Die Welt ist alles, was The Fall ist

Heute sehe ich: Ich hasse diese klassische Musik, ich hasse Musik überhaupt. In dieser Gesellschaft ist so vieles ausschließlich auf Musik gestellt, der Tod und die Geburt, die Moral und der Versuch, dieser Moral Widerstand zu leisten – alles ist eingewickelt in Musik; die Prügel, die Wehlaute, alles, was schreit und nicht mehr aufstehen wird, und selbst bis zuletzt die Hinrichtung, sei es im Marschtempo, in der Ballade oder den langgezogenen Wellentönen bei Wagner. Ein einfaches Geräusch ist mir lieber solange nicht jemand kommt und es in Musik setzt; leider ist das zu oft der Fall.

Ich bin gezwungen, zuzuhören und stille zu sein. Ich bin schwach, zu schwach, gegen diesen von der Gesellschaft ausgehenden Druck etwas auszurichten. Für mich liegt der Betrug in der biologischen Fehlleistung, die als Musik bezeichnet wird, darin, daß sie als notwendig erkannt wird, die Leere, die Langeweile, den Überdruß auszufüllen und, wenn notwendig, innerhalb der Gesellschaft niederzuhalten, weil ohne dieses die Gesellschaft explodieren würde … Würde sie? Warum nicht?

(Franz Jung, „Der Weg nach unten“)

Wer so denkt, heute lebt und, nachdem die Literatur als Mittel, Wahrheiten zu verbreiten, nahezu erschöpft ist (Leider. Und nicht für immer! Alle anständigen neuen Rebellen sind literarisch, in ihrem ganzen Wollen und Streben, sie wissen es nur noch nicht. Der neue Typ ist der neue Schriftsteller, ist geschwätzig und laut), erkannt hat, daß die Pop-Musik immer noch die einzige soziale Nische ist, wo das Kursieren von Wahrheiten in erträglicher Weise funktioniert, macht The Fall, Musik wie The Fall. Meine alte Lieblingsforderung, daß gute Musik stets gegen sich selbst gerichtet sein muß, ihren Haß gegen sich selbst spüren lassen muß, ist von niemandem über die Jahre so getreulich erfüllt worden wie von der Gruppe um Mark E. Smith.

„Verwechseln Sie nicht Musik mit Rhythmus. Der Rhythmus steckt in den Knochen, im Blut, im Organismus, in der Lebenserwartung und in dem Zusammenbruch dieser Erwartung. Im Beinahe – möchte man sagen. Der Rhythmus ist das Leben selbst, sicherlich mehr als das physische Leben … wächst und weitet sich und zieht sich zusammen, konzentriert sich auf den Atem … ein und aus, tiefer ein und schneller aus.“ (Franz Jung)

Und wer dies weiß, macht trotzdem kein afrikanisch beeinflußtes Getrommel, keine Disco-Maxis, sondern er macht Musik wie The Fall oder The Pogues, Musik, die den Rhythmus nicht propagandistisch und alles nivellierend, was man an Unterschieden zwischen Menschen nicht nivellieren sollte, in den Vordergrund stellt, sondern Musik, die selbstverständlich und zäh rhythmisch ist, deren Rhythmus einen nicht losläßt, aber um einen an Wortschwalle zu binden (und all das nivelliert, was man nivellieren sollte). Oder man macht Musik wie Fear, die große amerikanische Punk-Band, deren großer Fan Mark E. Smith ist:

„Die neuen amerikanischen Bands sind grauenhaft. Long Ryders – entsetzlich. Green On Red gehen noch, die wollten mich als Produzenten, und ich hab sogar darüber nachgedacht, immerhin eine Herausforderung, aber dann habe ich’s doch gelassen. Dabei hab’ ich amerikanische Hardcore-Sachen geliebt. Fear sind innovativer gewesen als die meisten englischen Punk-Bands, aber wenn irgendwo die Mittelklasse-Kids sich an einen Trend anhängen, dann wird’s entsetzlich. Eine Lehre, die ich noch aus der Punk-Zeit habe: Wenn jemand mit Check-Shirt zur Gitarre greift, wird es entsetzlich.“

Ich hatte mir vorher das Gelübde auferlegt, in einem Stück jeden Abend ein Konzert anzusehen, und nach vier Tagen neumodischen Pub-Rocks für die verschiedensten Geister (Skeletal Family, Playn Jayn – noch ganz netter Lärm mit zwei Sängern, die sich gegenseitig niederschrien – Guadalcanal Diary etc.), also ekelhaftem, richtungslosem, willenlosem Geschrammel, waren The Fall mal wieder die Rettung aus der Umklammerung von Punk-Untoten und netten Amerikanern von nebenan, die sich mal wieder mit der Geschichte ihrer eigenen Populärkultur auseinandersetzten – natürlich mit einer höchst originellen Coverversion von Johnny B. Goode –, von der ich einfach nichts mehr hören will, jedenfalls nicht von Amerikanern, allenfalls von Engländern, Iren oder Spaniern. Amerikaner stellen hier Raketen auf. KAUFT KEINE PLATTEN BEI UND VON AMERIKANERN! (Das nur nebenbei.)

