Der HSV hat keine Krise, allenfalls eine leichte Wintergrippe. Wie Hamburgs Fußballfans die Glanzzeit ihrer Kicker verschlafen, schildert SZENE-Autor Diedrich Diederichsen
Kann von einer Krise des HSV nach dem 1 : 1 n.V gegen Stuttgart überhaupt noch gesprochen werden? Nur weil er, vom Ungemach des Verletzungspechs verfolgt, mal drei Punkte Rückstand auf den Spitzenreiter einfing? Weil er vollkommen unwichtige Super- und Übercups, deren Erwähnung nicht einmal lohnt, zu gewinnen sich nicht die Mühe machte? Weil er vor französischer Minimalkulisse nicht die rechte Lust hatte, sich gegen mediterrane Murksmannschaften allzusehr ins Zeug zu legen?
Der einzige Vorwurf, den man dem HSV machen kann, ist das Ausscheiden aus dem Pokal der Meister, aber den hat das Hamburger Publikum zu verantworten. Beim Rückspiel gegen die namenlose rumänische Mannschaft hatte die machtvolle Kulisse bereits drei Bälle ins Tor gebrüllt und verlor dann plötzlich den Sinn für die Realitäten. Man glaubte, der HSV führe 3 : 0 sang „Oh wie ist das schön“ und versetzte die Spieler in einen debilen Glücksrausch. Dabei stand es erst 3 : 3.
Oder soll man von Krise sprechen, weil Schatzschneider seinen katastrophalen Musikgeschmack unlängst im „Club“ präsentierte („BAP“ und „Men Without Hats“)? Aber nicht doch! HSV-Spieler hatten noch nie Geschmack. Als das „Abendblatt“ vor Jahren eine Umfrage veranstaltete, was die HSV-Spieler gerade läsen, gab nur Rudi Kargus eine vernünftige Antwort („Dylan Thomas“), und der spielt jetzt bei Nürnberg. Daß Schatzschneider nicht trifft, ist auch nicht so tragisch. Weiß denn keiner mehr, wie der HSV-Star Keegan eine geschlagene Saison (seine erste), schlimmer als Wolfram Weltke in seinen schlimmsten Zeiten, wie ein Brummkreisel ineffizient über den Platz torkelte. Und später wurde er so populär, daß die Hamburgerinnen ihre Söhne massenhaft „Kevin“ tauften und Keegan öffentlich darüber nachdachte, seinen Sohn zum Dank „Helmut“ zu nennen (nach dem damaligen Bundeskanzler).
Stattdessen muß man anerkennen, sich klar machen, dass der HSV die einzige deutsche Mannschaft ist, deren Glanzzeit jetzt, hier und vor unserer aller Augen stattfindet. Hamburger sind die einzigen Fußballfans Deutschlands, die die mythologische Epoche ihres Vereins jetzt erleben können. Die nicht von den 30ern und Szeppan und Kuzzora träumen müssen, nicht von den 70ern und Beckenbauer und Maier, oder Weisweiler und Netzer, nicht von den 50ern und Fritz und Ottmar, nicht von des 60ern und Overath und Weber. Denn außer Spundflasche Posipal und Seeler (okay, nicht zu vergessen Knöpfle, Mahlmann, Gawliczek) ist Hamburgs Geschichte nicht reich an Mythen. Der HSV ist jetzt, und da fordere ich mehr Begeisterung als das vollnarkotisierte alljährliche Meisterfest (auch wenn das letzte mit seiner dumpf-norddeutschen, temperamentlosen, protestantisch-alkoholisierten Massenverbrüderung zu den Ereignissen des Jahres ’83 zählte) und mehr Solidarität und Durchhaltewillen bei Fans und Medien. Daß das „Abendblatt“ in seinem ansonsten hervorragenden Sportteil von einer Krise des HSV spricht, kündet nur von beispiellos schlechtem Gedächtnis, das offensichtlich nicht einmal bis 1973 zurückreicht, als der HSV eine Saison lang Abstiegskandidat war, geschweige denn bis 1967, wo der HSV in der Rückrunde 8 von 34 möglichen Punkten machte. In den letzten fünf Jahren war der HSV dreimal Meister und zweimal Zweiter, also so erfolgreich wie nie in seiner Vereinsgeschichte.
Das liegt nicht nur an zwei Männern, das wird von diesen zwei Männern auch hervorragend repräsentiert. Happel und Netzer sind die glamourösesten Stars der ganzen Bundesliga und als Charaktere den heutigen Kickerstars – meistens gänzlich unspektakuläre Schnauzbart-Charaktere, die man als Türsteher nicht ins Lokal ließe – schwer überlegen. Da Happel und Netzer die Geschicke dieser Mannschaft bestimmen, kann diese auch keine guten Spieler gebrauchen, die es ja sowieso nicht mehr gibt, sondern formbare. In Hamburg wird Autorenfußball gespielt. Regisseur und Produzent sind wichtig, nicht die Schauspieler („Schauspieler sind Vieh“, Alfred Hitchcock), und das ist die aussichtsreichste Methode, dem Fußball über die Krise der abwesenden Stars hinwegzuhelfen.
Q.e.d.: Nicht der HSV ist in einer Krise, allenfalls von einer leichten Wintergrippe angekränkelt, sondern das Hamburger Publikum, ihm geht das Gespür für eine historische Epoche ab, die es sehenden Auges verpennt. Und Günter Netzer, dieser klassische 60er-Jahre-Star, sollte sich etwas häufiger mit Blondinen und italienischen Sportwagen fotografieren lassen.
