Sperrmüll: Was nicht in die Mülltonne paßt, konnte abends an den Straßenrand gestellt werden und wurde dort oft genug vor der Stadtreinigung gerettet. Die meisten Kommunen haben diesen Service inzwischen abgeschafft; auch in Hamburg soll es nächstes Jahr damit vorbei sein.
Manchmal, vor allem nach Einbruch der Dämmerung, sah es aus wie eine Szene aus einem Romero-Film: „Zombie“ oder „Die Nacht der lebenden Toten“, Visionen einer unerwarteten nächtlichen Revolte durch die Vergessenen, Verbannten. „Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde zurück“ hieß der Werbeslogan eines dieser Filme. „Sperrmüll“ war, wie „Vollmond“, ein solcher Termin, an dem die Ordnung der bürgerlichen, diesseitigen Welt außer Kraft gesetzt wurde. Für die Hamburger Verwaltung muß es jedenfalls bedrohlich ausgesehen haben; denn die für die Abschaffung vorgegebenen Kosten- und Rationalitätsgründe überzeugen nicht einmal die Leserbriefschreiber von Springers „Abendblatt“. Sperrmüll bedeutet vor allem die Aufhebung des Eigentumsbegriffs. Was auf der Straße lag, gehörte allen, „Mein und Dein“ war außer Kraft.
Alles darf angefaßt, begrabbelt, auch auseinandergenommen, zerlegt und kaputtgemacht werden. Kein Besitzer ist da, der sein Eigentum schützt oder seine Ware gegen Geld tauschen will. Die Dinge, die da in unförmigen planlosen Haufen liegen, stecken, zwischen anderen Dingen klemmen, sind plötzlich aus der Warenwelt herausgefallen, kennen keinen Eigentümer, Hersteller oder Käufer mehr, sind wie nichts, ohne Referenz. Und doch sind sie ganz massiv materiell vorhanden. Sie sind wie die Menschen, die sie befingern und aufheben, eine Randgruppe, eine Randgruppe der Dingwelt. Waren-Zombies.
Und was sind Dinge, die keinen Tauschwert mehr haben, was wollen sie, was bedeuten sie?
Drei Voraussetzungen waren vonnöten, um dem Schrott einer Überflußgesellschaft die kulturelle und ökonomische Bedeutung zu verleihen, die er heute hat. Zuwanderung armer Ausländer, zunehmende Verarmung auch in einer Erste-Welt-Modellkapitalismus-Gesellschaft, vor allem aber die Entstehung und Verbreitung einer erst jugendlichen, inzwischen alt gewordenen Subkultur, die die Konsumgesellschaft laut ablehnte. Hippies und studentenbewegte Studenten waren die ersten und entscheidenden Kunden der großen Warenlager auf den Straßen. Wer erinnert sich noch an die Parole „Dem Establishment die Kinder wegnehmen!“? Wenn es Inneneinrichtungen für erste eigene Wohnungen und WeeGee-Zimmer nicht mehr kostenlos von der Straße zu holen gibt, wird das Verlassen des Elternhauses wieder schwieriger; die christdemokratische Kleinfamilie, die in den Siebzigern wahrhaftig schwere Schläge einstecken mußte, auch sie profitiert von der Abschaffung des Sperrmüll-Systems.