Mark E. Smith will von Politik nichts mehr hören und redet vorzugsweise von Details aus seinem neuen Glück (mit Brix) bzw. von den Details seiner Geburt: Die beiden haben zwei Katzen, eine heißt „Oscar“, die andere „Frau“. Oder dies: Marks Mutter hat nur noch eine Erinnerung an seine Geburt: Als der kleine Mark das Licht der Welt erblickte, lief im Radio der Song „Stranger in Paradise“.

Rührend, was! Der alte Demagoge ist das Thema, wo er eigentlich politisch stehe, leid und redet lieber mit Brix über Haustiere. Verständlich, nachdem er nun schon fast zehn Jahre den reinsten Vertreter und Verfolger 77er Ideale darstellt, zeitweilig so monoman und monoton, daß die Gefolgschaft auf Michael Ruff und mich schrumpfte, und seit Brix dabei ist, etwas zugänglicher oder, wie Mark sagt, „reifer“. Er steht in der Tradition anderer großer autodidaktischer Künstler wie William Blake, bei dem, wie bei Smith, Tagespolitik immer gleich in den Rang der Vision erhoben wird. Bei Smith liefert Geschichte und Zeitgeschichte das Material für wortreiche, immer mit sichtbarem Gaumengenuß an den eigenen Kreationen vorgetragene, oft monströs lange, bewegungslos über das Mikro gelehnt, gesungene Litaneien. Im Mittelpunkt steht die britische Arbeiterklasse, und er verteidigt sie gegen alle verklärenden Mythologien einer bürgerlichen Linken wie Rechten, er ist die Stimme des Industrieproletariats von Manchester, auch wenn er jetzt eine 22jährige Amerikanerin geheiratet und in die Band eingeschleust hat, die sich rührend für Paisley-Muster und die Mondänität der 60er begeistert.

Smith hat jede sentimentale Idee der Arbeiterklasse, wie sie vor allem die Labour-Party und deren pop-kultureller Außenposten, der NME, hin und wieder in ihren Reihen pflegen, stets bekämpft. Vor gut einem Jahr überraschte er im NME mit Empfehlungen wie der, daß es unter Umständen besser sei, die Tories zu wählen. „Ich war so genervt vom NME, der immer nur das hören will, was er selber denkt, daß ich einfach mal das Gegenteil sagen mußte.“ Mit Mayo Thompsons politischer Einschätzung der Fall in der letzten SPEX ist er amüsiert-zufrieden, was aber vor allem daran liegt, daß die beiden gemeinsame Gegner haben:

„Als Mayo uns produziert hat, noch zu Rough-Trade-Zeiten, war er der einzige, der wußte, was vorgeht und er hat immer Geoff Travis aus dem Studio gescheucht. ‚Schafft Geoff von den Mischpulten weg‘, war seine ewige Rede!“

Dennoch: „Es gibt genug, was man gegen Sozialismus sagen kann, man braucht nur Nabokov zu lesen. Und seine Beschreibungen, wie man in der UdSSR Künstler behandelt hat.“

Was den unorthodoxen Linken, so kann man ihn wohl nennen, auch wenn man in diesem Falle der Müdigkeit eines Pop-Stars, über Politik zu reden, einmal Respekt zollen kann – schließlich hat er mehr davon geredet als irgendein anderer –, so unorthodox macht, ist die Weigerung, von den Dingen zu reden und in der Sprache zu reden, in der Linke normalerweise reden, wenn sie Songs schreiben: belehrend oder appellierend, die Herrschenden um Gefallen bittend („Free Nelson Mandela!“) oder die noch unaufgeklärten Massen um aufgeklärteres Verhalten bittend. Er redet nicht von jenen bekannten linken Themen, die sich nach landläufiger Auffassung dazu eignen, eine emotionale Seite des Politischen ausfindig zu machen, die es so nicht gibt, und damit für Poesie und Pop ideal seien, in Wirklichkeit aber dazu angetan sind, das Politische überzuleiten ins Ungefähre.

Statt dessen ist er überkonkret analytisch, durchgeknallt-visionär, klassenbewußt und patriotisch.

