Als der Filmemacher, Aktivist und große Verweigerer Guy Debord, Anführer der ominösen Situationistischen Internationalen, 1967 sein Traktat Die Gesellschaft des Spektakels vorlegte, klagte er die modernen, kapitalistischen und hochindustrialisierten Gesellschaften des Westens vor allem wegen eines Makels an: der Unmöglichkeit von Erfahrung. In der kapitalistischen Kultur der Ware, in der der Tauschwert immer über den Gebrauchswert herrscht (und damit das Austauschbare über das Relevante, über die Erfahrung) hat sich ein großer sedierender Screen aus visuellen Ablenkungsmanövern gewissermaßen vor die Welt selbst geschoben, in der die so sedierten, entfremdet Schuftenden in Schlafstädten vor sich hin vegetieren – sie machen keine Erfahrungen mehr.
Diese Kritik ist wie so viele Kritiken der Entfremdung, des Vermittelten, des Verlust einer vermeintlich unverstellten Welt sehr erfolgreich gewesen. Niemand wollte so leben, insbesondere die damals noch relevanten Mittelschichten und ganz besonders deren Kinder wollten etwas Anderes: Sie wollten Erfahrungen machen, die nicht vermittelt waren, sie wollten Erfahrungen mit dem Echten, dem Authentischen. Eines der Mittel der Wahl für diese Erfahrung war der Rock ’n’ Roll.
Dass von Authentizität seit Jahrzehnten immer wieder so hartnäckig die Rede ist, hat drei Gründe, die sich gegenseitig verstärken. Zum einen gibt es im 20. Jahrhundert mit der massenhaften Verbreitung technisch aufgezeichneter Bilder und Töne eine medial verbreitete gewissermaßen technische Authentizität menschlicher Körperlichkeit. Echte Menschen haben in ihrer authentischen Körperlichkeit tatsächlich vor Kameras und Mikrofonen gestanden und sich lebendig aufzeichnen lassen. Damit treten technische (fotografische und phonographische) Authentizitätseffekte und die fast paradox mit ihnen verbundenen Stillstellung (Mortifizierung) von Lebendigkeit gemeinsam mit künstlerischen und stilisierenden Vorgehensweisen auf (Aussagen, Gestaltung, Dramatisierung).
Das Foto sagt: Dieser Moment hat tatsächlich stattgefunden
Die technische Authentizität wirkt auf Stil und künstlerische Strategie ein, unterwandert diese oder verstärkt sie, die Künstlerinnen und Künstler wissen dies oder nicht, meistens eher nicht. So entsteht eine das vergangene Jahrhundert und vor allem dessen zweite Hälfte künstlerisch und kulturell prägende Spannung zwischen dem Lebendigen, Unwillkürlichen, Zufälligen als (technisch geförderte) Attraktion und dem künstlerisch oder kulturindustriell Geplanten. Ein Foto ist zugleich ein Bild mit allen Konsequenzen (Komposition, Bezug zu anderen Bildern, Ähnlichkeit, Verweischarakter etc.) und ein reines Dokument (dieser Moment hat tatsächlich stattgefunden).
Diese als Chance wie als Problem lange unbegriffene Spannung zwischen Gestalteten und Zufall musste, zur großen Verwirrung von Künstlerinnen und Künstlern, Produzentinnen und Produzenten, die Kriterien der Gelungenheit bei Kunstwerken massiv verschieben: vom erfolgreich durchgeführten Plan zum erfolgreich evozierten glücklichen Zufall; von Kunst zu Charisma, von Verführung zu Sexyness.
Zugleich berührte sie sich mit der zweiten Ursache des dauerbrennenden Authentizitätsdiskurses, dem oben erwähnten Gefühl eines Verlusts von Erfahrbarkeit. Neben dessen linker, kapitalismuskritischer Variante, die diesen Verlust in der Warenform selbst lokalisierte, gab es eine schon ältere und in Deutschland erfolgreichere rechte Variante in der moderneskeptischen Kulturkritik, die in Technisierung, Massengesellschaft, Großstadt und, ja, Aufklärung die Ursachen des Übels erkennen wollte. Die Verwechselbarkeit und vor allem gezielt betriebene Verwechslung dieser beiden Diskurse hat sicher zu einigen großen Katastrophen des letzten Jahrhunderts beigetragen: im Denken, in der kulturellen Orientierung, vor allem in der Bildung politischer Ideologien.
Wir haben den Job, authentisch zu handeln, uns selbst aufgebürdet
Der zweite Grund für das Fortbestehen von Authentizität als Wert und Thema ist also die geheime Einigkeit in den unverstandenen Gemeinsamkeiten zwischen rechten bis völkischen Echtheitsverlustklagen und linker Warenkritik, deren Schwundstufen rechtem Gejammer oft nur zu ähnlich sehen. Als Theodor W. Adornoschon 1964 seine Kritik an dieser rechten Entfremdungskritik in ihrer erfolgreichsten und vielleicht noch am ehesten der Rede werten Form bei Heidegger formulierte, nannte er seinen Essay Der Jargon der Eigentlichkeit – die englische Übersetzung heißt The Jargon of Authenticity.
