Die neue Saison

Die Bundesliga-Saison ist zu Ende gegangen, und zu unserer großen Freude ist der HSV verdient neuer deutscher Meister geworden. Die andere Saison hat gerade begonnen. Mai/Juni sind die Monate der Gartencafés, der letzten Konzerte vor der Sommerpause und der großen Fêten und Redouten. Im Mai und Juni lassen die Eltern ihre flügge gewordenen Kinder erstmals länger ausgehen und wir, die älteren Semester, ergötzen uns an dem Anblick der Debütanten und, vor allem, der Debütantinnen.

Die Gruppe This Heat gastierte noch im April im Versuchsfeld. Sie zog eine amorphe Masse an, die auf selbstgewählte Erkennungszeichen jeder Art verzichtete. Konzerte, bei denen es nichts zu gucken gibt, sind eine Qual. Die Musik von This Heat war alles andere als die rohe Attakke ihrer ersten LP, und sie hatte auch wenig Ähnlichkeit mit der visionären Psychedelik von DECEIT. Der verrückte Gareth Sager, der, ohne je ein Instrument in der Hand gehabt zu haben, mit Charles Bullen (Gitarre) und Charles Hayward (Drums) die Gruppe gegründet hatte, war nicht mehr dabei und durch zwei neue, leicht vertrante Gestalten ersetzt worden. Der Sound war schlecht und das Interview leicht daneben. Charles Hayward, einer der besten Schlagzeuger der Welt, sagte nicht viel, und Charles Bullen wurde furchtbar ernst, als zwei junge Dänen, ihres Zeichens Amateur-Radioreporter, ihn wegen seiner langen Haare angriffen. „Euer Publikum in Kopenhagen steht auf Sex Pistols, und du siehst aus wie ein Hippie!“ Charles Bullen, der Joints schneller drehen und rauchen kann, als du „Nischninowgorod“ sagen kannst, steht natürlich über derlei Äußerlichkeiten. David Cunningham, der die Gruppe in ihren Anfangstagen gemanagt und produziert hatte, ist ein paar Tage später in HH, um eine neue Münchner ZickZack-Gruppe zu produzieren. Ich: „Bullen sieht aus wie der Mann, der früher in einer Schmuddel-Vorstadt-Disco in Prä-Roxy Music Tagen Dope in Zehner-Piece-Mengen verkauft hat.“ Cunningham: „Möglicherweise hat er genau das getan.“

Die beiden Dänen hangeln sich in ihrer Naivität von Treffer zu Treffer, und das Gespräch zerfällt über super-ernsten Grübeleien zu This Heats Lieblingsthema: „History Repeats Itself“ (Songtitel). Dabei war das Konzert trotz schlechten Sounds nicht ohne Magic. Angenehm tropische Daddelmusik, manchmal zu verdaddelt, aber insgesamt dem Klima angemessen, das die gegenwärtige Hitzewelle uns einen Monat später bescheren sollte. Die Gitarren-lastigen Improvisationen klangen wie die Hampton Grease Band – eine dieser zu Unrecht vergessenen Weirdo-Hippie-Bands. This Heat kennen aber The Hampton Grease Band nicht, und sie kennen auch Friedrich Nietzsche nicht, obwohl ihre gesamte zweite LP wie aus Nietzsche-Lesefrüchten zusammengebastelt wirkt.

Was aber die ganze Saison über gelten sollte, zeichnete sich bereits an diesem Abend ab: Der Gewinner des Abends war die Vorgruppe. Das Hamburger Trio Tempelfreuden, bestehend aus einem schüchternen Gitarrero, einem Ratten-zerfressenen Bassisten und einem zwölfjährigen Wunderdrummer, versuchte sich mit Charme und Leidenschaft an einer deutschen „Blood“-Ulmer-Jazz/Funk-Variante.

Diese neue Generation wird immer interessanter. Debbie Harry singt auf ihrer neuen Blondie-LP in „English Boys“ von der revolutionären Rolle, die langhaarige, englische Jungen in ihrer Jugend gespielt hätten. Das Morgenrot der idealen Gesellschaft, Revolution und Hippie-Slum-Aufstand. Die üblen 70er machten alles kaputt, aber jetzt könne es wieder losgehen. Das Unglücksjahrzehnt sei vorbei, und ich rufe ein Jefferson-Airplane-Revival aus: „Don’t You Want Somebody To Love?“ Abends, wenn ich in den Gartencafés der neuen Generation zuschaue, wird mir immer deutlicher, worin die neue Sex Revolte besteht: im Nicht-Sex. Kein Frühjahrs-Sex in 82! Keine schwitzigen, verklebten Leiber, keine in Unlust gezeugte Nachkommenschaft („Er war häßlich, sie war häßlich, die ersten Kinder mußten sie wegwerfen.“ – Volksmund). Die neue Generation verspricht während der Monate der leichten Bekleidung die Entblößung, aber erst im Herbst wird es losgehen. Dann bleibt keiner mehr einsam. Bis dahin macht man sich durch Posen und unverbindliche One-Night-Stands auf einander heiß.

