Der letzte Mensch auf der Welt

Robert nahm den Strohhalm aus dem Whiskey-Soda, saugte ein paar verbliebene Tropfen Flüssigkeit aus dem weiß-blau gestreiften Plastikhalm und schüttelte den Rest über dem länglichen Glas aus, eine im Laufe der Zeit habituell gewordene Bewegung, wie ich nicht allein deswegen annehme, weil sie ohne Hinsehen ausgeführt wird, die gleichwohl ihren Ursprung in einer bestimmten, auch in der sogenannten Szene verbreiteten, Attitüde gehabt haben muß – Das, was ich bezahlt habe, will ich auch zur Gänze ausnutzen –, möglicherweise um eine, in besagter „Szene“ üblicherweise anzutreffende Renitenz überhöht – S’ ist eh alles zu teuer hier. Überhaupt ist alles zu teuer – oder auch ganz einfach in der von der Kriegsgeneration überlieferten Bauernweisheit „Nur nichts umkommen lassen“ begründet ist.

So ist Literatur und so wollen sie sie wieder haben. Ins Kraut schießen: Unbeteiligte Beobachter, feinsinnige Satzschmiede, die von Beinkleidern statt von Hosen reden, zum Gegenstand ihrer Texte gerne Computer und andere mit Aktualitätssignalen überhäufte Gegenstände wählen, da sie ja Gegenwartsliteratur schreiben wollen und Gegenwart ist ja bekanntlich, wenn Computer vorkommen. Eine neue Haltung, eine alte Bosheit, einen Willen oder irgendeine Besessenheit, ein eingesperrtes Monster hat sie nicht, diese Beinkleider-statt-Hosen-Literatur, aber oft schöne alte Wörter, an die sich viele gar nicht mehr erinnern, das Lexikon des Literarischen – das kennt sie; die Freuden des Poeten, das gilt ihr peinlich, das schlägt sie zur Zeit vor 68, von der sie nichts wissen will, an einer Überdosis New Wave, oder besser an einem Mißverständnis der letzten zehn Jahre, wie es so miß- nur Schriftstellern passieren kann, von Anfang an zur Folgenlosigkeit verurteilt. Ja, so ist es.

So dachte ich vor mich hin, als ich meine massige Figur, die den Leuten vor allem wegen meines massiven, oft in eine viel zu enge Strickbluse gestopften Busens auffällt, durch ein gut besuchtes bürgerliches Eßlokal schob, immer auf der Suche nach einem halbfreien Tisch. Denn zu meinem Glück gehört zur Mittagszeit ein junger Mann, dem das Essen nicht schmeckt. Und leiden soll er vor meinen Augen.

Diesem schien der Schweinebraten überhaupt nicht zu schmecken. Nicht, daß er über Nacht zum Vegetarier geworden zu sein schien, aber … er schien toter als das ausgekochte, tote Tier auf seinem Teller. Und er mußte sich auch so fühlen. Vermutlich dachte er, um sich aufzumuntern, an Eisenbahnen, an den TGV und den ICE, daran, daß das Leben nach soviel Rohstoff-Krisen und Verzögerungsepochen, nach Tempo 100 und unrentablen Ergebnissen der Concorde endlich wieder schneller werden würde. Selbstverständlich ekelte es ihn, daß ich mich auf ihn zu bewegte, irgendwie heroisch in dem Gefühl oder Bewußtsein verdampfend, daß er die letzte Nacht kaum geschlafen hatte, aus welcher jugendlichen Torheit auch immer es dazu gekommen sein mochte, und daß er sich dennoch so hergerichtet hatte, daß man ihm dies nicht ansah, oder vielleicht doch zufriedener darüber, daß man ihm Problem und Lösung ansehen konnte, wenn man es, wie ich, darauf anlegte.

Daß Blässe als vornehm bezeichnet wird, ist so ein Mißverständnis, daß auch diesem Jungen den Kopf verdreht haben mußte, der grünliche Schimmer, der auf dem Fleisch lag, mag ihn an seine eigene Blässe erinnert haben, so er zur Selbsterkenntnis überhaupt befähigt ist, denn er strich sich gerade so verwirrt durch das Haar, das freilich in seiner Kürze nicht viel Material zum Streichen aufbot, aber ihm immerhin, als Vorwand zum Griff an den Kopf, die Möglichkeit gegeben haben konnte, haptisch seiner Existenz teilhaftig zu werden. Oft ist das bloße Vorhandensein für diese Jungen ja das größte Problem.

Mit einer häßlichen, hohen Stimme – ich habe nun einmal so eine Stimme – belferte ich ihn an: „Tag, junger Mann! Ich kann mich doch sicher an ihren Tisch setzen. Das ganze Lokal ist überfüllt, und sie halten diese ganze, große, abgebeizte Holzfläche besetzt.“

Meine Stimme bohrte sich in den dampfenden, geschwollenen Schädel des Jüngelchen, blieb darin stecken und gab ihm den Wunsch ein, mich töten zu wollen. Diese Generation, die keinen Krieg mehr mitgemacht hat, hat ja kein Bewußtsein davon, was es heißt, einen Menschen zur Strecke zu bringen und ist daher um so schneller bei der Hand mit dem Wunsch, unpassende Menschen liquidieren zu lassen. Nicht, daß sie auch nur den geringsten Versuch unternehmen würden, aber sie denken sich schon wenige Sekunden nach dem Abfassen des Todeswunsches ihre eigene Verteidigung aus. In diesem Fall ein Winseln um mildernde Umstände vor einem Gericht, das, wie es diesen Buben passen würde, meine Häßlichkeit als Tötungsgrund hinnehmen würde …

Der Kleine hatte Sodbrennen.

