir“ heißen soll und in Wirklichkeit „Verbindung wie“ heißt; das nur als kleine Posse aus der Geschichte lateinischer Gruppennamen in der BRD). Der BILLIGE SCHWINDEL konnte losgehen: Tangerine Dream ist bis heute eine einflußreiche Gruppe in England und den USA.

Can wurden einfach mitgeschluckt. Später verstand man, was wirklich gut an Can war und gründete die Buzzcocks. Aus dem Geiste Tangerine Dreams dürfte keine gute englische Band geboren sein. Pete Shelley hat sich jedenfalls immer und von Anfang an und vor allem als Can-Fan definiert. Was aber beweist, daß erst Nachgeborene einen Einfluß zu schätzen wissen. Denn zu ihrer Zeit war in England dasselbe wie TD. Tonnenweise innerer Space aus den Bergwerken deutschen Geistes.

Zweite Welle: Faust. An ihnen wurde das Skurrile, Waldburschenhafte in England geschätzt. Hauffs Märchen, Wilhelm Tieck. Die wirklich gute Vorstellung, daß nur eine Horde deutscher Hippie-Intellektueller den wahren, wirklich-schrägen Untergrund, wie ihn sich Richard Branson vom damals frisch gegründeten Virgin Records wünschte, bei sich im Wald spielen kann. Daß nur umgeben von Hutzelzwerken und den neuesten Ausgeburten der Studio-Technologie die hieb- und stichfeste, wasserdichte, ultimative Hip-Hippie-Musik entstehen könne. Und das war Faust.

Faust war nicht direkt billiger Schwindel, profitierte aber in manchem von der Vorarbeit des BILLIGEN SCHWINDELS und beginnt mit seiner Umformung in die schöne Kunst. Die Löschblätter waren so durstig geworden, daß man inzwischen nicht nur den üblichen Nebel zu liefern brauchte, sondern die Idee vom DEUTSCHEN erweitern, variieren konnte und dabei trotzdem im für den Absatz so günstigen, ja notwendigen BILLIGEN SCHWINDEL bleiben konnte. Faust half die Narrenfreiheit der Deutschen vorzubereiten.

Dritte Welle: Kraftwerk. Kraftwerk wären ohne Helmut Schmidt, Modell Deutschland, der florierenden 70er-Wirtschaft undsoweiter nicht denkbar gewesen. Denn der Clou an Kraftwerk war ja, daß sie keine Maschinenstürmer waren, sondern das Kraftwerk affimierten. Trotzdem klangen sie meditativ und waren für Kiff- und Acid-Seancen geeignet. Sie vereinten den BILLIGEN SCHWINDEL des Alpha Centauri mit einem neuen guten Modell-Deutschland-Pop. Sie fuhren auf der Autobahn durch den deutschen Wald. Eine Image-Revolution, möglicherweise, das Größte, was deutscher Export-Pop geleistet hat.

Trotzdem gab es weiter den BILLIGEN SCHWINDEL, der durch seine Veredelung in den Siebziger Jahren zu Beginn der Achtziger die Abschußrampe für deutsche Ideen mitten in Hirne, die den billigen SCHWINDEL in seiner ursprünglichen Form noch abgelehnt hätten (Obwohl so klassische Künstler des BILLIGEN SCHWINDELS wie Patti Smith oder Jim Morrison sich in Großbritannien noch heute großer Beliebtheit erfreuen). Die Vertreter hießen (in der Reihenfolge ihres Auftretens): Malaria, Einstürzende Neubauten, Palais Schaumburg, Xmal Deutschland, Einstürzende Neubauten (Reprise), Holger Hiller und Propaganda. Der Plan und Andreas Dorau übten dagegen eine Wirkung aus, wie sie Kraftwerk ausgeübt hätte, wenn sie sich nicht des BILLIGEN SCHWINDELS bedient hätten.

Der Reihe nach: Malaria waren die Faust der 80er Jahre; das absolut supersichere Reservat der Ziele der Epoche. Ich frage mich bis heute, warum Richard Branson sie nie gesignt hat. Wird halt auch alt der Junge: So wie Faust deutscher Wald, Intelligenz, harter Untergrund, moderne Technik und Deutschland zum unüberwindlichen Zaun gegen alle verunreinigenden Einflüsse geflochten zu haben vorgaben und das verkauften, hökerten Malaria mit Wave, Frau, Saxophon und Berlin. Eine narrensicherer Ritt auf dem BILLIGEN SCHWINDEL, der nur deswegen nicht so erfolgreich war wie Faust – ich rede die ganze Zeit nur von Kult-Erfolgen, die Geschichte der kommerziellen Erfolge ist eine andere und hat mit dem BILLIGEN SCHWINDEL nichts zu tun – weil die Zeiten für den Untergrund nicht so dürr waren, wie zur Glanzzeit von Faust.

Die Einstürzenden Neubauten waren bei ihrem ersten Erscheinen eigentlich nur Neger, keine Deutschen und daher auch kein billiger Schwindel. Berlin kam damals immer als so eine Art pittoresk verendendes Mitteleuropa vor, das von romantisch-lichtscheuem Getier bewohnt wird, von Negern eben. Daß Berlin in Deutschland lag und damit geradezu nach der New Wave-Version vom BILLIGEN SCHWINDEL schrie, fiel ihnen erst später ein.