Wer spielte noch im Mai?

„Die Zeit“ gab ein Gastspiel auf fremden Terrain. Das gemütlich-behäbige Wochenblatt schoß in einem Artikel über Akif Pirinçci gegen SOUNDS. Hatten wir es doch gewagt, Pirinçci in einer Buch-Rezension vor mehr als einem Jahr über die Helden der sozialdemokratischen Langweilerkultur, Grass und Walser, und neben Goethes „Werther“ und „Christiane F.“ von Christiane F. zu stellen. Bezeichnend, daß „Zeit“-Autor Klaus Pokatzky (derselbe, der im „Zeit-Magazin“ Abwärts als the thinking man’s neue deutsche Welle verkauft) nur den Goethe-Verweis zitiert und den Zusammenhang Goethe/Christiane F. unterschlägt. So ein Literaturverständnis ist natürlich nichts für einen Mann, der in Akifs Buch etwas „über das Denken und Fühlen der zweiten Ausländergeneration erfahren“ will. Wer nur in „Aspekte“-Beiträgen, „Zeit“-Themen und Redaktionskonferenzphrasen denkt, kann dann auch nur schwer einfache Wahrheiten aus Akif’s Mund ertragen, wie etwa, „daß es in der Welt nur ums Ficken und ums Geld und um nichts anderes“ geht. Mich würde mal interessieren, etwas über die zweite Generation (oder ist es die fünfte?) von „Zeit“-Schreibern zu erfuhren, die ihrem vergreisten Publikum kurz vor dem Entschlummern so atemberaubende Neuigkeiten zuflüstern wie in dem Artikel „Tödliches Kokain“, wo wir, wie isses nun bloß möglich, erfahren, daß in New Yorks verruchtem Nachtleben doch tatsächlich die gefährliche Droge Kokain genommen wird. Hat man ob soviel Verderbtheit noch Worte? Man hat. Man macht eine Nummer später ultralustige Witze, die vor kritischem Bewußtsein nur so strotzen. Oberfilmkritiker H. C. Blumenberg verrät, neckisch umschrieben, daß er die beiden Springer-Sonntagszeitungen „WamS“ und „BamS“ am liebsten zusammen „SchmamS“ („Schmutz am Sonntag“) nennen würde. Brüllend komisch. Konsequent auf diesem Niveau, müßte man die „Zeit“ „Phlegma am Donnerstag“ nennen („Phlado“), meistens kriegt man sie aber auch schon mittwochs („Phlammi“).

Aber obwohl das kritische Bewußtsein so häßlich und schwer zu ertragen ist, wählen wir grün (in Hamburg), auch wenn die Gegenseite die besseren Schauspieler hat (Kiep, Reagan, der kein schlechter Schauspieler ist.) Wann stellt die DKP endlich Felmy als Kanzlerkandidaten und Gerd Baltus als Familienminister-Kandidaten auf?

Was fällt nich auf an der neuen Saison? Die Generationslücke! Allen Demographen zum Trotz gibt es nämlich keine Mittzwanziger mehr. Abends auf den Soirees, den Gartenfesten und in den Hip-Kellern treffe ich jede Menge Teenies, die sich necken und locken, betänzeln und beschwänzeln wie der Dickschwanz-Skorpion in der Sahara, und sich damit auf den Sex-Herbst vorbereiten. Ich treffe Fotografen, Journalisten, Grafiker, Zuhälter und Massagesalon-Besitzer über dreißig, die den Teenies zuschauen, aber ich treffe keine Mittzwanziger. Meine Generation, die „Born-in-the-Fifties“-Post-Hippie-Prä-Punk-Generation hat sich nach einer frustrierenden Jugend in den kollektiven Selbstmord gestürzt. D.h.: Ego-unstabil zu Hause hocken, an der Welt zweifeln, schlechte Gedichte schreiben, schlechte Platten hören und unter der molligen, wolligen Schmusedecke des Subkultur-Ghettos das Leben verpassen. Kommt raus, Kinder! Es ist Sommer! (Das Mittdreißiger-Geschmeiß freut sich derweil, daß wir ihnen kampflos die Teenies überlassen.)