Die modernen Kunstformen, die auf Aufzeichnungstechnologien basieren und so mit den Authentizitätseffekten echter aufgezeichneter Körperlichkeit zu spielen gelernt haben – Kino seit Nouvelle Vague, amerikanischer Experimentalfilm und Andy Warhol, Pop-Musik, dokumentarische Fotografie – waren auch stets in der Gefahr, beide Diskurse zu bedienen. Dabei ist das technische Mittel der Aufzeichnung ja beides: Dem Leben und seiner Kontinuität wird einerseits etwas gestohlen, die Entfremdung und Nicht-Authentizität wird durch die Zirkulation mortifizierten Lebens also eher noch gesteigert. Das Gestohlene wird aber so aufgezeichnet, dass es seiner Alltäglichkeit, Zufälligkeit enthoben wird, gewissermaßen ewig glänzt, zum unentfremdet wirkenden, weil als nicht inszeniert empfundenen Attribut und Ausdruck echter Menschen und der großen, erhabenen Kontingenz des wirklichen Lebens. Schauspieler legen sich daraufhin kleine Ticks zu (am Ohrläppchen spielen), um diesen Effekt des Zufälligen planen und beabsichtigen zu können, Rockmusiker entdeckten die Pose.
Echter Schweiß, echte Tränen, echtes Sperma
Diese Entwicklungen prägen gerade Formate wie Pop-Musik, aber auch Fernsehgenres wie Talkshows und Reality-TV bis heute. Nebenbei basieren ganze Zweige der Kulturindustrie wie Pornografie auf diesen Attributen: echter Schweiß beim Rock ’n’ Roll, echte Tränen in der Castingshow, echtes Sperma beim Cumshot. Dennoch ist dieser eben geschilderte Stand der authentizistischen Kompensation mit Echtheitsprodukten nicht der neueste.
In einer Gesellschaft der Authentizität leben wir erst, seit wir jedes Gefühl dafür verloren haben, dass wir als Einzelne nicht nur deswegen keine Erfahrungen machen, weil uns die Tauschwerte regieren (oder in der rechten Variante: der „große Austausch“), sondern dass wir dieses Schicksal mit anderen teilen. Seit wir glauben, dass es keine kollektive, geteilte Erfahrung ist, sondern eine individuelle, private – oder zumindest seit wir so handeln, als sei das so. Seit wir den Job, authentisch zu handeln, ganz freiwillig nur uns selbst aufbürden, nicht den Beziehungen, Verhältnissen, gesellschaftlichen Lagen, in denen wir mit anderen gemeinsam leben.
Dieses Verhalten wird von der zuständigen Gegenwartsdiagnose als Zwang zur Selbstoptimierung beschrieben oder auch als Narzissmus moralinsauer gegeißelt, es wird dem Internet und Instagram vorgeworfen oder der Vereinzelung und Entsolidarisierung im gegenwärtigen Kapitalismus. Und wie schon bei der vorherigen Stufe werden die gesellschaftlichen Ursachen als technische ausgegeben (und manchmal auch umgekehrt).
Selten wurde die Mechanik dieser neuen Stufen zwanghafter Authentifzierung beschrieben. Sie läuft in etwa so: Weil ich das Gefühl habe, dass genau das, was unabdingbar zu mir gehört, mir genommen werden könnte, wie alle anderen zunehmend privatisierten und einst öffentlichen Bereiche des Lebens in der Stadt, steigere ich dessen Besonderheit, Einzigartigkeit, Coolness mit jedem Post, mit jeder kreativen Mikroidee ins hoffentlich Inkommensurable. Zugleich tue ich das aber in einem ganz bestimmten Modus von Einzigartigkeit, den ich der Warenform abgeschaut habe. Je mehr ich mich unverwechselbar mache, desto mehr steigere ich meinen Wert; und dieser Wert ist mein Tauschwert, meine möglichst hochpreisige Austauschbarkeit.
Ich privatisiere mich, um nicht privatisiert zu werden
Dass das Wort für die Exhibition meiner Einmaligkeit oft genug das Wort „to share“ und dessen Übersetzung „teilen“ zum Einsatz kommt, ist bezeichnend für das Paradox dieser aktuellen Stufe des Authentizismus: Aus Angst vor der Enteignung (Privatisierung) meiner Privatsphäre (dem Teil meiner Kommunikation mit der Welt, den ich verantworte) erhöhe ich meinen Anteil, meine Kontrolle. Ich privatisiere, um nicht privatisiert zu werden. Ich zeige meine Individualität auf Facebook, wo aber nun gerade meine – gewissermaßen – entindividualisierende Algorithmisierung stattfindet.