Die amerikanische Ehefrau mit der Wayfarer-Brille (allerdings verspiegelt) erzählt von ihrer eigenen Band, The Adult Net: Die Musiker sind unbekannt, tragen Masken (gehören vermutlich zu The Fall) und Namen wie aus Captain Beefhearts Magic Band. Die erste Single war ein Remake des Psychedelic-Klassikers „Incense And Peppermint“, auf dessen Cover man Brix mit ihrer violetten Paisley-Gitarre bewundern kann: „Ich nenne diese Gitarre ‚Old Faithful‘, die andere heißt ‚Chess‘, sie ist schwarz-weiß. Alle meine Gitarren haben Namen. Unsere nächste Platte mit The Adult Net heißt ‚Edie‘.“

Wegen Edie Sedgewick?

„Sie ist mein Idol. Wie sie guckt, daß sie wie ein Schmetterling war …“

Und ihr Verhältnis mit Bob Dylan?

„Ich weiß davon nur, was ich in ihrer Biographie gelesen habe. Das war vermutlich der Anfang von ihrem Ende. All diese Männer, die sie ausgenutzt haben. Auch Warhol.“

Warhol war ihr einziger echter Freund.

Mark fällt ein: „Das sage ich auch immer. Warhol war ihr einziger echter Freund.“

Ist es Mark nicht langweilig, so lange The Fall zu machen? Nein, denn es gibt ja immer was Neues. Und das Neue ist zur Zeit, daß Mark seine Mitspieler höher einschätzt und ihnen mehr Mitspracherecht einräumt. Der alte Diktator und Monomane lobt den treuen Teil der Band, dessen Bereitschaft seit acht Jahren, nicht selten im Schnitt acht Minuten lange Riffs zu halten und dabei versonnen auf den Boden zu starren, uns auch schon zu so mancher Träne rührte. Und er lobt den Einfluß der neuen Leute, seine Frau und Gitarristin Brix und ihren Sinn für Melodien – laut neueren Infos soll sie für die bei The Fall eh nie vorhandenen Arrangements verantwortlich sein – sowie einen gewissen Simon, der Gitarre und Keyboards spielt und bis vor kurzem als Musiker zeitgenössische E-Musik von Bernd Alois Zimmermann bis Karlheinz Stockhausen aufführen half und mir erzählt, The Fall, das sei das Kreativste, das er je gemacht hätte.

„In einer Woche erscheint unsere neue Platte. Der Titel ist zwar klar, aber wir wissen noch nicht, wo wir das Apostroph hinsetzen. Entweder heißt sie ‚This Nation’s Saving Grace‘ oder ‚This Nations ’Saving Grace‘. Ich erzähle davon, daß alle glauben, England sei nur von einer Amerikanisierung und der amerikanischen Politik bedroht. Ich glaube, daß das für Europa und die EG genauso gilt, wir sollten uns auch unbedingt vor einer Europäisierung Englands hüten.“

The Fall waren immer Kommentatoren aktueller Kämpfe, immer sehr wach und negativ fixiert auf die Äußerungen der anderen Hip-Priester, und noch heute liebt es Mark, wenn „Private Eye“, die Satire-Zeitschrift Großbritanniens, in der sich zeitweilig zynische Rechte und zynische, enttäuschte, alte Kommunisten wie Ray Lowry gegenseitig verspotten, Paul Morley in der Rubrik „Pseuds Corner“ bloßstellt. Ansonsten sieht er den heutigen Wert seiner Gruppe eher darin, daß sie noch immer da ist. Sein Publikum ist für ihn keineswegs eine kontinuierlich mitalternde Horde, sondern zur Zeit eine Mischung von Novizen und reumütigen Rückkehrern. Was zutrifft.

„Vor zwei Jahren gab es eine Phase, da haben wir uns fast zu Tode gehungert, die Musik war nicht mehr so intensiv wie heute wieder, und das Publikum war immer noch das alte. Da war es mir langweilig, The Fall weiterzumachen. Aber wir trennten uns einfach von Rough Trade, die damals mit dieser ganzen ekelhaften Everything-But-The-Girl-Working-Week-Scheiße anfingen, und dann ging es aufwärts.“ Dennoch haben sich The Fall, die jetzt bei Beggars Banquet sind (Labelmates von John Cale – Mark: Er hat ein Marc-Riley-Syndrom“ – und Roy Harper, der immer im Büro herumläuft mit Bergen von seinen eigenen Platten unterm Arm und seine eigenen Platten auf voller Lautstärke im Walkmann hört), nicht so sehr verändert. Bei aller neuen Ordnung, bei allen angedeuteten Pop-Melodien oder Disco-Beats, sind sie live – und auch weitgehend auf ihren letzten Platten – die machtvollen Zerstörer aller Rock-Paradiese geblieben, die wir auch heute noch brauchen.

P.S.: Kauft nicht bei den Amis. Das stimmt schon. Aber macht eine Ausnahme bei Hüsker Dü.