Die höchste emotionale Dichte der Saison erreichte eindeutig der Kid-Creole-Tag: Kid Creole vor tausenden besoffenen Provinzlern in der Schrill-Pop-Karl-May-Freilichtbühne Bad Segeberg („…and most of all he’s adorable – Who’s that? – Coati Mundi!“). Danach: HSV-Meisterfeier mit einem völlig versagenden Bürgermeister Dohnanyi (der nicht einmal „Hipp-Hipp-Hurrah!“ richtig aussprechen kann). Dann: Romy Schneider mußte sterben. „Piss, jetzt ist sie weg“, faßt ein Freund unsere Gefühle zusammen und sagt damit mehr als Blumenbergs Krokodilstränen in der „Zeit“. Doch vor diesen ereignisreichen Tag hatte der Herrgott noch ein paar Konzerte gesetzt und jede Menge Achtelnoten durch unser Hirn gespült. Bei Blurt blieb mal wieder die Vorgruppe Sieger. Tote Piloten aus Berlin hatten die Kunst der Epigonen voll drauf. Ihr Pigbag/Contortions-Mischmasch, von sieben Mann recht bühnenwirksam vorgetragen, schlug das vor Jahresfrist noch so bejubelte Trio Blurt um längen. Drei Songs lang (von circa zwanzig nahezu identischen) konnten uns Ted Miltons Sax-Eskapaden und Falkland-Witze unterhalten, dann mußten wir uns nach hinten stellen und zu jedem Titel „The Fish Needs A Bike“ trällern, während es in intimen, gurrenden Gesprächen mal wieder um so zärtliche Themen wie die Hampton Grease Band und das Jefferson Airplane-Revival ging. Später wurden Blurt noch mal besser, als der Gitarrist (der aussah wie ein aus einer überbeleuchteten GB-Polizei-TV-Serie wegen Trunksucht ausgemustener Ex-Hilfspolizist) seine Gitarre mit einer Posaune verrauschte.

Dann: Abwärts. Bevor ich meine Habilitationsschrift über Bildunterschriften in der New-York-Sonderausgabe von „Geo“ und im „Jazz Podium“ beginne, werde ich über die Medienpolitik von Abwärts promovieren, die nach diversen Verrissen ihre Artikel jetzt nur noch von Mitgliedern der großen Abwärts-Familie schreiben lassen (in „Tip“ und „Musiker“). Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn dies offen geschehe, statt sich den Mantel feuilletonistischer Objektivität umzuwerfen. Gerade Abwärts haben das nicht nötig, denn live sind sie toll. Lärmig, hackig, ungewaschen. Die einzige Antwort auf Theodor W. Adorno’s Frage „Sind nach Auschwitz noch Percussionorgien möglich?“ Souveräner, professioneller, großstadtneurotischer Rhythm’n’Lärm, teilweise mit zwei Schlagzeugern. FM Einheit springt für meine Begriffe etwas zu viel auf der Bühne herum, und Mark Chung guckt etwas zu hypnotisch in die Masse, die coole Performance von Frank Z paßt besser zur Abwärts-Attacke. Das Neubautenhafte sollte man streng von Abwärts trennen. Die Vorgruppe Leben und Arbeiten war diesmal nicht der Sieger, aber verfehlte auch nur knapp ein Unentschieden. Der Sänger ist der inoffizielle Sieger des „Frank Z.-Lookalike-Contest“, und wenn die noch zu unentschlossene und wahrscheinlich noch zu wenig verrissene Gruppe etwas mehr Trotz ansammelt, kann sie gut werden. Noch eine Botschaft an Abwärts und Blurt: Verbannt das Theater aus eurer Bühnen-Show! Theater ist last century’s thing.

Was gibt es noch zu sagen? Die neue Kim-Wilde-LP ist traumhaft, und der erbärmlichen Fernseh-Diskussion und dem ebenso falschen „Emma“-Artikel über/gegen „Dallas“ werden wir bald eine umfassende philosophische „Pro-Dallas“-Abhandlung entgegensetzen.

P.S.: Der ganz neue Weichkeks-New-Wave-Sex in „Der Fan“ mit Désirée „Schrill“ Nosbusch und Bodo „Doof“ Staiger. Ein ultra-perverses Fiasko, ein greller Nicht-Film, dessen einzigartige Mißlungenheit Cult-Status verdient, aber leider auch nachhaltig schlechte Laune macht.