Der Hippie ist die Mutter der Wende

Alles rückt jetzt näher zusammen: die Rechten sowieso und die Linken sind endgültig gegen das Böse und für das Gute.

Mutter ist okay. Sie steht mitten im Leben. Siebenundvierzig wird sie diesen Winter, und ihre Karriere als Dolmetscherin scheint keineswegs schon am Zenith angelangt zu sein. Ihre beiden Kinder sind intelligente, hübsche, junge Leute, beide studieren ein geisteswissenschaftliches Fach, dessen beruflicher Nutzen Mutter zuweilen etwas unklar ist, beide wohnen längst allein, in wechselnden Wohnungen mit Freunden oder für sich, Mutter ist das recht.

Wie in vielen Familien besuchen die Kinder Mutter am Sonntag, sie bringen Wäsche, essen eines der phantasievollen, frei über das Thema eines Wolfram Siebeck-Rezepts improvisierten Gerichte und unterhalten sich mit Mutter nach dem Essen über Politik, Kunst und was dergleichen mehr ist, was einer gepflegten Konversation erst so richtig die nötige Pflege gibt.

Neuerdings amüsieren sich die Kinder immer wieder über einen ratlosen Seufzer von Mutter, neulich getan anläßlich irgendeines zynischen Witzes, den der ältere, Stefan, seiner Schwester bei Tisch erzählt hatte, ich hab ihn vergessen, aber Mutter antwortete jedenfalls: „Mensch, Kinder, manchmal hab ich Angst, daß ihr reaktionär werdet.“

Mutter wird nämlich nicht müde, mit den Kindern über diese schreckliche Wende zu reden, sie ist völlig verändert, seit das passiert ist und hat plötzlich Ängste und Probleme, mit denen sie, obwohl sie vorher genauso angsteinflößend und problematisch waren, nie etwas am Hut hatte. Erst seit dem 6. März zählt sie die Raketen und die Arbeitslosen, und erst seitdem erwägt sie, in die Partei einzutreten, die sie, seit sie sich erinnern kann, bedenkenlos gewählt hat, die SPD.

Die Kinder dagegen finden Zimmermann „geil“, lachen sich scheckig über seine Kraftsprüche, drehen bei Strauß-Reden den Fernseher lauter und gähnen nur, wenn sie Vogel sehen. Die Mutter weiß, daß ihre Kinder nicht die politischen Ziele der CDU/CSU vertreten, schließlich hat sie früher genug Ärger gehabt, als die beiden während ihrer Schulzeit immer zu einer dieser K-Gruppen mit einem dieser blumigen archaischen Zwanziger-Jahre-Namen hingingen. Sie versteht nicht, warum die Kinder nicht so besorgt und zu Aktionen motiviert sind, wie sie es ist, wenn sie Woche für Woche in „Spiegel“ und „Stern“-Titelgeschichten lesen muß, was diese neue Regierung an unserem Rechtsstaat herumdemontiert.

Tja, Mutter ist eine von den vielen Menschen, die einen Kommentar, einen warnenden, mahnenden Artikel sich mitunter so zu Herzen nimmt, daß sie einen Leserbrief schreibt, an die große Zeitung. Ein Leserbrief, der in Kurzform noch einmal wiederholt, was der Artikel resümierte.

Kennen Sie das? Diese Berge von Leserbriefen, die so einem liberalen Warn- und Mahn-Artikel massenweise ihre Zustimmung entbieten, oft noch um pointenreiche Formulierungen im Stile des betreffenden Blattes bemüht. Was denken Sie, wenn Sie im „Spiegel“ die Ernte zustimmender Briefe vorfinden, wenn Sie lesen, wie Hartmut Bröner aus Hamburg mitteilt „Schöne Grüße vom Großen Bruder“ oder Hans Joachim Heuel aus Bielefeld meint: „Mit Minister Zimmermann auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der es keine Geheimnisse und kaum noch Privatsphäre gibt“ oder Heinz Kraft aus Aachen die Zelle beiträgt: „Geplant ist der gläserne Duckmäuser“? Was treibt ihn um, den Heinz, warum sagt er, was alle schon wissen, weil sie ja alle „Spiegel“-Leser sind, alle den Artikel gelesen haben, aus dem Heinz schließt, was sowieso schon jede Zeile ausspuckt?

Wir denken alle natürlich, es gibt ihn gar nicht, der „Spiegel“ hat ihn sich ausgedacht. Ich dachte das jedenfalls bisher, bis ich Mutter kennenlernte, die genau so einen Brief geschrieben hatte und bei der Post eine Fotokopie anfertigte, bevor sie den Brief seiner Bestimmung übergab. Ich linste, am Kopierer hinter ihr wartend, über ihre Schulter und las so einen pointierten, „Findichauch“ mitteilenden Dreizeiler. Ich war interessiert und beschloß, Mutter zu folgen.

