Am Schauspielhaus Bochum hat Frank-Patrick Steckel die „deutsche Tragödie“ inszeniert, die der frühere Expressionist und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher 1941/42 im Exil in Taschkent geschrieben hat – quasi live zur realen Winterschlacht um Moskau. Ein berechenbares Stück?
Heiner Müller hat irgendwo gesagt, daß die Deutschen Moskau nicht einnehmen konnten, weil in der Sowjetunion eine andere Zeit herrschte. Den sieggewohnten Krad-Schützen, die am Anfang von Bechers Winterschlacht 100 km vor Moskau stehen, dämmert Ähnliches. Geschwindigkeit scheint plötzlich etwas anderes geworden zu sein als die Division von Raum durch Zeit. Es bedarf gar nicht der immer wieder ausgerechnet irgendwelchen Nazis in den Mund gelegten Berichte über unerschrocken heldenhaft, mit einem „Lang lebe Stalin“ auf den Lippen in den Tod gehende Partisanen, um uns diese politische Relativitätstheorie verständlich zu machen: Die Deutschen stießen auf die historische Raumkrümmung. Der eroberte und blutbesudelte geographisch meßbare Raum ließ sich nicht mehr dividieren durch die nicht mehr als Tage und Nächte und Stunden und Sekunden in Reih und Glied antretende Zeit.
Ich war nicht dabei. Wie ich seit über zehn Jahren nicht im Theater war. In Bochum herrscht eine andere Zeit als in Düsseldorf, Köln oder Hamburg. Die wenigen Minuten zwischen Ankunft und Premiere bei McDonald’s: Diesen Jugendlichen mit Exciter-T-Shirt und trotz winterlicher Temperaturen nichts drüber außer der Matte gibt es nördlich von Dortmund und südlich von Duisburg nicht. Wo gibt es noch Theater? Wo gibt es Krieg?
Eingeschlossen in die fünfzehnte Reihe, genau in der Mitte, Menschen vor, hinter, über und neben mir, deren gedrängte unbewegliche Präsenz von den Rändern nach innen, also auf mich hin, zunimmt, so daß ich eingeschlossen bin in der ganz und gar anderen Zeit des Theaters, und alle meine Sinne haben nur einen einzigen Fluchtweg: das Bühnenbild, das mit allereinfachsten Mitteln, mit Fluchtlinien und kameramäßiger Beleuchtung den Blick ansaugt, um ihn in die Eingeschlossenheit des Krieges zu sperren: ein panischer, fünfzehnminütiger klaustrophobischer Anfall. Dazu ist das Theater also gut. Panische, klaustrophobische Anfälle nützen eben nur der Diskussion des Krieges. Das Theater ist die geeignete Stätte der Diskussion des Krieges. Seinen Niedergang verdankt es vermutlich der Verdrängung des Krieges, der kalten Friedenszeit in Mitteleuropa and so on.
So wie jedes Kunstwerk auch verherrlicht und verharmlost, was es nur darzustellen und zu diskutieren vorgibt, so verharmlost und verherrlicht zum Beispiel jeder Kriegsfilm den Krieg. Von dieser Selbstverständlichkeit schreiten wir zu der Behauptung, daß man zwischen guten und schlechten Kriegsfilmen unterscheiden kann. Die guten handeln von auswegloser Eingeschlossenheit, von der kleinen unlösbaren Aufgabe, von G.W. Pabsts Westfront 1918 bis zu Kubricks Full Metal Jacket, die schlechten blenden zurück zur Heimat, führen die Figuren plötzlich auf Vertrautes zurück, wie eine Psychologie der Soldaten. Aber der Soldat hat keine Psychologie, er ist ja ganz woanders, aus der Familiengeschichte gnadenlos in die Weltgeschichte katapultiert. Auch Becher blendet jeden zweiten Akt in die Heimat zurück, wo sein Stück und auch die gute Inszenierung – die sparsam und sachlich zu retten versucht, was zu retten ist – auf das Niveau eines stalinistischen Herbert Reineckers, und das ist noch ein Kompliment, abrutscht. Sicher hat jeder Soldat irgendwo eine Familie, aber sein vollkommen unvermittelbar von ihr Abgetrenntsein macht mindestens jeden modernen und ganz besonders diesen Krieg aus. Er kann nicht zu Weihnachten nach Hause gehen und den Faschismus als vulgärfreudianischen Familienroman zu Ende diskutieren.