Vor allem aber waren die alten, weggeworfenen Möbel und Haushaltsgegenstände eine ideologische Angelegenheit, und zwar eine verdammt wichtige! Die Nichtware Sperrmüll paßte nur zu gut zur warenfeindlichen, asketischen Grundhaltung der ersten Welle jugendlichen Andersseinwollens. Es war egal, ob dieser Tisch vor seinem Warentod ein kafkaesker Bürokratenschreibtisch oder ob er ein schlichtes Küchenmöbel war; der Konsumfeind reduzierte ihn auf seine Funktion. Unterschiede zwischen funktionsgleichen Gegenständen galten als Finten des Konsumterrors. Möbel wurden als bedeutende Zeichen innerhalb eines ästhetischen Systems genauso ignoriert wie Kleidung; die gleichartigen langen Haare, Parkas und Jeans korrespondierten mit der alle Setzungen und Entscheidungen nivellierenden Stilwillkür in den WeeGees. Ich erinnere mich, daß es eine Zeitlang großen Spaß gemacht hat, all die Bezugssysteme, die die Elterngeneration für einen Gegenstand aufbrachte, vom Warenpreis bis zum Statuswert, einfach mit einer einzigen großartigen Vernichtungsgeste außer Kraft zu setzen. Gleichmacherei in der Dingwelt das war eine kräftige Revolte im Privatleben, ein befreiender Rundumschlag, der Luft zum Atmen schaffte.
Natürlich war dieser Zustand nicht lange zu halten. Irgendwann entdeckte ich beim Ausziehen aus der ersten Wohnung, daß mein Schreibtisch, dem ich bis dahin genausowenig Beachtung geschenkt hatte wie den willkürlich um ihn herumgruppierten Gebrauchgegenständen, ein kraftvolles Althamburger Kontormöbel war, das nur zu gut in den gerade mit großem Spaß gelesenen Teil des „Zauberbergs“ paßte und daher unbedingt erhaltenswert war. Während der Rest des Gerümpels, gesichtsloses BRD-Zeug, gerne wieder auf einem Sperrmüll landen durfe, von dem ich es ein paar Monate zuvor entnommen hatte.
Die Subkultur konnte sich das Schleifenlassen der Bedeutungssysteme auch nicht länger leisten. Aus der Befreiung der Dinge wurde die ekelhafte, neospießige Vorliebe für das SCHÖNE ALTE, eine blöde Variante des Antiquitätensammelns. Im Gegensatz zur Leidenschaft der Antiquitätenbesessenheit interessierte bei dieser Obsession nicht die spezifische Geschichte eines Gegenstands, die Zugehörigkeit zu den Epochen, Bewußtseinsmodellen oder alten Filmen, sondern einzig und allein der Umstand, daß er, der Gegenstand, schön alt war. War es in der ersten Phase der wilden Ignoranz den Dingen gegenüber völlig egal, ob etwas alt, neu, aus Metall, Plastik oder Eiche gemacht war, Hauptsache es erfüllte seine Funktion, so entstanden jetzt seltsame Präferenzen für alle möglichen Indizien im Material, die keinen Zweifel am erhabenen Alter des erwählten Einrichtungsgegenstands aufkommen lassen konnten. Dieselbe Sorte Mensch findet meistens auch heute noch, daß der Klang einer akkustischen Gitarre („irgendwie menschlich“) den vielfältigen Tönen eines Synthesizers („irgendwie unmenschlich“) vorzuziehen sei. Diese Obsession für das Alte mochte sich hinter vernünftigen Argumenten verstecken (Recycling etc.), wenn man entsprechende, schön-altmöblierte Wohnungen betrat, machte einen das Interieur Grausen, erschrak man vor der schrecklichen Wahrheit: Der Muff von Jahrhunderten hatte auch die Herzen dieser alt gewordenen Konsum-Boykotteure von innen staubig gemacht. Wie in einem Sumpf sackten die Bewohner gemeinsam mit ihren abgestorbenen Gegenständen immer tiefer in eine moderige Vergangenheit: Kerzen flackerten auf Lambrusco-Flaschen, Leonard Cohen oder bei simpleren Gemütern Cat Stevens zirpte weltschmerziges Zeug aus der „Anlage“, in der Regel der einzige neuwertige Gegenstand einer solchen Wohnung, und man machte den Bewohnern gern den Vorschlag, das ganze Zeug doch mal weiß zu lackieren, damit etwas mehr Frische in ihre Existenz gelänge.
Doch sie lehnten meistens müde ab: Frische war schließlich ein suspekter Begriff aus einer zutiefst verlogenen Werbewelt. Daß sie in ihren Asbach-Uralt-Wohnungen anderen Stereotypen aus der gleichen Welt aufgesessen waren, wollten sie nicht verstehen.