Ihr Weg führte sie zu einem der Kompaktbilligbuchläden, die man immer häufiger in den modernen, regengeschützten Einkaufspassagen unserer Innenstädte findet. Auch ich verkehre gerne bei diesen übersichtlichen Neuerscheinungshökern und schaue mir an, bei welchen Taschenbüchern die Stapel in welcher Geschwindigkeit kleiner werden. Doch Mutter hat nicht stöbern im Sinn, sie strebt direkt zur orangefarbenen Kasse, ergreift ein längliches, gebundenes Exemplar, zahlt und geht.

Sehen wir uns einmal dieses Buch an: Der „Orwell-Kalender“ ist es, ein sogenanntes „schönes Ding“, die Menschen heute sind ja des Plastiks und der Fließbandfertigung müde, sie schicken ihre Kinder in Goldschmiedelehren und bevorzugen die schönen, handgefertigten Dinge, wie ein gebundenes Buch in einem harten, festen, vertrauenerweckenden Einband.

Mutter hat diesen „Orwell-Kalender“ aus vielen Gründen gekauft, nicht nur, weil er so handgefertigt aussieht. Zu seinen Herausgebern zählen Böll und Grass, und deren Namen sind mindestens so vertrauenserweckend wie die schöne Gestaltung. Mutter hat kaum etwas von diesen beiden Schriftstellern gelesen. Sie weiß nur, daß sie oft und lang und breit im Fernsehen gewesen sind und daß sie ihren Finger auf die Wunde der Welt legten. Daß sie in einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war, ein großherziger, charmanter Willy Brandt oder ein energischer, selbstbewußter und hochintelligenter Helmut Schmidt das Zepter fest in der Hand hielten, sowohl Terroristen als auch Amerikanern die Meinung sagten, Ungerechtigkeiten hier und dort bekämpften, daß in dieser Zeit Grass und Böll ständig präsent waren, Freunde der Herrscher, zwar in kritischer Solidarität hin und wieder, aber auf sie wurde gehört.

Sie las damals lieber „gute“ Krimis von Chandler und Hammet, von denen es ja auch diese tollen Filme mit dieser tollen Mode gibt, und der Wim Wenders hat ja auch einen gemacht mit dem Hammet, und der Zimmermann, naja. Früher hätte der das nicht gedurft. Da wären Böll und Grass vor gewesen. Und jetzt, wo uns die Amis mit den Atombomben bedrohen und die Russen auch und nur die Friedensbewegung in Ost und West helfen kann, da gehören Böll und Grass auch dazu, ermutigen sie zum Widerstand, und da ist es für jemanden, der gelernt hat, sich in der von Böll und Grass gestalteten Welt wohlzufühlen, jawohl ein Gebot der Vernunft, das genau zu tun, was diese empfehlen.

Dieser „Orwell-Kalender“ aus dem Bund-Verlag, so sollte man meinen, gedächte in kalendarischer Form des britischen Schriftstellers, der einen utopischen Roman nach dem nächsten Jahr benannt hat, den um bürgerliche Freiheiten besorgte Liberale stets in der Westentasche stecken haben, um ihn gegen östliche Gulags und Einmärsche oder hausgemachte, konservative Feindbilder zu zücken. Nichts gegen Orwell, aber 1984 im Munde führen heißt im allgemeinen: „Ich laß mir mein kleines Plappermäulchen nicht verbieten.“ Vor allem Menschen, die vom Offenhalten des Plappermäulchens leben wie die vielen Herausgeber des „Orwell-Kalenders“, haben allen Grund, vor sowas Angst zu haben.

Aber der „Orwell-Kalender“ ist mehr. Ich hab ihn inzwischen gelesen. Er ist gegen alles Böse, nicht nur gegen den Überwachungsstaat. Er gedenkt der Greueltaten des Faschismus, aller möglichen Skandale gegen alle möglichen Freiheiten, des Vietnamkriegs und der in seinem Rahmen begangenen Greueltaten, aber auch des Ostens und seiner Sünden. Am lustigsten fand ich die Greueltat „Veröffentlichung des futuristischen Manifests.“ Nachdem ich ein paar kurze Sekunden laut lachte, fiel mir wieder ein, warum dieses Datum nicht fehlen darf. Aus Futuristen wurden Faschisten, aus Faschisten Nazis, aus Nazis Mörder.

Der Standpunkt des „Orwell-Kalenders“ ist wie der von Mutter: er erkennt eine Bedrohung durch das Böse, das in allen Systemen wohnt, und warnt und mahnt und klagt dabei das Recht ein, das in keiner Weise bedrohte Recht übrigens, weiter mahnen und warnen zu dürfen, weil das ja ein einträglicher Beruf ist, und wenn es nichts gäbe, das bedroht wäre, so würde die Abwesenheit des Warn- und Mahnanlasses Grund genug sein ein Jammern und Klagen zu erheben, weil das ja das Ende des Warnens und Mahnens wäre, was ja wiederum das Ende der Meinungsfreiheit…

Es wäre übrigens nicht weiter schlimm, wenn das alles wäre, aber es ist schlimm, weil diese zwei Männer die deutsche Linke sind. Etwa nicht? Sonst haben wir keine Linke. Kommunisten darf es hier nicht geben, nicht einmal mehr als Identifikationsfigur für Abiturienten, Kommunismus ist seit Gulag nicht einmal mehr bei Kommunisten statthaft. Auch die Russen haben Raketen. Grüne sind keine Linken, die wollen das Busengreifen, die Tierversuche und den Alkoholismus in der Bundeshauptstadt abschaffen, und wenn sie etwas anderes wollen, kriegen sie Schimpfe, weil sie den kleinen gemeinsamen Nenner verlassen, und anhören tut sich das dann sowieso keiner, und wählen würde sie auch keiner, wenn sie sagen würden, sie seien Kommunisten.