Man muß nun einschieben, daß Fassbinder weltweit immer populärer wurde und damit der Verbreitung und routinierten Verwendung des BILLIGEN SCHWINDELS Einhalt gebot. Er verbreitete so ein exaktes, stimmiges Pop-Image von Deutschland, daß an den BILLIGEN SCHWINDEL keiner mehr geglaubt hätte.

Doch dann kamen Palais Schaumburg über die Euro-Schiene. Euro ist in England eine riesige Wabe im Gehirn, sehr luftig und transparent, die aussicht wie das Brüsseler Plutonium-Modell, so eine schwer zu fassende Assoziationspalette mit viel Schweiz (Yello!), Genf, Abrüstungsgesprächen, Vollbeschäftigung, EG, Butterberg, sauberen, gepflegten Städten, keine Armut. guten Manieren und Mikroelektronik. Das Japan der Engländer, wenn sie sich mal wieder als Weltmacht fühlen, aber nicht mehr von den eigenen Weltmachttraditionen zehren können, sondern die Regeln für das Spiel von den Amerikanern übernehmen und die haben halt ihr Japan.

Palais. Palais Schaumburg! Wenn das nicht nach der segensreichen Freundschaft Giscard-Schmidt klingt! Und noch mehr: Einer der Schaumburg-Sänger sah aus wie Jean Marais!!! (Achtung wir nähern uns dem Zentrum des alten BILLIGEN SCHWINDELS, französische Variante). Und Jean Marais spielt in einem Film von Jean Cocteau (nach einer alten Griechischen Sage!). Sie hören richtig: COCTEAU! PENG! Getroffen. Wir sind im Zentrum des BILLIGEN SCHWINDELS, the french way. (Was Cocteau für die Briten, ist Rimbaud für die Amis, Patti Smith und Camus für die Deutschen. Rimbaud ist der einzige von den Dreien, der nichts dafür kann.) Aber Achtung, Palais Schaumburg sind deutsch. Ja, das war EURO und EURO hätte eine gute Variante des BILLIGEN SCHWINDELS werden können, wenn sich Palais Schaumburg nicht immer wieder umbesetzt hätten und zur Zeit oder schon länger auf den BILLIGEN SCHWINDEL au americaine stehen würden (NEW YORK!).

Da kamen Xmal. Xmal klingt a) nach Xmas (= Christmas) und b) wie ein aztekischer Gott. Deutschland im Namen ist ohnehin sehr clever. Dann waren da all diese Gothic-Bands und die brauchten einfach deutsche Geschwister, egal ob die wirklich was mit Gothic zu tun hatten. Gothic hatte sowieso immens viel von ALPHA CENTAURI in sich, nur war es weniger ernst und spaßiger als Tangerine Dream. Auf jeden Fall hat da der gute alte UR-BILLIGE SCHWINDEL noch nachgewirkt und der 83-Xmal-Kult in England restaurierte ein wenig die gute alte Komplementäre Mystik-Austauschbeziehung zwischen uns und den Engländern, die unter so Varianten wie BERLIN und EURO etwas in Vergessenheit geraten war. Oder durch Marginalien wie dem DADA-SCHWINDEL courtesy by Holger Hiller.

Schließlich fiel allen ein, das Berlin ja auch Deutschland ist und der Weg war frei für die triumphale Rückkehr der radikalisierten Neubauten. Die Neubauten verhalten sich zu – sagen wir – Throbbing Gristle wie Tangerine Dream zu Pink Floyd (und Xmal zu Siouxsie). Also war das Timing goldrichtig. So wie TD einfach ein Sahne-Nachschlag für die langsam vom Floyd-Trip runterdämmernden Briten war, so sind die Neubauten der Nachschub für den TG-Fan, der sich den Elektrobohrer gerade aus dem Hirn wiederherausgezogen hat. Und sie sind BERLIN: Verfall eines großen Weltreichs, aktualitätgewordener! Untergang des Abendlandes, geteilte Stadt, Hitler, Dönitz, Helmut Berger, Bieberkopf und Liza Minelli in einen großen neutronenverbombten Mutantenzirkus zusammengeschmolzen. Und überall riecht es nach Gummi (von Blixas Jacke!). So verbrannt. So morbide. So untergegangen. Da muß Marc Almond einfach ein Backstage-Küßchen auf Blixas kantige Mutantenwange drücken. Bei den Neubauten ist der BILLIGE SCHWINDEL wieder zur schönen Kunst geworden. So kann es bleiben.

Bleiben Propaganda, die es mit der GROSSEN DEUTSCHEN FILMTRADITION VOR DER NAZIZEIT versuchen. Nicht sehr originell, aber als Nachhall des Neubautenkultflashes, ja vielleicht als dessen Mainstreamausgabe („Dr. Mabuse“ klettert in den britischen Charts langsam nach oben) zumindest eine Erwähnung in den Annalen des BILLIGEN SCHWINDELS wert. Was hiermit geschehen ist.