Wer von dem ehemaligen DDR-Kulturminister ein berechenbares stalinistisches Stück erwartet, sieht sich mehrfach getäuscht. Becher ist in jeder Beziehung nicht koscher, was diesem Stück Vor- und Nachteile beschert. Er ist seiner Zeit voraus und dann wieder hoffnungslos hinter ihr her, verliert sich in triefenden Monologen, die den alten Expressionisten verraten, und ist plötzlich jeder beschränkt vulgärmarxistischen 50er-Jahre-Lesart der Geschichte um gut zwei Jahrzehnte voraus, wie in dem eingangs geschilderten Problem der Zeitkrümmung. Aber dann liest er den Faschismus als Schande gegen Deutschland, trotz pflichtgemäß erwähnter sowjetischer Helden seien vor allem die Deutschen seine Opfer. Wir haben uns an Deutschland schuldig gemacht, die Russen zeigen uns den Weg zurück zum guten und zum neuen Deutschland. Danke! Aber kann es nicht sein, daß die Russen nicht lieber auf diese Funktion verzichtet und ihren Bevölkerungsbestand um 20 Millionen höher gehalten hätten? Negativ fixiert auf den Faschismus in seinem Exil in Taschkent, wo er das Stück 41/42 quasi live zur Schlacht um Moskau geschrieben hat, kehrt Becher dessen Prämisse einfach um. Nicht am deutschen Wesen soll die Welt genesen, sondern das deutsche Wesen soll an der Welt genesen. Daß diese dabei in Flammen aufgeht, ist ihm eigentlich ebenso scheißegal wie seinen Gegnern.
Rührenderweise verteilt er dabei Zensuren an die deutschen Landsmannschaften. Der Schwabe ist ein Spießer, der sich an der Front an Fotos von selbst vorgenommenen Hinrichtungen aufgeilt, der Bayer – Becher stammt aus München – ist dagegen der eulenspiegelige Stabskoch, der ständig der gesamten Nazi-Brut subversive Zweideutigkeiten sagt; die einzige unangenehme Figur im Frontpersonal, der für seine ganz und gar unpassenden Clownereien vom Premierenpublikum natürlich den meisten Beifall erntet (der allerdings die schönste Rechtfertigung für die Diktatur des Proletariats, ja für Stalinismus und Bürokratie in der DDR ausspricht: Dieses Volk verdient keine Freiheit, seine einzige Fähigkeit ist der Gehorsam, also braucht es den Befehl zu Frieden und Menschlichkeit). Der preußische Nazigeneral läßt einen Funken vom „anderen Deutschland“ aufglimmen, wenn er die sowjetischen Partisanen mit den Befreiungskriegern vergleicht, an die Befehlsverweigerung des York von Wartenberg sich erinnert, nur monologisierend zwar und dann doch dem Führerbefehl sich beugend aber immerhin … Fast alle Nazis werden so im Laufe des Stückes nach und nach exkulpiert.
Im Mittelpunkt steht ein Muttersöhnchen, das erst im letzten Akt sein Mitläufertum aufgibt (und zum Mann wird, wie es paradoxerweise gerade seine Mutter von ihm verlangt, die ihn daran bislang hinderte), und sein Freund Nohl, eine ganz eigenartige und bestimmt nicht als Zugeständnis an pädagogisch-didaktische Absichten ins Stück gebrachte Figur: Nohl ist Architekt, als einst glühender Nazi hat er sich von seinem Vater losgesagt, seinen besten Freund verraten und vom Aufbau einer neuen, antiindividualistischen Welt geträumt, ein Strasserianer, ein linker Nazi als Kommunist auf Abwegen, der als mehrfach ausgezeichneter Soldat noch vor dem Einsetzen der Handlung alles begriffen hat und im dritten Akt desertiert. Mit ihm, der von Anfang an die Analysen des Autors vorträgt, dessen Monologe auch sprachlich die gelungensten sind, holt Becher auch noch den gefallenen Expressionisten, die ästhetizistische Künstlertype, den Doktor Benn heim in den Konsens des guten, andren, neuen Deutschland, ja stellt ihn an die Spitze der Bewegung, denn Avantgarde bleibt Avantgarde.
