„Bruttosozialprodukt“: Das ironisch gemeinte Lied hat sich als Wende-Schlager durchgesetzt
Die Musikindustrie lebt von Hits. Hits bringen nicht nur Gewinne, die man willkommen entgegennimmt. Sie sind existentiell notwendig, um die alltägliche Nietenproduktion dieser Industrie zu finanzieren, die sich in letzter Zeit gerne „krisengeschüttelt“ nennen läßt. Hits sind aber nicht, wie es eine naive Medienmanipulationstheorie gerne glauben will, planbar, konstruierbar, absehbar. Mit den Hits ist es wie mit der Subversion: Man weiß nie, wann und von wo sie kommen (die Hits, die Subversion).
Jetzt kam ein Hit aus einer Ecke, aus der zu kommen für Hits anscheinend zur Mode wird: aus der unverfälschten, ungetrübten links-alternativen Jugendzentrumsszene. Irgendwie langhaarig (oder auch nicht), irgendwie bärtig (oder auch nicht), irgendwie irgendwo irgendwie.
Klar, daß auch in diesen Zonen musiziert wird. Nach wie vor bodennah, menschlich, bürgernah, gemütlich und mitmenschlich. Das ebenso oft böse wie geniale Spiel des Pop wird hier nicht gespielt, hier zählt noch der Mensch, auch wenn inzwischen an Stelle von Springsteen-, Dylan-, Stones- oder Blues-Remakes vorsichtig modernisierte Klänge produziert werden. Es bliebe nicht erwähnenswert, wenn nicht aus dieser Welt jetzt ein Nummer-Eins-Erfolg gekommen wäre, der die Nation eint: „Bruttosozialprodukt“. Das ist ein bereits sechs Jahre altes Lied, aber es paßt so perfekt zur Wende, weil es vorgibt, die im Zeichen des Kohls wiederbelebte Wirtschaftswunder-Arbeitshaltung zu persiflieren, vom Ort des anständigen verschlufften Nichtsoverbissensehers aus.
Jedenfalls passierte folgendes: ZACK! BOING! NUMMER EINS!
Was sich jetzt im Nachhinein auch ganz gut erklären läßt: „Bruttosozialprodukt“ hat exakt den leicht verschunkelten mit Reggae angereicherten Drive, die leicht zu merkenden Verse, die auch eine „Polonäse Blankenese“ und andere Widerwärtigkeiten die Gunst tumb-ausgelassener Deutscher gewinnen ließen. Dazu kommt die seltsame Vorliebe für denaturierten Reggae („By The Rivers Of Valium“) und andere karibische Pop-Musiken; eine seltsame Disposition im deutschen Volkscharakter, die aus dem Reggae das vermeintlich Schlappe, Verschleppte herausdestilliert (die Deutschen sind, auch wenn sie ausgelassen sind, immer etwas schlapp) und mit einer Prise karibischer Träume anreichert (freilich nicht auf dem Niveau auch noch der schlechtesten Langnese-Kreation, sondern eher Karibik als etwas weiter entfernt gelegene und von noch dunkelhäutigeren Einwohnern besiedelte Zweitbalearen).
Aber erst der W-Faktor (der Wende-Faktor) machte „Bruttosozialprodukt“ zum Superhit und zum Gegenstand von Diskussionen, die schließlich auch eine Zeitschrift wie diese animierten, einen wie mich (um es mit Beckenbauer zu sagen) zu beauftragen, über das Phänomen „Bruttosozialprodukt“ zu räsonieren. Folgende Idee rumort neuerdings in den Köpfen der Schlauberger: Geier Sturzflug sind zwar Linke und haben die Absicht, einen zu beklagenden Tatbestand ironisch zu kommentieren. Der dumme Arbeiter, der den Refrain „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt“ aber gerade in der Werkshalle hört, begreift die Ironie nicht und schwooft, mit vor lauter Spucke triefenden Pranken das Arbeitstempo erhöhend, zum Schunkelreggae und versteht das Lied ganz direkt als rechten, prokapitalistischen, den Aufschwung feiernden Song.
Ich sage, der Arbeiter ist gar nicht so dumm. Er weigert sich einfach, die blöde Technik der Ironie bei offensichtlichen Dingen noch zu akzeptieren.
Oder er ist blöde, weil er auf diese Sorte Versaneinanderreihung plus Populärreggae in dieser Unkultur konditioniert wurde. Und Sturzflug erklären mir nun, daß sie die Massen erreichen wollen und sich dafür auch ihrer Sprache bedienen müssen. „Dem Volk aufs Maul schauen“, zitieren sie Dietrich Kittner wie der Luther zitiert.