Diese Steigerung des Versuches, sich selbst gegenüber authentisch zu werden, als lächerlich, tautologisch, masturbatorisch oder ideologisch zu denunzieren, ist nun aber auch leichter gedacht als tatsächlich legitim. Denn diese Kritik gehört selbst in ein authentizistisches Modell, das sich indes zu fein ist, seine Ideale preiszugeben; denn wenn ich meinen Mitmenschen misslingende und tautologische Modelle vorhalte, mit denen sie sich echt machen wollen, teile ich ja weiterhin den Wert des Authentischen. Ich folge einer uralten Kulturkritik, die bei den anderen, bei den am Leben Teilnehmenden, vor allem bei den jungen, weiblichen, nichtweißen Akteur*innen immer die Bereitschaft sich zu verkaufen erkennt und sich überlegen entweder, im weißen, bürgerlichen Fall deswegen fühlt, weil sie selbst nichts in den gesellschaftlichen Austausch einbringen müssen; in anderen Fällen auch, weil ihre Vertreter nicht einmal mehr etwas zu verkaufen hätten – geschweige denn in einem weiteren Sinne zu bieten hätten.
Doch dass jede pauschale, aus allgemeinen Gegenwartsdiagnosen abgeleitete Kritik an der Bodenlosigkeit der Anderen jederzeit ins Ressentiment stürzen kann (und in netzkulturelle Verhältnisse, wo solche Kritik ad hominem meistens im Beleidigungsmodus erfolgt und auch zwangsläufig muss), ändert nichts an der Berechtigung der allgemeinen Befunde. Den damit lebenden Individuen muss dabei immer ein Recht des Einzelfalls zugestanden werden, der gerade in dieser persönlichen Frage des Selbstbezugs und des Einsatzes von Masken die Validität der allgemeinen Diagnose durchkreuzen kann.
Gemeinschaft und Solidarität
Das könnte zu einer anderen Maxime führen, die unter heutigen Bedingungen gültig werden könnte: Je mehr der Glaube an eine Rettung vor Vermitteltheit und Vermischtheit durch das Beharren auf Individualität und deren Versteinerung in Abweichungs- oder Konformitätsfetischismen unhaltbar geworden ist, desto wichtiger wird die Reformulierung der politischen Gemeinsamkeit und der langfristigen Solidarität. Dies ist tatsächlich – wenn auch oft in unterentwickelter und unterpolitisierter Weise – in Phänomenen wie vor zehn Jahren Occupy, dann der Solidarität mit Geflüchteten oder unlängst Klimaprotesten erkennbar gewesen, gerade bei denen, denen oft vorgehalten wird, nur weiter an ihrem Lifestyle nun auch mit politisch-moralischen Attributen zu basteln.
Diese Bewegungen sind wichtiger als nostalgische Appelle an alte Formate von Gemeinsamkeit. Auch sogenannter Identitätspolitik wird im deutschen Feuilleton gerne vorgehalten, zu empfindlich zu sein, zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, zu „authentizistisch“ – dabei ist die politische Identifikation mit einer Gruppe ja nun gerade das Gegenteil davon. Nur für den sich als dezidiert außenstehend Identifizierenden gibt es keine Schnittmenge mit der „Identitätspolitik“ von Diskriminierten der verschiedensten Art. In der projizierenden Umkehr ihrer Borniertheit schreiben sie den anderen Authentizismen zu. Das Herausarbeiten der Schnittmengen ist aber, was man die Politik der Intersektionalität nennt. Deren Optimum wäre so etwas wie das je authentizitätsbezogene politische Problem der anderen Gruppe in solchen identitätspolitischen Koalitionen einzubeziehen – und von da aus wenn nötig auch den damit verbundenen Kulturrelativismus zu kritisieren.
So sind es gerade künstlerische Arbeiten, die mit den Tools des dritten Authentizismus – nach bürgerlich-kulturpessimistischer Eigentlichkeit und selbstverwirklichenden Rock ’n’ Roll – den Smartphone-Fotos und YouTube-Selbstdarstellungen arbeiten. Das sind etwa die Filme von Arthur Jafa oder Khalil Joseph, die den digitalen Selbstdarstellungsfetisch nicht nur als Symptom, sondern auch als Chance lesen und als Tool einsetzen, als den Stand der Dinge, hinter den keine künstlerische Arbeit zurück kann, und dem natürlich zugleich massiv zu misstrauen ist – aber auf seinem (technischen, künstlerischen) Niveau.
Die Errettung der äußeren Wirklichkeit erfolgt nicht mehr durch den dokumentarischen Blick auf ihre materiellen, noch allein durch den dialektischen auf ihre ideologischen Bestände. Sondern durch die Linsen, die sich die Subjekte vor die Subjektivität geschnallt haben, um ihre Echtheit im eigenen Blick, im eigenen fremden Blick auf sich selbst zu implementieren. Nicht mehr ein großer Screen steht vor der Wirklichkeit. Sondern ein großer Spiegel, in dem der Screen sich spiegelt – und in dem sich diejenigen spiegeln, die in ihn hineinschauen.