Diese optimistische Lesart der Avantgarde, wo Leninsche Avantgarde, militärische Avantgarde – Nohl steht ja als erster mit seinem Krad vor Moskau – und künstlerische Avantgarde zusammenfallen ist zu gleichen Teilen Wunschdenken des Expressionisten Becher wie eine in der Linken gerne vergessene richtige Einsicht. Der Avantgardist im weitesten Sinne ist wie Müllers „Lohndrücker“ derjenige, an dem sich die Richtigkeit eines Systems, die Gefahren einer historischen Lage zuerst und am krassesten entscheiden. Er wird der erste, fürchterlichste und glühendste Faschist, aber er versteht auch als erster diesen Irrtum. Er wirft als erster die Flugblätter, die zur Desertion aufrufen. Er wird später mit Sollüberfüllungen das Lohnniveau der Brigade drücken. Diese extreme Version des bürgerlichen Individuums ist zugleich Revolutionär und Decadent, die sich beide gegenseitig erst möglich machen, ist der beste Sozialist und darum auch sein schlimmster Feind.
Becher reflektiert dieses Problem nicht, er liefert durch diese schwierige, in die konventionelle Lesart nicht passende Figur nur eine weitere Bruchstelle für sein hinten und vorne nicht stimmiges Stück. Diese Unstimmigkeit ist dessen großer Vorteil, der Grund, dieses Stück zu spielen: Es legt die Unfertigkeit, Unabgeschlossenheit jeder intelligenten linken Diskussion des deutschen Problems in der adäquaten Form nieder. Es weiß, wenn auch nicht zu genau, davon, wieviel „linke Energie“ (Brecht) im Faschismus steckte, und besteht darauf, daß die Zeit keine Wunden heilt. Denn Zeit vergeht hier schon mal gar nicht. Im zweiten Akt läuft der von einem Radiorecorder festgehaltene erste noch einmal am Volksempfänger in der Heimat ab. An der Front prosten sich die Offiziere eins ums andere Mal zu: „Auf den zweiten Akt der Schlacht um Moskau!“ Zu dem es nie kommt. Nachdem der letzte deutsche Soldat zusammengebrochen ist, tritt ein Offizier der Roten Armee vors Publikum und erklärt den Deutschen die Deutschen. Diesem köstlichen, panisch-kindlichen Kunstgriff Bechers wird in der Bochumer Inszenierung noch eins draufgesetzt. Der Offizier spricht russisch, das heißt: Die Deutschen können ihn nicht verstehen. Damit wird die Zeit endgültig 1942 angehalten, die Erlösung durch die sowjetische Besatzung, die wie jede Erlösung natürlich keine Lösung ist, hilft uns nicht, die Illusion bleibt unangetastet. Die komischen grünen Figuren irren weiter durch die ins Nichts führenden Fluchtlinien, sagen sich ihre mal hochtrabenden Kitschsentenzen, mal selbstquälerischen Analysen auf und verrecken. Da wo das Theater sich übernimmt, wo es die Illusion, die ihm keiner mehr abnimmt, noch auf die Abstraktion von der Illusion ausdehnen will, scheint es zu funktionieren, da wo es wildbunte Live-Unterhaltung bieten will, wird es sich einsargen lassen können.
Wir werden mit zwei Behauptungen entlassen: Weil sie falsch gedacht haben, konnten die Deutschen auch den Krieg nicht gewinnen. Moralisch falsch und strategisch falsch ist ein und dasselbe. Das nenne ich, in einem wiederum anderen strategischen Sinne, heute, strategisch korrektes Wunschdenken, also eine richtige Maxime, unabhängig davon, ob sie sich an den echten und den metaphorisch sogenannten Kriegen beweisen läßt, nur so kann man die notwendigen Kämpfe führen. Die zweite ist ein auf das Schlußbild projiziertes Mao-Zitat: Ein unpolitischer Mensch ist ein Mensch ohne Seele. Und in der Gewißheit, daß „Seele“ hier wieder einer der notorischen Übersetzungsfehler bei Übertragungen aus dem Chinesischen ist, sehe ich einmal mehr im Mißverstandenen, im Übersetzungsfehler, in der unvollendet auf dem Höhepunkt der Ausweglosigkeit bei größtmöglicher Hitze abgebrochenen Auseinandersetzung, wie sie dieses Stück vorführt, die Chance des richtigen Gedankens.