„Bruttosozialprodukt“ besteht aus Sprüchen. „Sprüche“ sind dem angeblich „wirklichen“ Sprechen von Jugendlichen sich annähernde Verslein und Reimchen, die vor gut zehn Jahren von Udo Lindenberg entwickelt wurden. „Sprüche“ sind ihrem Wesen nach von zwei Arten von Zwang gekennzeichnet: sie wollen unbedingt aufklären, und sie wollen unbedingt zum Lachen bringen. Witzig sind sie selten, und das andere ist meistens „Aufklärung, komm raus du bist umzingelt!“ Ihre schlimmste Eigenschaft aber ist Anbiederung an das, was alte Männer für Slang, Straßensprache oder sowas halten. Die Suche nach dem verlorenen Volk.
„Bruttosozialprodukt“ will die Wende ironisieren und macht sich durch seine volkstümelnde Attitüde, die sich, was die Vorliebe für die Ausdrucksweise des vielgeliebten sogenannten Volkes betrifft, wenig von der Rede des hinlänglich beschriebenen, wenig ersprießlichen Bundeskanzlers unterscheidet, zum Komplizen dieser Wende. Das Gewissen will sich versichern, daß man nicht einfach nur als flott empfundenen Vulgär-Reggae aus Spaß an der Freude und fürs Straßenfest spiele, sondern darüber hinaus an dem edlen jahrhundertealten Vorhaben der Volkserziehung beteiligt ist.
Das Kernstück ist zweifelsohne „Halli Galli“: „heute nacht kommen wir durch dein radio / wenn du alleine zuhause bist / wir haben für dich diesen hit arrangiert, damit du deine sorgen vergißt / fürs gemüt ham wir liebe, triebe, herz und schmerz und schmalz / rockn roll für den kreislauf, hustelinchen für den hals“. „Und fürs schlaflose durch innere Provinzen vagabundierende Bewußtsein die kritische Ironie“, ist man versucht hinzuzufügen. Sturzflug wollen ein subversives Stück durch den Äther jagen, das gleichzeitig Populärkunst ist und Populärkunst entlarven soll. Da aber auch diese Gruppe vom Plattenverkauf leben muß (und will, sonst wäre sie kaum vom kleinen linken Trikont-Vertrieb zu Ariola, der verführerischen Bertelsmann-Tochter, gewechselt), schlägt das Gehirn des Aufzuklärenden Blasen, wenn es den Winkelzügen der (Selbst)entlarvung folgen will. Da sitzt er dann, der Konsument und zupft an einem Gänseblümchen: Ware oder Aufklärung. Das letzte Blütenblatt bleibt stehen und sagt „Ware“.
Der neue Hit heißt „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht“. Wieder mit diesem unerträglich deutlichen anbiedernden Humor alternativer Stadtzeitschriften gesegnet, malt er in lockeren Sprüchen den Holocaust aus. Und wieder verstehe ich nur „Polonäse Blankenese“. Was soll ich auch sonst verstehen? Daß ein atomarer Holocaust beklagenswert sei? Ein interessanter Standpunkt, gewiß.
Dabei ist überhaupt nichts gegen Hits einzuwenden. Einige meiner besten Freunde sind Hits. Aber wer sich der Ausdrucksweise deutscher Bierseligkeit, teutonischer Gemütlichkeit bedient, begibt sich auch in deren Tradition. Deutsche Volkstümelei, ob sie nun ein linkes Gewissen, einer schweren Eisenkugel gleich, hinter sich herschleppt, oder ob sie sich geradlinig dem ihr innewohnenden faschistischen Drive hingibt (wie besagte Polonäse, diese menschenverachtende Scheiße. Um auch mal moralisch zu werden), sie bleibt die alles nivellierende trübe Dunstglocke eines feisten Sich-Wohl-Fühlens, die das Gegenteil von Kampf, ja schon von Auseinandersetzung ist.
Kunst hat ihre eigenen Gesetze, und oft ist es wichtiger davon etwas zu verstehen, als jeden Tag dreimal kräftig gegen die Nachrüstung zu fluchen.
Nehmen wir zum Beispiel den Titel eines hervorragenden britischen Anti-Nachrüstungs-Songs, und jeder weiß, wie man es machen könnte: „We Don’t Need this Fascist Groove Thang“.