Aber er sagte nichts, sondern starrte nur auf das Stück Kaufhausstraß, das auf meinem rosanen Riesenbusen hin und herkullerte. Selbstverständlich entsteht ein guter Text nur, wenn die Sterne günstig stehen. Uranus im siebten Haus, Pluto in Konjunktion zu Venus, wenn die ganze Realitätsmilch wärmlich und weißlich angerührt ist und soviel Wärme da ist, daß sie verdunsten kann. Ich verfluche den Realismus, wann immer er sich durchsetzt. Dann wird die Realität zu einer Welt von Bildern, und jeder Mensch ist nur noch ein Angestellter im Ministerium des Pittoresken, Requisit einer guten, pittoresken Geschichte und nie Anlaß für gutes, humanistisches Mitleid. Aber heute müssen ja wieder gute Geschichten erzählt werden und von Mord sollen sie handeln. Der Junge will mich töten, weil seine Geliebte ihn verlassen hat. Neben dem Schweinebraten liegt ein Notizblock, fast schon zugeschüttet von den vielen häßlichen Gegenständen, die ich aus meiner Handtasche hervorklaube. Sein Selbstmitleid: Er hält sich für sanft und gut, weil er mich still meine ganze Häßlichkeit, mein ungeschicktes Wesen, meine unförmigen, widerwärtigen Gegenstände vor ihm ausbreiten läßt und doppelt ungerecht von dieser Freundin behandelt, weil sie ihn trotz seiner toten, sanften Art, seiner von ihm für vornehm gehaltenen Blässe vor die Tür gesetzt hat, dahin, wo andere Menschen für ihn das Essen kochen, außerdem Schweinebraten mit grüngelben Gesichtsfarbenschimmer, und dicke rosa Prollbusen um ihn herum wabern, von seinem Notizblock ablenken und überhaupt, das Mädchen hatte ihm die Welt zugemutet. Die Welt aber bin ich. Unförmig, rosa, das häßliche Weib Welt, seinerzeit von Baal geschwängert, aber nie mit etwas anderem niedergekommen als Krieg, Vernichtung, Ausrottung und bürgerlichen Jüngelchen wie diesem hier, dem sein Schweinebraten nicht schmeckt, weil er nicht bei oder mit der Freundin speist, an deren Seite die Welt (ich) immer so schön in Bilder zerfallen ist, hier ein pittoresker Arbeitsloser, dort ein fettes, widerwärtiges Weib mit einem fetten Busen in einer eklen rosa Strickbluse. Aber wozu hinsehen, wo man doch auf die reizende Freundin schauen kann.

Seit Stunden schon versuchte er, ihr zu schreiben. Schon heut nacht um vier, als er nach einer Stunde Schlaf fahrig aus demselben schreckte, hatte er den Versuch begonnen. Morgens auf der Arbeitsstelle mit Bleistift und Notizblock weitergemacht. Angeblich hatte sein Chef, ein Freund von mir, wir trinken manchmal in Paris Pernod mit Cola, wir passen gut zusammen, er ist fett und ihm schmeckte der Schweinbraten, den ich in meiner Jugend für ihn zu kochen pflegte, angeblich hatte dieser Chef argwöhnisch auf die Ausbeulung gestarrt, die der immer wieder hervorgezogene Notizblock in seiner modisch weiten Hose verursachte. Als würde Max den Jungens auf die Hosen starren. Aber sie können ja nicht leben ohne halluzinierte Feinde innerhalb einer halluzinierten Obrigkeit, diese Jungen.

„Liebe! Ich wünschte, Du könntest Dich bereiterklären, Dich noch einmal mit mir zu treffen, hatte diese Nacht schreckliche Träume wegen Dir …“

Wegen mit dem Dativ. Ich sah ihm seine Unkenntnis an, und viele seiner Probleme mochten damit zusammenhängen, daß er „wegen“ mit dem Dativ dachte; denn was für eine finale Ausweglosigkeit ist in diesem „wegen“ mit dem Dativ angelegt. Verhältnisse, die sich nie hochzwirbeln können in dialektische Schrauben, in geistreiche, ja meinetwegen auch verabscheuungswürdig geistreiche Auswege. Mit barbarisch abscheulichem Diskant bestellte ich beim Ober: „Dasselbe wie der junge Mann.“

Dessen vor seinen sinnenden Stirnfalten und schweifenden Blicken kalt gewordener Schweinebraten lieferte ihm das Assoziationsmaterial für den letzten unausgesprochenen Verzweiflungsschrei: „Schweine, alle Schweine“.