Kein Wunder, daß im Zuge der Establishment-Werdung dieser einstigen Subkultur bald auch kommerzielle Sperrmüllbetriebe entstanden. Flohmarkt-Stände und Billig-Antiquitätenläden boten den inzwischen als Ware wiederbelebten, mit neuem Tauschwert versehenen Gegenstand Sperrmüllmöbel für Geld an. Die Aura des Befreiten, Kostenlosen, die den ursprünglichen Reiz des Sperrmüllobjekts ausmachte, wurde nun für teures Geld gekauft, als eine dem schrabbeligen Altmöbel anhaftende Eigenschaft, die auch dann noch Bestand zu haben schien, wenn das Ding gar nicht mehr kostenlos war. Derweil machte ein nach eigener Einschätzung „unmögliches“ schwedisches Möbelhaus einen Reibach mit möglichst eigenschaftslosen, möglichst natürlichen, möglichst funktionellen Möbeln.
Doch während Mittzwanziger bis Mittdreißiger zwischen nordisch-aufgeklärten IKEA-Möbeln oder schön-altem Schrott ihr Dasein fristeten, wuchs eine neue Generation von Sperrmüllbenutzern nach. Für die, nennen wir sie einmal vergröbernd Punk-Generation, gilt in einem Punkt das Gegenteil von dem, was den Sperrmüll-Umgang der ersten Sperrmüllepoche ausmachte. Gerade die Bedeutung eines Objekts, sein ursprüngliches Bezugssystem, ist für diese Generation extrem wichtig. Diese Form-bewußten Jahrgänge 60ff. betonen in Kleidung, Musik, Sprache die Bedeutung des kleinen Details, jede Haarsträhne ist ein bedeutendes Zeichen. Vor diesem Hintergrund hat sich auch der Umgang mit kostenlosen Möbeln von der Straße geändert. Anarchie und Aufhebung des Privateigentums sind nicht mehr die ganz großen Sensationen für diese Altersgruppe. Für sie steht auch nicht das Alte, sondern das Besondere, Differentielle des jeweiligen Fundstücks im Vordergrund. Die Kombination von Gebrauchtem, anderen Systemen entnommenen Versatzstücken ist ein Essential der neuen Subkultur-Ästhetik. Denn diese Ästhetik hält die vorgefundene Kultur ohnehin für eine einzige riesige Sperrmüllhalde. Niemandem gehört hier nichts, keiner ist der Eigentümer/Autor, der irgendwelche Ideen besitzt und festhalten darf. Die eilig wechselnden Moden und Gegenmoden dieser Generation beruhen auf allen Arten von Kombinationen und Montagen vorgefundener Zeichen. Für die Sperrmüllstraße heißt das: Die junge Subkultur sucht und untersucht noch genauer und bewußter. Ihre andere Welt sieht noch ausgeprägter anders aus, und für die Behörden wird die Anwesenheit des Bedrohlichen, Aggressiven, Unverständlichen auf den Straßen noch unumgänglicher. Ihre Abschaffung wird noch nötiger.
Natürlich kann man kaum annehmen, daß sich dieser Schritt für die Verantwortlichen bewußt als kulturpolitische Repressionsmaßnahme darstellt. Natürlich vertrauen sie den Formeln ihrer Ratio, berufen sie sich auf Beschwerden von der Bevölkerung, die sich von Dreck belästigt fühlt, und von Stadtreinigungsangestellten, die argumentieren, die Suchenden würden die Müllhaufen zu sehr auseinandertragen und so den Abtransport erschweren (dabei ignorierend, daß die Sperrmüllkunden im Schnitt gut die Hälfte der Müllmenge mitnehmen). Dennoch ist ebenso klar, daß hier ein anti-subversives Wollen seinen kleinen Sieg davongetragen hat, über welchen Dienstweg auch immer.