Selbst profiliertere, analytischere Grüne antworten auf die Frage, ob sie Marxist seien, wie etwa Thomas Ebermann mit einem ausweichenden „Karl Marx war ein kluger Mann“. Oder so ähnlich. Eine Feststellung, auf die man sich nötigenfalls wohl auch mit Otto Graf Lambsdorff einigen könnte. Nein, Böll und Grass sind die einflußreichsten Linken, obwohl sie eher Christen sind, die gegen den Satan kämpfen, und Mutter ist ein typischer Vertreter der einflußreichsten und meistdiskutierten Oppositionsbewegung in der BRD.

Da geht sie die Mönckebergstraße runter. Preßt den langen grauen Kalender an sich wie eine Handtasche, die man ihr rauben könnte. Und in ihrem Herzen sieht es grau aus. Traurig-seriös-grau wie der „Orwell-Kalender“. Was kann man nur tun gegen das Böse? Protestieren und blockieren, das mag ja ganz schön sein, aber warum überhaupt? Wo ist die Wurzel des Übels?

Die derart besorgte Mutter greift zum neuen „Spiegel“. Darin schreibt Wilhelm Bittorf etwas über die Verfilmung eines sehr phantasievollen und ungemein erfolgreichen Romans von Michael Ende und stellt die Frage: „Stehen die Erdbewohner nicht genauso dem Nichts gegenüber wie die Phantasier? Droht das Leben auf dem Globus nicht genauso an Phantasielosigkeit zugrunde zu gehen und an den falschen haßerfüllten Phantasien?“ Mutter schmeckt daran und findet es richtig. Ja, ja, die grauen Städte, mit etwas mehr Farbe gäbe es da gewiß weniger Schizophrenie und Kriminalität.

Es ist eben nie zu spät, ein Hippie zu werden. Der Hippie war doch der erste Protestler, der nicht mehr gegen ein System war, sondern gegen das Böse schlechthin, weil er rausgefunden zu haben glaubte, daß auch das andere System Arbeitslager und Gulag Solschenizyn … Heute hat er seine Wunderwaffe, die Phantasie, verbreitet und pinselt, wie man in derselben Woche lesen kann, im „Stern“ schöne, alte, deutsche Bunker an der französischen Atlantikküste popfarbenscheußlich an und nennt das auch noch Wiedergutmachung. Mutter schmunzelt über den „Stern“-Artikel. Tja, Phantasie muß der Mensch haben, denkt sie.

Mit ein bißchen Farbe sieht der häßliche Bunker gleich viel freundlicher aus. In derselben Woche dokumentiert dieses andere Forum der zahlenmäßig relevanten „Linken“, eben mit einem neun Jahre alten Lied Zeppelin-Cover: „Fantasy – die neue Welle“. Wir sehen ein Photo der Gruppe Kiss, die ungefähr so sehr aus dem Geschäft ist, wie die westdeutsche Linke, nur noch nicht so lange, und wir staunen über eines dieser superbescheuerten Arik-Brauer-Bilder, das einmal mehr Menschen um Kleinstlebewesen und Plankton nachempfundene, große, weiche Formen und Figuren gruppiert und den „Stern“-Bildunterschriften-Autor den Klassiker unter den deutschen Feuilleton-Formulierungen aus der Tasche ziehen läßt: „Zwischen Realität und Phantasie“.

Das ist nun nichts Neues mehr für Mutter, ein Arik-Brauer-Poster hängt schon seit Jahren bei ihr in der Küche, und schon oft ist sie vor Pöseldorfer Galerien stehengeblieben, die einmal mehr irgendeinen Osterreicher aus der Schule der „magischen Realisten“ für viel Geld feilboten.

So entsteht ein warmer, historischer Gleichklang in Mutters Seele. Dieser Stadtbummel hat doch viel gebracht. Den Leserbrief abgeschickt, den „Orwell-Kalender“ erworben und wahre Worte in „Stern“ und „Spiegel“ gefunden. Vielleicht werden ein wenig Phantasie, mehr Farbe und mehr Led-Zeppelin-Cover doch noch den Holocaust abwenden.

Merkwürdig und unverständlich nur diese Kinder. Am nächsten Wochenende behaupten sie unter wieherndem Gelächter, die Phantasie ist die Mutter aller Kriege.