Gegen Schweine sind sie alle. Die Linke gegen das Schweinesystem, die neuen, ästhetischen Jünglinge gegen häßliche Schweine und die Amerikaner nennen ihre Polizeibeamten „Pigs“. Ich bin ein Schwein, rosa und häßlich, eine Beleidigung für sein Auge, oh ja, man darf mich töten.

Er griff nach dem Zahnstocher, um sich endlich der häßlichen Sehnenfäden, die sich um seine Zähne gelegt hatten, zu entledigen. Seine rechte Hand spielte mit dem Bleistift und seine linke mit dem Zahnstocherhölzchen, eines nach dem anderen zog er aus dem kleinen häßlichen Behälter, kaute kurz darauf, um dann das Nächste zu nehmen …

So ist sie eben, die Wirklichkeit, eine Handlung folgt der nächsten, die Zahnstocher durchmessen das Raum/Zeit-Kontinuum, und etwas Blut fließt aus dem parodontösen Zahnfleisch des anämischen Jungen, der aufgrund dieser Anämie eigentlich nicht darauf verzichten kann. Auf sein Blut. Ich Schwein weise ihn zurecht, „bitte doch mit Serviette, wozu ist die sonst da.“ Selbstverständlich ist das alles verdammt parabolisch.

Früher hatte ich nachts wach gelegen und geglaubt, meine Eltern wollten mich umbringen. Ich hatte aus den Zeitungen erfahren, daß Erwachsene Kinder töten, und die einzigen Erwachsenen, die ich kannte, waren meine Eltern. Alle Sorge und Fürsorge, je sorglicher und fürsorglicher sie ausfiel, war nur ein Vorwand, ein Versuch der Tarnung, um mich in Sicherheit zu wiegen. Man enthielt mir Zeitungen vor; denn man wollte nicht, daß ich von der schrecklichen Angewohnheit der Erwachsenen Wind bekam. Ich wollte alles über dieses Ziel der Eltern erfahren. Was hieß schon „tot“. Ich nahm meine Schwester, führte sie in den Garten, nahm ihre Hand und führte sie an die Blätter der Pflanzen, vor deren Giftigkeit man mich gewarnt hatte. Dann sollte sie ihre Hand in den Mund stecken. Sie starb nicht. Heute ist sie groß und fett. Sie hat einen immensen Busen und trägt gerne türkisfarbene Strickblusen, ihre Haare sind blondiert.

Noch heute neige ich zu Selbstversuchen. Dafür gibt es die „Wirklichkeit“ und die „Literatur“, die gegenseitig gerne aneinander herumpulen. So gerne wie ich zwischen beiden „oszilliere“, wie es der Junge sagen würde, der das Blut zwischen seinen Zähnen schmeckt und glaubt, daß, ja daß das die Welt sei, den salzigen Geschmack des eigenen Blutes zwischen den Zähnen, am Tage nachdem ihn das Mächen verlassen hat, das er liebt. Dabei sitzt sie ihm direkt gegenüber. Das Wort für Welt ist Weib.

Robert sagt, daß er Anthologien zum Thema nicht leiden könne. Mord? – okay: Wann darf ein Terrorist töten. Ist uns ein Terrorist lieber, der Frauen und Kinder verschont, und welche Terroristen sind widerlich und welche sind gerecht? Die hübschen sind gerecht, die häßlichen sind widerlich. Natürlich. Daß man Hinrichtungen wirklich von Herzen verachtet und eine Nachkriegsgeneration, die Bataille liebt und de Sade wegen etwas anderem als seinem Zählzwang. Wie man die Nacht mit einer Spinne verbracht hat, die man sich nicht anzufassen getraute, und die zu töten einem die Moral verbot. Und dieselbe Geschichte, um eine Volte aufgedreht, von der Frau, die einen Mann nur deswegen nicht verließ, weil er der einzige war, der ihr die blasphemisch-häßlichen Insekten, ohne diese zu töten aus dem Blickfeld tragen konnte. So Geschichten eben. Robert sagt. Robert sagt. Robert sagt.

Ich habe so manche Nacht mit Robert verbracht. Und ich gebar ihm viele Kinder, und alles wurde gut. Als dann die Welt in Flammen aufging, gab es nur einen Überlebenden, einen Mann, der sagte, er würde noch mit einem Stein schlafen, wenn er dadurch dazu beitragen könnte, daß wenigstens ein Teil der menschlichen Geninformationen erhalten bliebe. Er sagte das, als er mit einem Stein schlief, ohne zu wissen, was daraus werden könnte und eigentlich mit soviel Verstand begabt, wissen zu können, daß daraus nichts werden kann. Denn selbstverständlich schlief er nur aus Lust mit dem Stein, und der Gedanke der Fortpflanzung hatte für ihn auch nichts mit der Menschheit zu tun. Nicht einmal bei ihm, meinem geliebten letzten Mann. Sondern nur mit seinem eigenen Genmaterial, das er liebt wie sich selbst. Mich haben sie nie geliebt. Meinen Namen haben sie anderen Dingen gegeben. Anderen Dingen und anderen Weibern.